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       # taz.de -- Deutsche Einheit und Berlin: Vereint in Armut
       
       > Längst zieht sich Berlins Armut unabhängig von der ehemaligen
       > Ost-West-Grenze quer durch die Stadt. Ein Essay.
       
   IMG Bild: Ost und West: was verbindet, was trennt noch nach 30 Jahren?
       
       30 Jahre deutsche, 30 Jahre Berliner Einheit. Was trennt uns – die Ost- und
       die Westberliner*innen – drei Jahrzehnte nach der „Wende“ noch, wo sind
       „Osten“ und „Westen“ noch sicht- und spürbar? So lauten die Fragen, die bei
       den Jahrestagen der Wiedervereinigung gern und oft gestellt und auf die
       immer noch und immer neue Antworten gefunden werden.
       
       Doch man kann auch diese Frage wenden. Sie lautet dann: Was verbindet uns
       heute, wo sind wir in den vergangenen drei Jahrzehnten zusammengewachsen?
       Und man kann auch darauf, je nachdem, worauf man den Blick richtet, viele
       unterschiedliche Antworten finden.
       
       Berlins Geschichte war eine besondere, vor und nach der Wiedervereinigung
       der Stadt und, damit verbunden, der ganz offiziellen Wiedereingliederung
       auch Westberlins in die neue, große Bundesrepublik. Denn abseits der großen
       Freude auch der meisten Westberliner über die Wiedervereinigung ihrer Stadt
       und das Ende ihres Sonder- und Inselzustands waren beide Teile Berlins im
       Anschluss an den Anschluss mit massiven wirtschaftlichen Problemen
       konfrontiert. Nicht nur in der Hauptstadt der DDR, auch in Westberlin waren
       Betriebe mit staatlicher Hilfe künstlich am Leben erhalten, öffentliche
       Verwaltungen personell aufgebläht worden – und wurden nach der Wende neuen
       Regeln und einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen unterworfen.
       
       Die Arbeitslosigkeit, die in Westberlin vor der Wende erstmals knapp die
       10-Prozent-Marke überschritten hatte, stieg in den kommenden Jahren in der
       vereinten Stadt kontinuierlich an, trotz aller staatlich finanzierten
       Gegenmaßnahmen zur Wiedereingliederdung Erwerbsloser in den Arbeitsmarkt,
       und erreichte 2004 mit über 20 Prozent ihren Höchststand. Im vereinten
       Berlin war die Arbeitslosenquote damit ebenso hoch wie in den neuen
       Bundesländern. In der alten BRD lag sie zeitgleich bei 9,4 Prozent.
       
       ## Zahl der Jobs im produzierenden Gewerbe halbiert
       
       Zwar spülten der Hauptstadtbeschluss der Bundestags vom Juni 1991 und der
       nach dem Berlin/Bonn-Gesetz von 1994 beginnende Umzug vieler Ministerien
       und des Deutschen Bundestags nach Berlin viele Arbeitsplätze in die neue
       alte Hauptstadt – allerdings in der Regel auch deren Inhaber*innen, vor
       allem in den qualifizierteren Positionen.
       
       Für die arbeitssuchenden Berliner*innen aus den weggebrochenen
       Industrieberufen und abgewickelten DDR-Behörden mit ihren nicht mehr
       nachgefragten Qualifikationen und vielfach auch für die oft als Ungelernte
       in der Westberliner Industrie beschäftigten Einwander*innen brachte der
       Hauptstadtumzug eher Niedriglohnjobs im boomenden Dienstleistungsgewerbe –
       etwa im Catering oder der Reinigung, bei Fahr- oder Sicherheitsdiensten für
       die neuen Bundeseinrichtungen und andere sich in der neuen Hauptstadt
       ansiedelnden Institutionen. Während sich die Zahl der Jobs im
       produzierenden Gewerbe in den ersten 15 Nachwendejahren weit mehr als
       halbierte, verzeichnete die Dienstleistungsbranche in Berlin nur einen
       leichten Rückgang und stieg ab 1999 wieder an. Einen Anstieg brachte die
       Hauptstadtrolle für die Berliner*innen allerdings in anderer, wenig
       positiver Hinsicht mit sich: Mit dem Zuzug bundesdeutscher und in der Folge
       auch internationaler Organisationen, Firmensitze und ihrer oft gut
       dotierten Beschäftigten explodierten in der Folge Miet- und Bodenpreise.
       Wohnungen, ob zur Miete oder als Eigentum, wurden zumal im inneren Bereich
       der Stadt für gering verdienende Berliner*innen zunehmend kaum noch
       bezahlbar. Über Jahre sinkende Steuereinnahmen der öffentlichen Hand
       aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der weggebrochenen Industrie auf
       der einen, ruinöse Immobilienspekulationen der Berliner Landesbank auf der
       anderen Seite führten zudem zu einem Ausverkauf landeseigener Besitztümer,
       darunter auch Wohnungsbaugesellschaften, und beschleunigten so die
       Verteuerung von Wohnraum und anderer Grundversorgung – von Schulbüchern bis
       zum Strom.
       
       Als „arm, aber sexy“ bewarb der dennoch recht beliebte Sozialdemokrat Klaus
       Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin von 2001 bis 2014, im Jahr
       2003 seine Stadt. Sexy ist Armut allerdings in der Regel höchstens für die,
       die nicht von ihr betroffen sind. Und sie wurde ab 2005 mit der als Hartz
       IV bekannt gewordenen Neuregelung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, die es
       den zuständigen Behörden ermöglichte, nicht Erwerbstätige durch Androhung
       von Kürzungen ihrer Unterstützung auch in schlecht bezahlte Jobs oder
       sogenannte Maßnahmen zu zwingen, noch unsexier: Der Kapitalismus, durch den
       Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks seines Korrektivs entledigt,
       schaltete hoch. (Eine Broschüre zu Hartz IV, die damals der von Wowereits
       kürzlich verstorbene Parteigenosse Wolfgang Clement 2005 publizierte,
       verglich Arbeitslose mit Parasiten – die gemeinhin eher als unsexy gelten.)
       
       ## Armut hat sich in der dritten Generation verfestigt
       
       Mittlerweile gehört Berlin laut dem Armutsbericht, den der gesamtdeutsche
       Paritätische Wohlfahrtsverband im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, mit
       Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zu den vier Bundesländern
       mit den höchsten Armutsquoten in der Bundesrepublik. Im Durchschnitt gelten
       in der Hauptstadt fast ein Fünftel aller Haushalte als arm. Sie verfügen
       also über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens.
       
       Und diese Armut zieht sich nicht nur längst unabhängig von der ehemaligen
       Ost-West-Grenze quer durch die Stadt. Sie hat sich in der dritten
       Generation nach der Wende verfestigt – und wird vererbt. Einem Bericht des
       Bezirksamt Mitte aus dem Jahr 2018 zufolge leben in manchen Gegenden des
       Stadtteils Wedding bis zu 64 Prozent der Kinder in Familien, die Hartz IV
       beziehen. Insgesamt sind es in dem Bezirk aktuell 41 Prozent.
       
       In Neukölln leben derzeit 42, in Spandau 36 Prozent der Kinder in
       ALG-II-abhängigen Haushalten, in Marzahn-Hellersdorf als am stärksten
       betroffenem reinen Ostbezirk 28 Prozent immer noch ein Drittel. Die viel
       beschworene Angleichung der Lebensverhältnisse bedeutet 30 Jahre nach der
       Wiedervereinigung (nicht nur) in Berlin also auch: Wir sind in Armut
       vereint.
       
       3 Oct 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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