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       # taz.de -- Die Causa Teichtmeister: Kunst und Verbrechen
       
       > Die Aufregung über den Fall Florian Teichtmeister berührt auch die
       > Glaubwürdigkeit von Kunst. Es geht um Vertrauen, Hierarchien und
       > Marketing.
       
   IMG Bild: Wo die Kunst gekürt wird: Florian Teichtmeister bei der Verleihung des Nestroy-Preis 2021 in Wien
       
       Die Veröffentlichung der Anklage gegen den Wiener Burg- und
       Filmschauspieler Florian Teichtmeister – ihm wird der Besitz von 58.000
       Darstellungen des Missbrauchs von Kindern vorgeworfen – hatte im
       Tagesrhythmus die österreichischen Schlagzeilen bestimmt. An die Stelle des
       medialen Scherbengerichts tritt nun eine revolutionäre Errungenschaft des
       bürgerlichen Staates, der öffentliche Strafprozess. Ab 8. Februar werden am
       Wiener Landgericht jene Vergehen verhandelt, die Teichtmeister zur Last
       gelegt werden.
       
       Wie auch immer das Urteil ausfallen wird, was geschehen ist, kann es nicht
       mehr beheben. Aber es bekräftigt und erneuert den gesellschaftlichen
       Konsens darüber, was um keinen Preis sein soll, auch wenn es unerkannt,
       irgendwo und nahezu täglich geschieht. Juristisch wäre der Fall damit
       erledigt.
       
       Jenseits der Sphäre des Rechts geht er erst richtig los. Für Teichtmeisters
       Arbeitgeber:innen in Theater, Film und Fernsehen, für das
       Selbstverständnis und die Reputation des Kulturbetriebs, ja sogar für das
       breite Publikum selbst, das den Schauspieler zu einem seiner Lieblinge
       erkor.
       
       [1][Als die Ermittlungen schon liefen], Teichtmeister längst durch
       Vernehmungen und Therapien ungefiltert in seine Abgründe blickte, seiner
       Arbeitsumgebung dennoch die gern geglaubte Botschaft lieferte, an den
       Vorwürfen gegen ihn sei „nichts dran“, ging seine Karrierekurve noch einmal
       steil nach oben. So ist ein guter Teil des öffentlichen Erregungspotenzials
       in der Causa wohl auch Abwehr und Abfuhr der Zuneigung, die dem
       Publikumsliebling bis vor Kurzem entgegengebracht wurde.
       
       Burgtheaterdirektor Martin Kušej, aber auch Marie Kreutzer, die Regisseurin
       des Films „Corsage“, hielten Teichtmeisters Erzählungen für glaubhaft. Aber
       was folgt daraus für eine Ethik künstlerischer Zusammenarbeit? Hierarchien
       im Theater und am Filmset sind auch Hierarchien darin, wer wem was
       glaubt. Die österreichische Filmwirtschaft hatte schon als Resultat der
       MeToo-Debatte begonnen, eine unabhängige Anlaufstelle für die Branche
       einzurichten.
       
       ## Gibt es nicht Fürsorgepflichten?
       
       Gibt es nicht auch Fürsorgepflichten für die übrigen Künstler:innen?
       Gemeinsam zu singen, zu tanzen oder zu spielen erfordert zweifellos eine
       breitere Vertrauensbasis als einander im Großraumbüro gegenüberzusitzen.
       Und wie steht es um die Sorge für den Beschuldigten? Wenn doch „nichts
       dran“ sein sollte, müsste man nicht erst recht besser Bescheid wissen, um
       diese Behauptung zu stützen?
       
       Diejenigen, die jetzt für sich beanspruchen, im guten Glauben gehandelt zu
       haben, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob nicht doch auch auf
       vermeintlichen Marktwert spekuliert wurde. Ein Risiko, das jetzt zum
       Totalausfall führen kann. Martin Kušej hatte Teichtmeister in einer
       Produktion in der Hauptrolle besetzt, die für sein damaliges Ansinnen, das
       Burgtheater für weitere fünf Jahre zu leiten, nicht unwichtig war.
       „Nebenan“ von Daniel Kehlmann ist vorerst vom Spielplan genommen.
       
       Ohne Franzl (Teichmeister spielte Kaiser Franz Josef in „Corsage“) kein
       Sisi-Film, auch wenn [2][Marie Kreutzer den Mythos aus einer feministischen
       Perspektive] neu betrachtet. Der feministische Gehalt des Films scheint in
       der Rezeption kaum mehr darstellbar, auch wenn die Tatvorwürfe gegen
       Darsteller den Filminhalt nicht tangieren. Ein Unterstützungsaufruf
       prominenter österreichischer Künstler:innen für Kreutzer und „Corsage“
       wird kaum verhindern, dass der Film sein kommendes Publikum vermehrt unter
       Archivar:innen findet.
       
       Es entsteht tatsächlich das Unzeitgemäße einer tragischen Konstellation,
       für etwas schuldlos Beschädigtes die Verantwortung zu übernehmen und auf
       die weitere Verwertung zu verzichten. Das wäre zumindest eine
       Handlungsoption.
       
       Solche Überlegungen gehen weit über das hinaus, was man aufbieten muss, um
       juristisch aus dem Schneider zu sein. Künstler:innen sind nicht zwingend
       besser als andere Gruppen der Gesellschaft, auch bleibt das Feld der Kunst
       von deren Abgründen keineswegs verschont. Aber ist von den darin Handelnden
       aufgrund der besonderen Freiheit und Aufmerksamkeit, die ihnen die
       Gesellschaft entgegenbringt, nicht mehr zu erwarten als der Minimalkonsens
       der Gesetze?
       
       ## Autonomie der Kunst
       
       Autonomie der Kunst ist nicht Anomie, gleichsam Narrenfreiheit für Genies
       und solche, die es werden wollen. Sie kann nur bedeuten, dass die Kunst
       Regeln und Normen in und aus der eigenen Praxis entwickelt. Dass Ethik und
       Ästhetik letztlich eins sind oder zumindest ein und dieselbe Medaille von
       zwei Seiten betrachtet, ist keine besonders originelle Einsicht in der
       Philosophiegeschichte. Sie spannt sich von Aristoteles bis Ludwig
       Wittgenstein.
       
       Die Kunst ist in der Geschichte der Aufklärung zu ihrer wirksamsten
       Wahrheitsdroge geworden. Das Theater, die „moralische Anstalt“ und ihre
       medialen Weiterentwicklungen gehen in ihren Botschaften an das Publikum, in
       ihrer Reflexion darüber, was der Mensch ist und darüber, wie die Menschen
       handeln sollen, weit über rechtliche Normen hinaus. In der Praxis der Kunst
       stößt man dagegen immer wieder auf blinde Flecken, dort wo es um
       Hierarchien, Machtmissbrauch, Intransparenz und gesellschaftliche Exklusion
       geht. Der Anspruch auf Autonomie erfordert letztlich, den
       Produktionsprozess der Kunst zu ihrem Gegenstand zu machen.
       
       Die Debatte über moralische Anforderungen der Gesellschaft an die Kunst
       fällt nicht gerade leicht, auch weil sie noch immer von der Erinnerung an
       die eigene Durchsetzungsgeschichte gegen falsche Autoritäten und aktuelle
       Gefährdungen belastet ist. Gegen das Diktat der Religion und die
       überschießenden Ansprüche des Staates, so die romantische Vorstellung,
       schien einst nur die Übertretung des von irdischen Regeln ungebundenen
       Genies der Kunst den Weg zu neuen Ufern zu weisen. Allein, Kriminelle von
       heute haben mit bahnbrechenden Libertins der Frühaufklärung und genialen
       Meuchelmördern der Renaissance nichts mehr zu tun.
       
       30 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Film-Corsage-in-den-Kinos/!5862588
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Mattheiß
       
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