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       # taz.de -- Die Folgen des Sechstagekriegs: „Wir wollten sie kennenlernen“
       
       > Am 5. Juni 1967 greift Israel seine arabischen Nachbarn an. Viele waren
       > nach dem Krieg traumatisiert. Wie lebt es sich 50 Jahre später in
       > Jerusalem ?
       
   IMG Bild: Nach fast 20 Jahren konnten Juden wieder zur Klagemauer, ihrer heiligsten Stätte
       
       Jerusalem taz | Sie weint, bevor sie zu reden beginnt. Ruthi Langotsky, 79,
       in dunkler Stoffhose und grauer Bluse, sorgsam frisiert. 1967, als niemand
       etwas von dem Krieg ahnte, der die Stadt, das Land und ihr Leben verändern
       würde, wohnte sie mit ihrem Mann Jakob Eylam, geborener Buchmann, und ihrem
       Sohn Alon, drei Jahre alt, in Abu Tor, einem Stadtteil von Jerusalem, an
       der Grenze, die die Stadt zerschnitt. Hier Westjerusalem, israelisch,
       drüben Ostjerusalem, jordanisch besetzt seit 1948. Wie viele Israelis hatte
       Buchmann seinen Namen hebräisiert und nannte sich Eylam. „Wenn ich auf die
       Straße ging“, erzählt seine Witwe, „winkte ich den jordanischen Soldaten
       auf der anderen Seite zu, und sie winkten zurück.“ Ruthi arbeitete als
       Fremdsprachenkorrespondentin, Jakob studierte Medizin.
       
       „Chubi“, wie sie ihren Mann, der den israelischen Fallschirmspringern
       angehörte, nennt, war schon einige Tage vor Kriegsausbruch einberufen
       worden. Ägypten hatte Truppen im Sinai stationiert. Radio Kairo hetzte auf
       Hebräisch, man werde „die Juden ins Meer werfen“.
       
       Von Abu Tor aus sieht man bis zur Altstadt von Jerusalem, gelegen im
       Ostteil. Dort erhebt sich der muslimische Felsendom auf dem weiten Plateau
       des Tempelbergs mit der Westmauer, bekannt als Klagemauer, wo fromme Juden
       zu Gott beten.
       
       Dort lebte damals der Palästinenser Mohammed Burkan. Als der Sechstagekrieg
       am 5. Juni 1967 begann, war er 21 Jahre alt. Er habe bis dahin „noch nie
       einen Juden gesehen“. Er kannte aber die Geschichten, die man sich
       erzählte; wie die über Massaker in dem Dorf Deir Jassin, wo jüdische
       Untergrundkämpfer im April 1948 Hunderte Kinder, Frauen und Männer
       ermordeten. Kollektive Erinnerungen an die Gründung des Staates Israel, den
       Krieg, den darauf die umliegenden arabischen Staaten erklärten, deren
       Niederlage und die Flucht Hunderttausender Palästinenser.
       
       ## Datteln wollten sie anbauen und Trauben
       
       Von seinem Opa hatte Burkan als Kind erfahren, dass es auch andere Juden
       gab. Nachbarn, die der Großvater in seinem Haus in Hebron versteckte und
       ihnen zur Flucht verhalf, als 1929 Araber dort ein Massaker unter den Juden
       anrichteten.
       
       In den vierziger Jahren zogen die Burkans von Hebron in die Altstadt von
       Jerusalem. Mohammeds Vater kaufte ein Zimmer im Jüdischen Viertel und
       später ein Stück Land in Beit Chanina am nördlichen Stadtrand, wo sie eines
       Tages, „wie früher“, Datteln und Trauben anbauen wollten.
       
       Für die beiden Familien, die Burkans aus der Altstadt und die Eylams aus
       dem Westteil, nahm das Leben mit dem Sechstagekrieg eine plötzliche Wende.
       
       Mohammed und Ruthi, beide in ihren 70ern, waren damals jung, frisch
       verheiratet und Eltern von Kleinkindern, bis der Krieg und die Besatzung
       ihrem Glück ein Ende machten. Ruthi Eylam verlor ihren Jakob, der Israels
       Fallschirmspringern angehörte, Mohammed Burkan sein Haus. Seine Eltern
       gehörten zu den letzten Arabern, die das Jüdische Viertel der Altstadt
       wegen des Kriegs verlassen mussten.
       
       „Es war die schönste Zeit in meinem Leben“, sagt Burkan. Jordanien regierte
       über das Westjordanland und Ostjerusalem. „Der Polizeikommandant in der
       Altstadt spielte sich auf, als sei er der König“, erzählt Burkan. „Am
       liebsten hätte er es gehabt, dass wir ihm die Stiefel lecken.“ Als der
       Junge 15 Jahre alt war, verdiente er als Laufbursche einer Bäckerei etwas
       Geld, um seinem Vater unter die Arme zu greifen, der erst bei den Briten
       und später bei den Jordaniern im Rathaus putze und kleine Reparaturen
       erledigte. Frühmorgens sammelte Mohammed von Frauen in der Altstadt den
       Teig ein, nach dem Backen teilte er die Brote aus. „Ich sehe meine Eltern
       noch auf dem Fußboden sitzen, wenn mein Vater sein Gehalt bekam.“ Dann
       wurde das Geld eingeteilt: „So viel für Reis, so viel für Zucker – damit
       wir über den Monat kommen.“
       
       ## „Wir hatten keine Ahnung, was zu tun ist“
       
       Burkan, 71, trägt eine gehäkelte Kopfbedeckung, der weiße Kaftan spannt
       über seinem Bauch. Kindheitsbilder, von denen er im Eingangsraum seines
       Hauses in Beit Chanina erzählt. Seine Tochter Kaussa bringt Tee mit
       frischen Minzblättern, zur vollen Stunde ertönt aus einer goldfarbenen
       Plastikwanduhr ein durchdringender Allahhu-akbar-Ruf.
       
       Burkan war der älteste Sohn von insgesamt acht Kindern. Nach seiner
       Hochzeit und der Geburt des ersten Kindes wurde er Anstreicher und
       verdiente genug, um im Haus seiner Eltern ein zweites Zimmer zu mieten.
       Schon Wochen vor den ersten Schüssen „lag der Krieg in der Luft“, sagt er.
       Die Araber in der Altstadt bildeten Gruppen von Männern, die zu Sanitätern
       ausgebildet werden sollten. Burkan hatte das Kommando über die Gruppe, die
       für die Umgebung des Tempelbergs zuständig sein würden. „Wir sollten einen
       Kurs machen, aber der fiel immer wieder aus“, berichtet er. „Wir hatten
       keine Ahnung, was zu tun ist, keine Medikamente, kein Verbandszeug,
       nichts.“
       
       Der Krieg begann am Montag um 8 Uhr morgens. Ruthi Eylam hatte Angst –
       nicht um sich und ihren Sohn, sondern um ihren Mann. Es gab Gerüchte, dass
       die Fallschirmspringer über Ägypten abspringen sollten, um die
       Fluglandeplätze zu sprengen. „Das wäre reiner Selbstmord gewesen.“ Sie lief
       zum Kindergarten, um den kleinen Alon zu holen, und wollte dann gleich
       wieder nach Hause, vielleicht würde ihr Mann anrufen. Damit, dass auch
       Jordanien in den Krieg verwickelt werden würde, rechnete sie nicht.
       
       „Der Himmel war blau, es war ein wunderbarer sonniger Tag.“ Ruthi Eylam war
       mit ihrem Sohn auf dem Heimweg, als „plötzlich alles schwarz um uns wurde“.
       Panzergeschosse aus allen Richtungen. Sie rannte mit Alon an der Hand zu
       einer Freundin, „so schnell – er flog mehr, als dass er lief“. Im Radio
       hörten sie, dass die jordanischen Truppen rasch bis Armon Hanaziv
       vorrückten. „Das war kaum fünf Minuten Fußweg von uns entfernt.“ Die beiden
       Freundinnen steckten ihre Kinder unter ein Bett und schoben das Klavier
       davor.
       
       ## Die ersten Schüsse, ein provisorisches Lazarett
       
       In der Altstadt fielen die ersten Schüsse gegen 11 Uhr. Burkan und seine
       Freunde räumten einen Stall aus, richteten ein Lazarett ein, zerrissen
       Laken, brachten Wassereimer und warteten, bis es Nacht wurde. Zusammen mit
       einem der jordanischen Polizeikommandanten zog er los, um in den Gassen
       nach Verletzten zu suchen. „Plötzlich war eine Leuchtbombe über uns. Die
       Juden waren schon bis zum Löwentor vorgedrungen. Wir hörten bum, bum, aber
       Verletzte kamen nicht zu uns.“
       
       Die israelische Brigade drängte im Grenzbereich zwischen Ost- und
       Westjerusalem die jordanischen Truppen zurück. Auch die
       Fallschirmspringertruppe von Jakob Eylam, so viel wusste seine Frau, war
       nach Jerusalem verlegt worden. 50 Jahre später fischt sie eine vergilbte
       Postkarte aus einer Plastikhülle und liest: „Wenn ich nur wüsste, dass dies
       der letzte Krieg ist.“ Sie liest langsam, kämpft mit den Tränen. „So sehr
       wünsche ich mir, euch noch einmal wiederzusehen. Ob mir das gelingen wird?“
       Es ist der letzte Gruß, der Ruthi von ihrem Mann erreichen sollte. „Als
       hätte er gewusst, was passieren würde“, sagt sie und liest weiter: „Alles
       in mir wehrt sich gegen diesen sinnlosen Krieg“, der nichts verändern
       werde. „Unsere Feinde sind nicht die Bösen.“
       
       Am vierten Tag des Kriegs hörten die Gefechte in Jerusalem auf, Israels
       Truppen zogen weiter Richtung Norden. Die Kämpfe gegen die syrische Armee
       dauerten bis zum letzten Kriegstag an. Ruthi Eylam hatte nichts mehr von
       Jakob gehört. „Wir gingen in den Zoo, um die Tiere zu füttern.“ Auch dort
       war bombardiert worden. „Am Eingang kam uns ein Nashorn entgegen.“ Sie
       ahnte nichts Böses, ging zum Markt, um einzukaufen, und wartete auf ihren
       Mann. „Ich kochte für ihn.“
       
       Wie genau Jakob Eylam gefallen ist, hat seine Frau nie erfahren. Er gehörte
       zu den Sanitätern. Seine Frau vermutet, dass er Verletzte bergen wollte.
       Das Kommando war mit einem Jeep unterwegs in Richtung
       Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf dem Ölberg. „Mein Mann war Pazifist“, sagt
       Ruthi. „Aber wenn er einen Auftrag hatte, dann hat er ihn erfüllt.“ Gerade
       30 Jahre alt war Jakob Eylam, als er fiel.
       
       In der Nacht vom vierten zum fünften Kriegstag kamen die israelischen
       Soldaten ins Jüdische Viertel. „Sie riefen auf Arabisch, wir sollten
       rauskommen“, erzählt sich Mohammed Burkan. Zu diesem Zeitpunkt seien schon
       viele Araber nach Jordanien geflohen. Aus Angst, dass „die Juden alle
       jungen Männer erschießen“, wie damals das Gerücht ging. Burkan hatte Angst,
       wusste aber nicht, wohin. „Ich wollte lieber zu Hause sterben.“
       
       ## Ein Foto ging in die Geschichte ein
       
       In Israel herrschte Euphorie. Das Land befand sich im Siegestaumel. In nur
       sechs Tagen hatten die Truppen den Sinai und den Gazastreifen erobert, die
       Golanhöhen und das Westjordanland mit Ostjerusalem und der Altstadt. Ein
       Foto ging in die Geschichte ein, Symbol dieses Sieges:
       Verteidigungsminister Mosche Dajan, Generalstabschef Itzhak Rabin und der
       Kommandant für Jerusalem, Usi Narkiss, alle in Soldatenuniform, betreten am
       Löwentor zum ersten Mal die Altstadt von Jerusalem. Nach fast 20 Jahren
       konnten Juden wieder zur Klagemauer, ihrer heiligsten Stätte. Und noch
       mehr: Sie hatten diesen Ort erkämpft.
       
       „Mir hat das nichts bedeutet“, sagt Ruthi Langotsky heute, 50 Jahre später.
       „Für mich ist Jerusalem eher kleiner geworden.“ Als die Grenze zwischen
       Jordanien und Israel fiel, war Israelis der Weg in den Osten der Stadt
       geöffnet, und es kamen Palästinenser in den Westen, auch nach Abu Tor.
       Ruthi und Alon Eylam wohnten im Parterre. „Ich habe mich nicht mehr sicher
       gefühlt“, sagt sie. „Manchmal kamen mir fünf Männer auf dem Bürgersteig
       entgegen und zwangen mich, auf die Straße auszuweichen.“ Mutter und Kind
       zogen weg, in den 3. Stock in Rechavia, weiter im Westen der Stadt.
       
       Die ersten Juden, denen Mohammed Burkan begegnete, waren Beamte der Stadt,
       die die Einwohner registrierten. „Mit der Zeit haben wir uns an sie
       gewöhnt“, sagt er. Er selbst sei auch ein wenig neugierig gewesen. „Wir
       wollten sie kennenlernen.“ Anfangs kamen nur einzelne Israelis, dann
       regelrechte Besucherströme zur Klagemauer und ins Jüdische Viertel.
       Mohammed und seine Freunde erkannten ihre Chance. „Wir fingen an, Schmuck
       zu verkaufen.“ Das Geschäft lief so gut, dass ihnen schon bald die Ware
       ausging. Die Familie konnte das Geld gut gebrauchen, denn Israel hatte dem
       Vater, der bis dahin in der Stadtverwaltung angestellt war, sofort
       gekündigt. Ein paar Jahre später bekam Mohammed Burkan als Maler eine
       Stelle im Kibbuz Ramat Rachel am Stadtrand von Jerusalem, wo er bis zu
       seiner Pension blieb.
       
       Jakob Eylam, der seine Kindheit genau in diesem Kibbuz verbrachte, „liebte
       die Musik, vor allem Brahms, spielte Oboe im Jerusalemer Rundfunkorchester,
       las Kant und Jehuda Amichai“, erzählt seine Witwe. Sie holt eine DVD
       hervor, die seine Kameraden Jahre nach dem Krieg für sie und ihren Sohn
       zusammenstellten. Jakob Eylam war schon 1956 zur Armee eingezogen worden,
       scheiterte anfangs an den Prüfungen für die Fallschirmspringereinheit und
       schaffte sie später doch. „Alles packte er in 30 Jahre Leben.“ Das Video
       seiner Kameraden zeigt ihn mal in Uniform, mal lesend oder musizierend und
       immer wieder mit seinem Sohn auf den Schultern oder im Sitzen auf den
       Knien.
       
       ## Der Sohn will das Leid vergessen machen
       
       Wie traumatisiert viele nach dem Krieg waren, zeigt sich an Alon Eylam, der
       seinen Vater nur aus Erzählungen kennt. Als seine Mutter wieder heiratete
       und Ruthi Langotsky hieß, änderte auch der Junge seinen Namen. Er machte
       seinen Nachnamen zum Vornamen – aus Alon wurde Eylam – und übernahm den
       Familiennamen seines Stiefvaters. „Er wollte Langotsky heißen, einen Vater
       und Geschwister haben und alles andere hinter sich lassen“, sagt Ruthi
       Langotsky. „Es war meine Überlebensstrategie“, sagt Eylam Langotsky. Vor
       neun Jahren hat er Israel verlassen, lebt heute in Berlin, wo er mit seiner
       Lebensgefährtin in einem Zentrum für alternative Medizin arbeitet. Seinen
       Jungen nannte er nach seinem Vater: Jakob.
       
       „Mein Sohn“, so sagt Ruthi Langotsky und hat wieder Tränen in den Augen,
       „war nach dem Krieg so traumatisiert, dass er erst mit über 50 selbst Vater
       wurde.“ Er habe immer gesagt: „Wie kann ich einem Kind garantieren, dass
       ich nicht plötzlich aus seinem Leben verschwinde?“ Ausgerechnet in
       Deutschland „fühlt er sich sicher, so absurd das klingen mag“. Ruthis
       Großeltern lebten bis zur Machtergreifung Hitlers in Hanau. Beide sind in
       Theresienstadt zu Tode gekommen.
       
       Schon 1968, ein Jahr nach dem Krieg, begannen die Enteignungsverfahren in
       der eroberten Altstadt von Jerusalem. Die Gesellschaft zum Wiederaufbau des
       Jüdischen Viertels bot den arabischen Bewohnern Geld. „Wir hätten jeden
       Preis nennen können“, sagt Burkan. Von den ursprünglich „15.000 arabischen
       Familien“, die bis zum Krieg in dem Viertel lebten, hätten „nur rund ein
       Dutzend Palästinenser“ das Geld angenommen, sagt er. Er lebte mit seiner
       Familie damals schon in Beit Chanina, aber seine Eltern waren noch in der
       Wohnung seiner Kindheit. „Am 10. Januar 1977 kam die Polizei“, sagt er.
       
       Das Stadtmagazin Jeruschalton betitelte im Sommer 1978 einen Artikel über
       ihn und das Haus seiner Familie mit der Zeile „Kein Platz für Araber im
       Jüdischen Viertel“. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 hatten
       jordanische Soldaten die Juden aus dem Viertel vertrieben. Jetzt machte
       Israel es umgekehrt. Wer Interesse hatte, eine Wohnung zu kaufen, musste an
       einer Ausschreibung teilnehmen. „Bei der dritten Ausschreibung ging es um
       unser Haus.“ Burkan reichte die Unterlagen ein, lieh sich Geld für die
       Kaution und wurde abgewiesen. Nur wer in der Armee oder im jüdischen
       Untergrund vor der Staatsgründung gedient hatte oder nach Israel immigriert
       war, kam infrage. Burkan zog vor den obersten Gerichtshof und scheiterte
       erneut. Er könne das Haus nicht zurückkaufen, weil er jordanischer
       Staatsbürger ist, begründete Richter Chaim Cohen das Urteil. Außerdem war
       er Muslim, und aus Gründen „des öffentlichen Wohls“ sollten die Anhänger
       der verschiedenen Religionen in ihren eigenen Vierteln wohnen.
       
       ## Es war auch der Beginn einer Leidenszeit
       
       Der Sechstagekrieg – ein Erfolg für Israel? Euphorie war da, das Gefühl,
       nun noch mächtiger zu sein im eigenen Staat. Aber es war eben auch der
       Beginn einer Leidenszeit, die Wunden riss, die bis heute nicht verheilt
       sind.
       
       Ruthis Mann und Vater ihres Sohnes war tot, für Mohammed war das Haus der
       Eltern verloren. „Wir sitzen tief im Schlamm“, sagt Ruthi Langotsky.
       
       Burkans Eltern zogen zu ihm nach Beit Chanina, die Familien rückten
       zusammen. Wie früher in der Altstadt hatte jede nur ein Zimmer für sich,
       bis die Stadtverwaltung einen Anbau genehmigte. Gleich nebenan wohnt einer
       seiner Brüder, in dem winzigen Gärtchen dazwischen stehen Obstbäume.
       
       Inzwischen leben die Familien der Brüder Burkan isoliert vom arabischen
       Ostjerusalem, umgeben von jüdischen Siedlern aus Pisgat Seew, das sich
       immer weiter auf dem Land von Beit Chanina ausbreitet. Pisgat Seew gehört
       zu einem Ring jüdischer Wohnviertel, den die israelische Regierung um
       Ostjerusalem herum gezogen und so die Besatzung betoniert hat. 1980, 13
       Jahre nach der Eroberung, erklärte Israel Jerusalem samt dem Ostteil zur
       untrennbaren Hauptstadt. Völkerrechtlich ist das nicht anerkannt und eines
       der ungelösten Probleme infolge des Sechstagekriegs.
       
       Nüchtern denkt Burkan an die Zeit zurück, als Jordanien Ostjerusalem
       kontrollierte. „Damals gab es auch keine Demokratie, aber wer ein Haus
       besaß, der wusste, dass es seins war und niemand es ihm wegnehmen würde.“
       
       ## Zurückkehren in die Altstadt, eines Tages
       
       Sein Sohn Hamed verdient sich seinen Lebensunterhalt bei den Israelis. „Es
       kann keinen Frieden geben, wenn man Leuten ihr Haus wegnimmt und es anderen
       gibt“, sagt der 27-Jährige. Gern würde er das Haus, in dem sein Vater
       aufgewachsen ist, einmal von innen sehen. Ein paar Mal sind die beiden
       schon dort gewesen, von den heutigen Bewohnern aber immer wieder
       weggeschickt worden.
       
       „Die Altstadt ist das beste. Wer würde nicht dort leben wollen“, fragt
       Hamed. Er ist sicher, dass er und seine Familie eines Tages zurückkehren
       werden. In der Altstadt „fühlen wir, dass wir hierhergehören“. Vater und
       Sohn sind sich einig, dass die Besatzung enden muss, um Frieden und Recht
       für Juden und Palästinenser zu erreichen. „Unser Schicksal ist,
       zusammenzuleben“, sagt sein Vater. „Wir essen vom gleichen Teller. Solange
       es uns nicht gut geht, wird es ihnen nicht gut gehen und genauso
       umgekehrt.“
       
       Ruthis Sohn Eylam Langotsky gefällt der Begriff „Besatzung“ nicht, denn der
       würde „den Konflikt verewigen“. Jordanien habe angegriffen und Israel damit
       den Krieg aufgezwungen. „Schließlich verlangt Deutschland auch nicht
       Schlesien zurück.“ Dennoch ist sein „freiwilliges Diasporadasein“ in Berlin
       auch Folge des Sechstagekriegs, der Israel „immer enger und aggressiver“
       werden ließ. „Es war erdrückend, ich musste raus.“ Israel entwickele sich
       mehr und mehr in eine Richtung, die mit den Werten, mit denen er aufwuchs,
       nicht vereinbar seien.
       
       In Berlin änderte Eylam zum zweiten Mal seinen Namen, machte die
       Hebräisierung rückgängig und nennt sich heute Buchmann-Langotsky. Seine
       Familiengeschichte hat er angenommen, aber die Zukunft seines Staats bleibt
       brüchig.
       
       5 Jun 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Knaul
       
       ## TAGS
       
   DIR taz-Serie 50 Jahre Sechstagekrieg
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