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       # taz.de -- Die Deutschen und der Krieg: Das Monster im Raum
       
       > Einst konnten sie gar nicht genug von ihm bekommen, dann verdrängten sie
       > ihn gründlich. Wie der Krieg dann doch wieder über die Deutschen kam.
       
   IMG Bild: Treffen von Soldaten der Wehrmacht und Roten Armee an der Demarkationslinie 1939. Der Großvater des Autors verdeckt in der Mitte
       
       Berlin taz | Wildschweine, die in den Gedärmen von Toten wühlen; Lazarette,
       in denen erfrorene Gliedmaße im Akkord amputiert und vor die Tür geworfen
       werden, wo die Dorfhunde sie fressen; ein gefangener deutscher Soldat, der
       dumm zu grinsen scheint, und ein wütender GI, der ihn deswegen erschießen
       will, ein Kamerad stößt den Gewehrlauf im letzten Moment weg: „Der hat doch
       weder Lippen noch Augenlider!“ Die hatte der Deutsche im russischen Frost
       an der Ostfront verloren.
       
       Es waren solche ganz realen Horrorbilder, die ich vor sieben Jahren [1][in
       einer Rezension zu einem Buch über die Ardennenschlacht 1944 zitierte];
       und selten habe ich bei einer taz-Konferenz so viel kopfschüttelndes
       Unverständnis geerntet: Warum ich nun ausgerechnet ein abseitiges Ereignis
       wie ein winterliches Gemetzel am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Thema
       einer ganzen Seite machte.
       
       Der Krieg und seine Schrecken, sie waren sehr weit weg im Berlin des Jahres
       2017. Man machte sich ein wenig altmodisch-lächerlich, wenn man – weil zwar
       als Nachgeborener, aber eben doch verwandtschaflich in die Sache verwickelt
       – an sie erinnerte. Einer, der immer die Bedeutung des Friedens als
       Hauptverdienst der europäischen Einigung betont hatte, Helmut Kohl, starb
       in diesem Jahr. Wie sich überhaupt die Generation, die den Weltkrieg noch
       erlebt hatte, peu à peu verabschiedete.
       
       Dass der Krieg da allerdings längst auf die auch europäische Bühne
       zurückgekehrt war, belegte der Prozess gegen Ratko Mladić. Am 22. November
       2017 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal in seinem letzten
       Völkermordprozess zum früheren Jugoslawien den damaligen
       bosnisch-serbischen Militärchef wegen Kriegsverbrechen, unter anderem für
       das Massaker von Srebrenica 1995, zu lebenslanger Haft.
       
       ## Alles Militärische in Parallelgesellschaft
       
       Fast genau vier Jahre nach meinem Artikel über den Horror des realen
       Krieges [2][sprachen der taz-Kollege Daniel Schulz und ich] über unser
       Aufwachsen unter Soldaten des sogenannten Kalten – des Gott sei Dank nie
       offen ausgebrochenen – Krieges: er im Osten als Kind eines NVA-Offiziers,
       ich im Westen als Sohn eines Bundeswehrjuristen. Das zweiseitige Interview
       schaffte es nicht zum Titel, es war Coronazeit, und die Schlagzeile lautete
       „Die Verschwörungsindustrie“. Wir wunderten uns nicht zu sehr drüber, auch
       weil wir viele Rückmeldungen auf unser Gespräch bekamen – allerdings
       ausschließlich von Menschen, die selbst in ähnlichen Verhältnissen
       aufgewachsen waren.
       
       Seitdem wissen wir, wie viele taz-Kollegen Väter im Generalsrang haben; und
       wir erfuhren im Allgemeinen, wie alles Militärische in der Bundesrepublik
       in eine Art Parallelgesellschaft verwiesen worden war, in der sich die ihr
       zugehörigen Menschen – ob Aktive oder Verwandte – mehr oder weniger
       schicksalsergeben eingerichtet hatten.
       
       ## Deutschland wollte Helme schicken
       
       Das war im März 2021. Wiederum ziemlich genau ein Jahr später, am 24.
       Februar 2022, begann der russische Überfall auf die Ukraine. Die offizielle
       deutsche Reaktion auf diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg war
       immerhin schon vorab erfolgt. Die damalige Verteidigungsministerin
       Christine Lambrecht (SPD) hatte am 22. Januar auf dringende Warnungen der
       ukrainischen Regierung vor einem russischen Einmarsch mit der Zusage einer
       Lieferung von [3][5.000 Schutzhelmen] reagiert.
       
       Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, geografisch, historisch
       und intellektuell deutlich näher dran am Geschehen als Lambrecht,
       kommentierte das wörtlich und sehr verständlich, nämlich [4][auf Deutsch]:
       „Das ist ein Witz. Das muss ein Witz sein.“
       
       In dem Gespräch mit Daniel hatte ich auf die Frage, was von meinem
       Aufwachsen geblieben sei, geantwortet: „Wenn ich sehe, die Politik schickt
       Soldat:innen in den Krieg und die Ausrüstung ist nicht adäquat, dann
       denke ich: So etwas macht man nicht. Dann lasst es mit der Armee. Da habe
       ich ein starkes, mir unheimliches Kameradschaftsgefühl.“
       
       ## Intellektueller Totalausfall
       
       Lambrechts Move war allerdings dermaßen grotesk, dass ich durch ihn ein
       sehr klares, solidarisches Gefühl für die Lage der Ukraine entwickelte:
       Eine Lage, die eben nicht zuletzt deswegen so fatal war, weil ein
       potenziell wichtiger Partner, wenn nicht Verbündeter der Ukrainer:innnen,
       die Bundesrepublik Deutschland, intellektuell, emotional und personell ein
       Totalausfall war – fast.
       
       Ein Helm war nämlich schon im Wahlkampf 2021 für [5][ein
       schlagzeilenträchtiges Bild] gut gewesen. Ende Mai 2021 hatte Robert Habeck
       ein zerstörtes Dorf in der Ostukraine besucht, sich sehr zivil hockend mit
       Schutzweste und Helm abbilden lassen und gesagt, Waffen zur Verteidigung,
       also Defensivwaffen, könne man der Ukraine „schwer verwehren“.
       
       ## „Kriegsgeile“ Grüne
       
       Trotz Habecks frühem und klarem Blick auf die Lage – erwartet man
       eigentlich nicht ebendas von einer politischen Führungsfigur? – wurde das
       Bild zur negativen Ikone. Es war der Beginn der Kampagne gegen die
       ‚kriegsgeilen‘ Grünen. Und ob das nun individuell aus Angst oder Egoismus,
       aus Kalkül oder Dummheit, zur Selbstberuhigung oder schlicht aus Bosheit
       geschah – das Hufeisen von linken wie rechten Realitätsverweigerern,
       moralischen Defätisten und unmittelbar vom Putinregime Korrumpierten hatte
       sich Habeck, den Grünen sowie allen, die aus einer antifaschistischen
       Grundhaltung heraus sich der Ukraine nah fühlten, damit fest um den Nacken
       gelegt.
       
       Klassisch war die Kommentierung des damaligen Chefs der damaligen
       Noch-Fraktion der Linken im Bundestag, [6][Dietmar Bartsch]: „Robert Habeck
       hat sich da total vergaloppiert. Sich als deutscher Parteichef mit
       Stahlhelm in der Nähe der russischen Grenze ablichten zu lassen, ist
       angesichts unserer Geschichte unangemessen, für einen Grünen-Parteichef
       geradezu grotesk.“
       
       ## Persönliche Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs
       
       Auf diesen rhetorischen Trick, der weiß Gott nicht nur Bartsch einfiel,
       fiel ich nun allerdings nicht mehr rein. Dass die deutsche
       Nazivergangenheit bedeute, man dürfe sich nicht vor russischen Snipern
       schützen, wenn man das Territorium eines souveränen Staats besuche: Darauf
       musste man als ehemaliger Bürger eines Staates, Mitglied von dessen
       Staatspartei und Soldat seiner Nationalen Volksarmee, die tatsächlich mal
       an einem Überfall auf ein Nachbarland beteiligt war, nämlich dem der
       Warschauer-Pakt-Staaten auf die Tschechoslowakei 1968, erst mal kommen.
       
       Vor allem aber hatte ich meine ganz persönliche Aufarbeitung des
       Jugoslawienkriegs hinter mir. Die zentrale Lehre, die mir von Betroffenen
       aus Bosnien und Kroatien mit großer Geduld vermittelt worden war, lautete:
       Hör auf, dich als Deutscher selbst zu bemitleiden. Hör auf, [7][linke
       Pseudolehren] aus den Morden der Vergangenheit ziehen zu wollen, die in der
       Gegenwart neues Morden erst ermöglichen. Fang an hinzuschauen und
       wahrzunehmen, was vor deinen Augen geschieht.
       
       ## Opfer Serbien zum Täter Serbien
       
       Eben dazu war ich während der Jugoslawienkriege nicht fähig gewesen. Dass
       aus dem Opfer Serbien der Täter Serbien hatte werden können, aus dem im
       Zweiten Weltkrieg von Deutschen Überfallenen der chauvinistische Aggressor:
       Das überstieg nicht nur meine Vorstellungskraft, sondern schlicht auch
       meine Bereitschaft, mich [8][mit den Tatsachen auseinanderzusetzen] und
       empathisch zuzuhören, was die Menschen, die die serbische Aggression
       erlebten, zu sagen hatten.
       
       Ich habe heute fast täglich mit Menschen zu tun, die der russischen
       Aggression mit der gleichen Beschränktheit, der gleichen Hemmung begegnen
       wie ich einst der serbischen. Und ich versuche die gleiche Geduld zu
       bewahren, von der ich einst profitieren konnte.
       
       ## Die polnische Erfahrung
       
       Dabei hilft mir auch eine andere Erfahrung, die schon angeklungen ist – die
       polnische. Es ist unmöglich, sich mit Polen über die Vergangenheit zu
       unterhalten, ohne über die polnischen Teilungen zu reden, die zum
       mehrmaligen Verschwinden des polnischen Staates geführt haben. Die letzte,
       die vierte Teilung ist noch gar nicht so lange her, es leben noch Menschen,
       die sich an sie erinnern können.
       
       1939 teilten Russland und Deutschland sich Polen auf, einvernehmlich und
       mit militärischem Zeremoniell: Mein Großvater, der Pionierhauptmann Johann
       Waibel, war an der Demarkationslinie dabei (siehe Foto). Polen war das
       erste Opfer des Zweiten Weltkriegs; und man muss nicht im entferntesten die
       sowjetische Okkupation (die sich dann 1945 fortsetzte) mit der der
       Nazideutschen gleichsetzen, um dennoch genau hinzuhören, wenn Polen vor
       Russlands Imperialismus warnen – und das schon lange vor dem Angriff auf
       die Ukraine.
       
       Für mich gibt es – und vielleicht war der hier skizzierte Erfahrungsverlauf
       zum Nachvollziehen hilfreich – deswegen nur eine Leitlinie, was den
       Widerstand der Ukraine angeht: Wir müssen ihn unterstützen, solange das
       ukrainische Volk ihn leisten kann und will beziehungsweise in freier
       Selbstbestimmung darüber entscheiden kann: Voraussetzung dafür ist der
       bedingungslose Abzug der russischen Okkupanten und Entschädigung für die
       von ihnen angerichteten Verwüstungen.
       
       ## Whatever it takes
       
       Unterstützung bedeutet, mit den Worten Mario Draghis zur Eurorettung:
       [9][Whatever it takes]. Und nicht zuletzt eben mit modernen Waffen, die die
       personelle Unterlegenheit ausgleichen und ganz konkret Leben retten. Dass
       die Herkunft des dafür nötigen Geldes im dauernden Klassen- wie im
       aktuellen Wahlkampf umstritten ist und vor allem von denen aufgebracht
       werden müsste, die es sich leisten könnten, ist [10][offensichtlich],
       ändert aber nichts an der [11][Tatsache,] dass die derzeitige Unterstützung
       der Ukraine gering ist „im Vergleich zu dem, was ein möglicher Sieg
       Russlands im Angriffskrieg auf die Ukraine Deutschland kosten würde“, wie
       das Institut für Weltwirtschaft Kiel aufgezeigt hat.
       
       Ich finde, dass wir uns das tatsächlich als insbesondere westdeutsche
       Nazinachkommen schuldig sind. Sind es im Westen eher Denkfaulheit und
       allgemeine Abneigung gegen Ereignisse, die einen irgendwie aus dem
       Wohlstandstrott herausreißen könnten, die den militärischen Widerstand der
       Ukrainer:innen gegen das mafiös-faschistische Putinregime nicht würdigen
       und adäquat unterstützen können, so mag man dem Osten eine gewisse
       geschichtliche Erschöpfung zugutehalten: eine Stimmung, die von AfD-Nazis,
       den Bauernfängern der Wagenknecht-Kader und dem Generalsekretär der SPD,
       [12][Matthias Miersch], nur zu gern [13][bedient wird.]
       
       Aber [14][wie im Spanischen Bürgerkrieg], als die Demokratien allerdings
       damit scheiterten, dem Guten – oder jedenfalls dem Besseren – zum Sieg
       gegen den Faschismus zu verhelfen, muss die Devise, ob in Kyjiw oder in
       [15][Hannover,] gegen die Putinisten lauten: No pasarán!
       
       21 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Buch-zur-Ardennenoffensive-der-Nazis/!5395675
   DIR [2] /Militaer-in-Deutschland/!5754927
   DIR [3] /Befuerchtete-Invasion-durch-Russland/!5832101
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=Z2wPijegqT8
   DIR [5] /Gruene-Aussen--und-Sicherheitspolitik/!5771141
   DIR [6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article231491385/Dietmar-Bartsch-kritisiert-Ukraine-Foto-von-Habeck-Fuer-einen-Gruenen-Chef-grotesk.html
   DIR [7] https://www.amazon.de/Serbien-muss-sterbien-jugoslawischen-B%C3%BCrgerkrieg/dp/3923118147
   DIR [8] /FB-Analysen-zum-russischen-Ueberfall/!5943137
   DIR [9] /Waffen-fuer-die-Ukraine/!5935243
   DIR [10] /Tiefgefrorene-Ukrainedebatte/!5997400
   DIR [11] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/aktuelles/militaerhilfe-fuer-die-ukraine-stopp-kostet-deutschland-viel-mehr-als-fortfuehrung/
   DIR [12] https://www.spiegel.de/politik/gerhard-schroeder-spd-generalsekretaer-matthias-miersch-erklaert-alt-kanzler-wieder-zum-teil-der-partei-a-dc2c519b-cbd1-42b6-a715-6f753f012b76
   DIR [13] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/auf-afd-niveau-angekommen-spd-general-eckt-mit-ukraine-aussagen-an/100101614.html
   DIR [14] https://www.theguardian.com/world/2022/mar/12/no-pasaran-anti-fascist-ukraine-spanish-civil-war
   DIR [15] /Schroeder-Dokumentation-im-Ersten/!5999311
       
       ## AUTOREN
       
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