URI: 
       # taz.de -- Deutsche Migrationspolitik: Wegsperren, wegschicken
       
       > Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft
       > verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis.
       
   IMG Bild: Shreteh verbrachte 37 Tage in Haft
       
       Suhl/Büren taz | Ali Shreteh hat geweint, geschrien und das Ticket für den
       Abschiebeflieger zerrissen. Gebracht hat all das nichts. Ende November
       wurde der 21-jährige Syrer nach Kroatien abgeschoben. Die letzten 37 Tage
       vor seiner Abschiebung verbrachte er in Haft. Eine Straftat hat Shreteh
       nicht begangen. Doch in Deutschland, so sagt er, habe man ihn wie einen
       Verbrecher behandelt. „Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um
       in Deutschland eingesperrt zu werden.“
       
       Mitte Dezember steht Shreteh in schwarzen Skinny-Jeans und dunkelgrüner
       Bomberjacke vor einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Kleinstadt Suhl,
       mitten im Thüringer Wald. Für das eisige Wetter ist er eigentlich zu kalt
       angezogen. Seine dunklen Augen wirken müde, immer wieder lächelt er
       schüchtern. Er ist nach einer guten Woche in Kroatien nach Deutschland
       zurückgekehrt, um erneut Asyl zu beantragen.
       
       Wenn er von seiner Zeit in Abschiebehaft erzählt, lacht er manchmal kurz
       auf, greift sich an die Stirn, oder schüttelt ungläubig den Kopf. Er
       fingert an seinem Reißverschluss herum, scheint nicht genau zu wissen, was
       er mit seinen Händen machen soll. Schließlich zündet er sich eine Zigarette
       an. Die Sammelunterkunft verlässt Shreteh dieser Tage nicht häufig. „Ich
       muss vorsichtig sein“, sagt er.
       
       Alleine Bahn fahren, in der Stadt spazieren gehen oder ein Paket Mate-Tee
       in dem kleinen arabischen Laden im Zentrum von Suhl kaufen – all das sei
       nicht ungefährlich. Dass Shreteh erneut in Abschiebehaft kommt, ist nicht
       ausgeschlossen. „Ich kann diese Angst nicht ganz abschütteln“, sagt der
       junge Mann und blinzelt unruhig.
       
       Die Geschichte von Shreteh ist nicht außergewöhnlich. Jährlich inhaftiert
       der deutsche Staat mehrere tausend Asylsuchende, um sie leichter abschieben
       zu können. Ausländerbehörden können Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam
       beantragen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sich die betroffene Person
       einer geplanten Abschiebung entziehen will und eine Abschiebung praktisch
       und rechtlich machbar ist. Ein Amtsgericht entscheidet dann, ob die Person
       in Haft kommt.
       
       Die rechtlichen Hürden für die Anordnung von Ausreisegewahrsam sind
       niedriger als die für Abschiebehaft, auch die maximale Haftdauer
       unterscheidet sich. Bisher galt Abschiebehaft als „Ultima Ratio“ – also als
       letztes Mittel –, wie das Bundesinnenministerium schreibt. Steht eine
       mildere Maßnahme zur Verfügung, um die Abschiebung zu vollziehen, darf
       keine Haft angeordnet werden.
       
       Die Haftzahlen steigen seit Jahren. [1][Während 2015 bundesweit 1.850
       Menschen in Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam saßen, waren es vier Jahre
       später 5.208, wie aus einer großen Anfrage der Linken im Bundestag 2021
       hervorging]. In den Folgejahren waren die Zahlen pandemiebedingt gesunken.
       Anfragen der taz an die Innen- und Justizministerien der Länder zeigen:
       2024 wurden in Deutschland 6.498 Menschen im Rahmen von Abschiebehaft oder
       Ausreisegewahrsam inhaftiert, deutlich mehr also als vor der Pandemie.
       Gleichzeitig war die Gesamtzahl der Abschiebungen niedriger als 2019.
       
       In 13 dafür vorgesehenen Einrichtungen stehen bundesweit rund 800
       Abschiebehaftplätze zur Verfügung. Mehrere hundert weitere sollen in den
       kommenden Monaten entstehen, unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern,
       Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Auch die
       durchschnittliche Haftzeit steigt. 2019 saßen Menschen im Schnitt 19,1 Tage
       in Abschiebehaft, 2024 waren es durchschnittlich 24,4 Tage.
       
       Dafür sind laut Bundesländern unter anderem die Rechtsverschärfungen der
       vergangenen Monate verantwortlich. Im Februar 2024 hatte die Ampelregierung
       [2][das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen] – eine von
       zahlreichen Aslyrechtsverschärfungen in den letzten dreieinhalb Jahren.
       Menschen können seitdem statt bisher 10 bis zu 28 Tage im
       Ausreisegewahrsam festgehalten werden. Im Rahmen von Abschiebehaft können
       Menschen nun 6 Monate inhaftiert werden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 18
       – vorher waren es maximal 3 Monate gewesen.
       
       Auch die möglichen Haftgründe wurden erweitert. Nun kann zum Beispiel schon
       eine unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet ausreichen, um ein halbes Jahr
       in Haft zu rechtfertigen. Ob die Rechtsverschärfungen ihren Zweck einer
       konsequenteren Abschiebepraxis erfüllen, ist fraglich. Die Folgen für die
       betroffenen Menschen wiegen dagegen schwer. Unter einer CDU-geführten
       Bundesregierung könnte sich die Lage noch deutlich zuspitzen.
       
       In ihrem Fünfpunkteplan, den die Union vergangenen Mittwoch im Notfall auch
       mit Stimmen der AfD durch den Bundestag bringen wollte, fordert sie, dass
       ausreisepflichtige Personen künftig „unmittelbar in Haft genommen werden“
       sollen. Container und alte Kasernen sollen genutzt werden, um mehr
       Haftplätze zu schaffen. Im Wahlprogramm fordert die Union zudem eine Art
       Beugehaft: Straftäter:innen sollen nach Absitzen der Strafhaft für
       unbestimmte Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Bis sie
       freiwillig ausreisen.
       
       Es ist still im größten Abschiebegefängnis Deutschlands. Mitte Januar ist
       die Sonne noch zu schwach, um den Schnee im Innenhof zum Schmelzen zu
       bringen. Dicke Betonmauern und Stacheldrahtzaun umgeben das Gelände der
       ehemaligen Nato-Kaserne, die mitten in einem Waldstück bei Büren liegt,
       einer Stadt bei Paderborn. Kameras überwachen den Bereich rund um die
       Mauer, die an der höchsten Stelle 12 Meter in den blauen Himmel ragt. Die
       Fenster der roten Backsteingebäude, in denen 124 Männer auf ihre
       Abschiebung warten, sind von außen vergittert.
       
       „Die Menschen genießen bei uns in Haft eigentlich ein normales Leben, nur
       eben minus die Freiheit“, sagt Johanna Korter, die die Einrichtung seit
       Mitte 2024 leitet, während sie durch den Schnee stapft. Fotos vom
       Stacheldrahtzaun wolle man lieber nicht in der Zeitung sehen, so etwas
       könne leicht aus dem Kontext gerissen werden. Hier in Büren sei man stolz
       auf das vielfältige Freizeitangebot, das man den Inhaftierten biete. Einen
       Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es.
       
       In die dunklen Stahltüren der Zellen sind kleine Luken eingebaut. „Um zu
       gucken, ob der Untergebrachte noch lebt“, erklärt ein uniformierter Beamte,
       der über das Gelände führt. In jeder Zelle steht ein einfaches Bett, ein
       kleiner Tisch, außerdem Kühlschrank, Wasserkocher und ein Fernseher. Der
       Boden ist grau gefliest, in jeder Zelle gibt es eine Toilette. In den
       hellblau gestrichenen Gängen hängen große Digitaluhren von der Decke. An
       den roten Ziffern können die Gefangenen ablesen, wie viel Zeit bleibt,
       bevor sie nach Kroatien, Bulgarien, Afghanistan oder in den Iran
       abgeschoben werden. Mit ihnen zu sprechen, sei aus organisatorischen
       Gründen nicht möglich, hatte die Pressestelle im Vorfeld mitgeteilt.
       
       Wer in Büren ankommt, muss zuerst in die sogenannte Kammer. Ein weißer
       Raum, in dessen Mitte ein blauer Stuhl steht. Die Inhaftierten müssen sich
       ausziehen, bevor ein Uniformierter sie durchsucht. Bargeld und Smartphones
       müssen abgegeben werden. Sie bekommen Kochgeschirr, ein Tastenhandy mit
       SIM-Karte, Kleidung und Turnschuhe ausgehändigt. Besonders wichtig sei,
       dass keine spitzen Gegenstände mit aufs Gelände genommen würden, erklärt
       ein junger Uniformierter, der einen Schlüsselbund und Pfefferspray am
       Gürtel trägt. Immer wieder war es in deutschen Abschiebehafteinrichtungen
       zu Suiziden gekommen, so auch 2018 in Büren. Damals hatte sich ein
       41-jähriger Georgier in seiner Zelle erhängt.
       
       Asyl- und Aufenthaltsrechtsexpert:innen schlagen Alarm. Die Zahl der
       unrechtmäßig Inhaftierten sei extrem hoch, sagt etwa Rechtsanwalt Peter
       Fahlbusch, der seit 2001 über 2.500 Betroffene von Abschiebehaft vor
       Gericht vertreten hat. „In rund der Hälfte der von mir geführten Verfahren
       haben Gerichte später entschieden, dass meine Mandant:innen zumindest
       teilweise zu Unrecht in Haft saßen“, sagt Fahlbusch. Eine Untersuchung der
       Universität Hamburg kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. [3][Demnach stellten
       sich 60 Prozent der Abschiebehaftbeschlüsse, die zwischen 2015 und 2022 vor
       dem Bundesgerichtshof landeten, als rechtswidrig heraus.]
       
       In vielen Fällen werde nicht sorgfältig genug geprüft, ob ein Haftgrund
       vorliege, sagt Fahlbusch. „Die Ausländerbehörde behauptet dann zum
       Beispiel, sie habe die Betroffenen bei einem Abschiebungsversuch nicht
       vorgefunden oder es bestehe Fluchtgefahr, obwohl das nicht ausreichend
       belegt werden kann.“ Manchmal würden auch Menschen inhaftiert, bei denen
       gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind. Auch die Haftdauer
       sei häufig nicht gerechtfertigt.
       
       Besonders problematisch sei, dass in den meisten Fällen Monate oder Jahre
       vergingen, bis die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt werde. In der
       Zwischenzeit sei die Mehrzahl der inhaftierten Menschen bereits abgeschoben
       worden.
       
       Peter Fahlbusch sagt, zwischen Ausländerbehörden und Amtsgerichten habe
       sich zum Teil ein bedenkenswerter Mechanismus etabliert. „Wenn die
       Ausländerbehörde einen Haftantrag stellt, sagen die Gerichte oft: Das wird
       schon so passen.“ Dafür gebe es unterschiedliche Gründe. Hin und wieder
       hätten Amtsrichter:innen nicht ausreichend Erfahrung mit
       aufenthaltsrechtlichen Fragen. Außerdem bestehe ein nicht zu
       unterschätzender politischer Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen. Es
       mache gelegentlich den Eindruck, dass dieser Druck auch auf die
       Haftentscheidungen der Gerichte durchschlage.
       
       Auf taz-Anfrage dementiert ein Großteil der Justizministerien der Länder,
       dass Fehlentscheidungen in dem Ausmaß, von dem Expert:innen berichten,
       getroffen würden. Die Ausländerbehörden und Amtsgerichte würden stets
       sorgfältig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen würden,
       heißt es. Systematisch erhoben wird die Zahl der zu Unrecht inhaftierten
       Personen in den meisten Bundesländern nicht. Auch konkrete Maßnahmen gegen
       unrechtmäßige Inhaftierungen von abgelehnten Asylbewerber:innen können
       auf Anfrage nicht genannt werden. Peter Fahlbusch sagt: „Abschiebehaft und
       die dazugehörigen Verfahren sind eine ziemliche Blackbox.“ Es sei
       unverständlich, dass keine Zahlen zu unrechtmäßigen Inhaftierungen erhoben
       würden.
       
       In den Justizministerien der Länder sieht man das offenbar anders. Bei der
       Justizministerkonferenz im Dezember stimmte eine Mehrheit dafür, dass
       Betroffenen von Abschiebehaftverfahren in Zukunft kein Pflichtanwalt mehr
       zur Verfügung gestellt werden solle. Die verpflichtende Beiordnung eines
       Rechtsbeistandes für Betroffene von Abschiebehaftverfahren war erst im
       Rahmen des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ im Februar eingeführt worden
       – auf Drängen der Grünen.
       
       Peter Fahlbusch sagt: „Dass die Justizministerkonferenz den Paragrafen
       wieder abschaffen möchte, ist skandalös.“ Zwar sei die bisherige Regelung
       nicht optimal, denn in der Praxis würden häufig Anwält:innen bestellt,
       die sich nicht vertieft mit dem Aufenthaltsrecht auskennen würden. Aber
       immerhin sei die Beiordnung von Pflichtanwält:innen ein erster Schritt,
       um die Rechte der Betroffenen zu wahren.
       
       In dem Beschluss der Justizministerkonferenz heißt es, die Verfahren würden
       durch die Bestellung von Pflichtanwält:innen „zeitintensiver sowie
       komplexer“. Rückführungen würden dadurch erschwert. Dass der Paragraf zu
       einer Mehrbelastung der Gerichte geführt habe, möge stimmen, sagt Peter
       Fahlbusch. „Nur: Es war schon immer etwas mühseliger, rechtsstaatlich zu
       verfahren.“
       
       Die Bundesländer argumentieren auf Anfrage, in vielen Fällen würden
       Abschiebungen scheitern, weil sich die Betroffenen der Maßnahme entziehen
       würden. Abschiebehaft wirke dem entgegen.
       
       Der Preis, den die Länder dafür zahlen, ist hoch, auch finanziell. Die
       Innenministerkonferenz schätzte im Juni 2024, dass der Betrieb einer
       Haftanstalt mit 100 bis 200 Plätzen mindestens 5 bis 15 Millionen Euro im
       Jahr erfordere. Der Neubau einer Einrichtung dieser Größe koste, wie
       Erfahrungen aus Bayern zeigen würden, knapp 58 Millionen Euro. Dazu kommen
       Entschädigungssummen, die die Länder im Falle einer unrechtmäßigen
       Inhaftierung zahlen müssen.
       
       Laut Peter Fahlbusch beläuft sich die Entschädigung im Schnitt auf 75 Euro
       pro Tag, den eine Person zu Unrecht in Haft saß. Geht man davon aus, dass
       davon jährlich tausende Personen betroffen sind, die meist wochenlang in
       Haft sitzen, kämen mehrere Millionen Euro dazu. Peter Fahlbusch sagt, es
       sei wichtig, Haftverfahren weiterzuführen, auch wenn die Menschen schon
       abgeschoben oder anderweitig aus Haft entlassen wurden. „Wenn der Staat am
       Ende Entschädigungszahlungen leisten muss, wird in Zukunft vielleicht
       genauer hingeschaut.“
       
       Im Suhler Stadtzentrum duftet es nach Glühwein und Schmalzgebäck. Während
       Ali Shreteh über den Weihnachtsmarkt schlendert, wirkt er entspannt. „Ich
       will, dass Deutschland mein Zuhause wird“, sagt er. Er sei erleichtert,
       wieder hier zu sein, habe aber gleichzeitig Angst, wie es weitergehe. „Was
       ist schlimmer, ein kroatischer Polizeihund, der sich in deinem Arm
       festbeißt, oder ein paar Wochen im deutschen Gefängnis?“, fragt er und weiß
       selbst keine Antwort. [4][Immer wieder berichten Asylsuchende von
       Polizeigewalt und Pushbacks durch kroatische Behörden.] Auch Shreteh hat
       solche Erfahrungen gemacht.
       
       „Deutschland hat für mich zwei Gesichter“, sagt Shreteh. Da seien Hoffnung
       und der Glaube an eine bessere Zukunft. Auf der anderen Seite stünden
       Zweifel, Angst und Enttäuschung. Die Enttäuschung, von der Shreteh erzählt,
       beginnt zwei Monate zuvor. Als Shreteh Mitte Oktober von der
       Ausländerbehörde des Unstrut-Hainich-Kreises in Thüringen vorgeladen wird,
       um seine Duldung zu verlängern, warten dort Polizeibeamte auf ihn. „Sie
       haben mir Handschellen an Händen und Füßen angelegt und mich zur
       Polizeistation gebracht“, erzählt er. Schon am nächsten Tag wird er das
       erste Mal nach Kroatien abgeschoben. „Ich war von meiner Festnahme komplett
       überrumpelt“, sagt Shreteh.
       
       Rund eine Woche später kehrt der junge Mann nach Deutschland zurück und
       wird erneut von Polizeibeamten aufgegriffen. Diesmal an einem Bahnhof in
       Nordthüringen. Nach einer Nacht in der Zelle kommt er vor Gericht. Erst
       hier erfährt Shreteh, dass er eingesperrt werden soll. In dem Haftantrag
       der Ausländerbehörde, der der taz vorliegt, heißt es, Shreteh habe in
       einer Befragung gesagt, dass er nicht nach Kroatien zurückkehren wolle,
       obwohl er ausreisepflichtig sei. Außerdem sei Shreteh illegal in das
       Bundesgebiet eingereist.
       
       Gerade einmal eine Stunde und 18 Minuten dauert die Anhörung vor dem
       Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt. „Der Betroffene teilt mit, dass er jetzt
       in einen Hungerstreik treten wird und er sterben möchte“, steht im
       Sitzungsprotokoll. Auch, dass er nun freiwillig nach Kroatien ausreisen
       wolle, beteuert Shreteh. Die beiden letzten Sätze, die der 21-jährige vor
       Gericht sagt, lauten: „Ich möchte mich umbringen im Knast. Ich kann das
       nicht aushalten.“
       
       Das Gericht entscheidet, dass Shreteh bis Ende November in Haft bleiben
       muss. Weil Thüringen bisher über keine eigene Einrichtung verfügt, kommt
       Shreteh nach Ingelheim, einer Kleinstadt bei Mainz. Auf taz-Anfrage
       schreibt das Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt, dass Abschiebehaftverfahren
       zwar relativ selten vorkämen, grundsätzlich aber ausreichend Ressourcen
       zur Verfügung stünden, um Haftanträge sorgfältig zu prüfen. Ob sich
       Shretehs Inhaftierung als rechtswidrig herausstellen könnte, ist unklar.
       Gegen den Haftbeschluss hat Peter Fahlbusch, der den Fall übernommen hat,
       Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus.
       
       Als Shreteh in der Abschiebehafteinrichtung ankommt, fallen ihm zuerst die
       grünen Gitterstäbe und die sterilen Flure auf. „Alles hat mich an die
       Gefängnisserien erinnert, die ich früher gerne geschaut habe.“ Diese
       Fernsehserien lösten mittlerweile kalte Schauer auf seinem Nacken aus,
       erzählt er.
       
       Die ersten acht Tage verbringt Shreteh in Einzelhaft. „Als die Zellentür
       zum ersten Mal geschlossen wurde, wusste ich: jetzt bin ich alleine mit
       meinen Gedanken.“ Sein Herz sei gerast, er habe sich auf den kalten Boden
       gelegt und gewartet, bis er besser atmen konnte. „Die Uniformierten haben
       mir gesagt, die ersten Tage sind ein Test.“ Auf Anfrage schreibt die
       Einrichtung in Ingelheim: „Neuankömmlinge werden zu Beginn ihres
       Aufenthaltes im geschlossenen Flur untergebracht.“ So könne man die
       Bedürfnisse der untergebrachten Personen besser beurteilen.
       
       Die Bedingungen in Abschiebehafteinrichtungen sind umstritten.
       Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2014 und 2022 schreiben
       vor, dass diese nicht wie Strafhaft gestaltet werden darf. Die
       Innenministerien der Bundesländer betonen auf Anfrage, mehr Hofgang,
       Freizeitangebote und eine engmaschige psychologische Unterstützung würden
       Abschiebehaft im Gegensatz zur Strafhaft auszeichnen. Von der
       Abschiebehafteinrichtung in Ingelheim heißt es, Gitter, Mauern und Zäune
       seien mangels geeigneter Alternativen hinzunehmen.
       
       In Büren gibt man sich Mühe, die Unterschiede zur Strafhaft betonen. Die
       bunten Kugeln im Billardzimmer, Crosstrainer und Hantelbänke im Fitnessraum
       und der verschneite Fußballplatz sollen die Inhaftierten wohl auf andere
       Gedanken bringen. Nach einer Woche Einzelhaft können sie sich innerhalb der
       Betonmauern tagsüber frei bewegen, mit ihren Tasten-Handys telefonieren und
       rauchen.
       
       Bei ihrer Ankunft wird den Inhaftierten Tabak angeboten. „Um erst mal ein
       bisschen runterzukommen“, erklärt ein Uniformierter, während er die
       Schublade mit den roten Tabakpäckchen, Filtern und Blättchen präsentiert.
       Für zwei bis drei Euro Stundenlohn dürfen die Inhaftierten unter Anleitung
       Holzarbeiten herstellen, die später verkauft werden. Ein Psychologe, drei
       Sozialarbeiter, zwei Seelsorger und ein Imam sollen sich um den Rest
       kümmern.
       
       Ein Seelsorger, der in einer anderen großen deutschen
       Abschiebehafteinrichtung tätig ist, berichtet der taz am Telefon: „Die
       normalen Verdrängungsmechanismen funktionieren in Abschiebehaft nicht.“ Mit
       den Gesprächs- und Freizeitangeboten könne man zwar ein bisschen
       gegensteuern. „Diese ganz tiefsitzende Verzweiflung der Menschen, kann man
       aber nicht auflösen.“
       
       „Im Gefängnis hört man nur traurige Geschichten. Die Träume der Menschen
       zerbrechen dort.“, erzählt Shreteh. Eine immer größere Leere habe sich in
       ihm ausgebreitet. „Ich habe Syrien so vermisst wie noch nie“, sagt Shreteh.
       Seine Stimme klingt heiser, wenn er von seiner Familie spricht, die noch in
       seiner Heimatstadt Homs lebe. Auch für sie sei er nach Deutschland
       gekommen. „Die Zelle hat sich plötzlich sehr klein angefühlt.“ Zurück nach
       Syrien zu gehen sei trotzdem nie eine Option gewesen, sagt Shreteh. Selbst
       dann nicht, als er vom Sturz des Assad-Regimes erfahren habe.
       
       Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt auf die lange weiße Narbe, die sein
       Schienbein zeichnet. „Als ich 10 Jahre alt war, hat ein Bombensplitter mich
       fast mein Bein gekostet.“ Wenige Jahre später sei seine Mutter im
       Bürgerkrieg gestorben. „Dass Syrien jetzt sicher ist, ist Quatsch“, sagt
       Shreteh und schluckt. Die politische Debatte mache ihm Angst, sagt Shreteh.
       Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind ebenfalls Teil des
       Fünfpunkteplans der Union.
       
       Als sich seine Zelle Ende November nachts öffnet, stehen dort, laut Aussage
       Shretehs, fünf Polizeibeamte. Sie bringen ihn nach Hamburg zum Flughafen,
       von dort aus geht der Charterflug nach Kroatien. „Ich habe mich wie ein
       Schwerverbrecher gefühlt“, sagt Shreteh und blickt nachdenklich auf seine
       Hände.
       
       Er zögert, wenn man ihn fragt, ob er das deutsche Rechtssystem als unfair
       wahrnehme. „Ich habe das Gefühl, man kann Glück oder Pech haben“, sagt
       Shreteh. „Und ich hatte eben Pech.“ Schulterzucken. „Die deutschen Behörden
       haben versucht, mich zu brechen“, sagt Shreteh. „Aber ich habe es
       geschafft, da durchzukommen.“
       
       Wohl auch, weil Shreteh Menschen um sich hat, die ihn bei seiner Suche nach
       einem sicheren Ort zum Leben unterstützen. Aktivist:innen und Freunde
       setzen sich für Shreteh ein, um ihn in Zukunft vor den hohen Betonmauern,
       den kroatischen Polizeihunden und dem Alleinsein zu schützen.
       
       30 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://dserver.bundestag.de/btd/19/316/1931669.pdf
   DIR [2] /Nach-Reform-bei-Abschiebungen/!6006808
   DIR [3] https://www.juwiss.de/4-2024/
   DIR [4] /Zivilorganisation-ueber-Push-Backs/!5932171
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joscha Frahm
       
       ## TAGS
       
   DIR Abschiebe-Gefängnis
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Migration
   DIR Emanzipation
   DIR GNS
   DIR CDU/CSU
   DIR Abschiebehaft
   DIR Abschiebehaft
   DIR Abschiebung
   DIR Abschiebung
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Polizeigewalt
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Abschiebung
   DIR wochentaz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abschiebehaft in Deutschland: Wen es wirklich trifft
       
       Freund:innen eines Gambiers haben mit Demos und einer Petition probiert,
       ihn aus der Abschiebehaft zu holen. Das Gericht hat seinen Eilantrag
       abgelehnt.
       
   DIR Demo gegen Abschiebehaft in Arnstadt: „Wie sollen Menschen das aushalten?“
       
       Erst in den Knast, dann in den Flieger: Thüringen richtet eine Haftanstalt
       für Abschiebungen ein. Doch gegen die Pläne regt sich Protest.
       
   DIR Abschiebehaft in Glückstadt: Das Schlimmste ist die Ungewissheit
       
       Hinter den verschärften Abschiebungsmaßnahmen stehen Menschen – zum
       Beispiel Ibrahim, der im Abschiebeknast Glückstadt sitzt. Ein Besuch.
       
   DIR Situation von Geflüchteten in Berlin: „Manche trauen sich abends nicht auf die Straße“
       
       Die aktuelle Migrationsdebatte schaffe ein Klima der Angst, kritisieren
       Geflüchtete in Berlin. Mit Doppelstandards bei der Behandlung müsse Schluss
       sein.
       
   DIR Deutsch-syrische Klinikpartnerschaften: Gesundheit für Syrien
       
       Nach dem Sturz Assads ist der Zustand der Krankenversorgung im Land
       desaströs. Kooperationen mit deutschen Partnern sollen helfen.
       
   DIR Polizeigewalt vor Gericht: Dem Korpsgeist getrotzt
       
       Ein junger Polizist zeigt seinen Kollegen an, nachdem der einen Häftling
       misshandelt hat. Das Gericht verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe auf
       Bewährung.
       
   DIR Deutschlandbild in Syrien: Autos, Wurst und humanitäre Hilfe
       
       Nach dem Sturz von Assad schauen viele Syrer:innen optimistisch in
       Richtung Bundesrepublik. Doch auch die Kälte der Deutschen spielt eine
       Rolle
       
   DIR Die CDU und die Brandmauer: Der Schlingerkurs des Friedrich Merz
       
       Mit oder ohne AfD? Der Kanzlerkandidat fordert nach Aschaffenburg
       drastische Verschärfungen in der Asylpolitik. Nur: Mit wem will er die
       durchsetzen?
       
   DIR Personalmangel im Abschiebeknast: Niemand will nach Glückstadt
       
       Die Abschiebehaftanstalt Glückstadt steht immer wieder in der Kritik. Jetzt
       hat eine Anfrage ergeben: Ein Drittel der Personalstellen ist unbesetzt.
       
   DIR Nächtlicher Polizeieinsatz: „Sie hörten mir nicht mal richtig zu“
       
       Jawid Jabari wurde aus dem Kirchenasyl in Hamburg abgeschoben. Seine
       Geschichte führt von den Taliban über die Balkanroute zum Rechtsruck in
       Europa.