# taz.de -- Die Geschichte Haitis: Ein Land ohne Chance
> Strom, Medikamente, Sicherheit - in Haiti fehlt es an allem, aber nicht
> erst seit dem Beben. Chronik der Tragödie eines Staates, der nie
> funktioniert hat.
IMG Bild: Zerstörte Kathedrale "Our Lady of Assumption".
Aus den Notizbüchern einer Reise nach Haiti: "Port-au-Prince. Das steilste
Stück der Straße, die hinauf zum Hotel Oloffson führt, wird seit Tagen von
einem Rohrbruch in einen Sturzbach verwandelt. Im Wasserwerk heißt es, es
gebe kein Geld. Nicht, um die Löhne zu bezahlen, und schon gar nicht für
Reparaturen. Wenigstens hat die Verschwendung des überall in der Stadt
fehlenden Wassers eine positive Seite: Der stinkende Müll, der sich
anderswo oft mehr als einen Meter hoch häuft, ist gründlich weggespült
worden. Unten im Zentrum sagen die Anwohner, die Müllabfuhr komme nur alle
paar Monate einmal vorbei und räume die Berge mit Spitzhacken weg."
Und an anderer Stelle: "Nachts ist es gefährlich, auf dieser Straße zu
gehen. Es gibt kein Licht. Die ganze Stadt ist ohne Strom. Man warnt vor
Überfällen. Aber man komme in der Regel mit dem Leben davon. Die
Strauchdiebe hätten meist keine Pistolen, sondern nur lange Messer und
Prügel."
Die Notizen stammen aus dem Jahr 2003. Damals gab es kaum Unruhen, keinen
Hurrikan und schon gar kein Erdbeben. Der Präsident wurde erst ein paar
Monate später gestürzt. Und doch funktionierte nichts. Seit der
Unabhängigkeit im Jahr 1804 hatte Haiti nie eine Chance, ein
funktionierendes Gemeinwesen zu entwickeln.
Einst nannte man Haiti die "Perle der Karibik", was in diesen Tagen nach
dem Beben gerne zitiert wird. Tatsächlich produzierte Haiti im 18.
Jahrhundert 60 Prozent des in Europa konsumierten Kaffees und 40 Prozent
des Zuckers. Eine Perle aber war Haiti nur für die Kolonialmacht Frankreich
und die wenigen weißen Siedler. Für die Masse der schwarzen Sklaven war
Haiti die Hölle. Bis zu 40.000 im Jahr wurden importiert, ihre
durchschnittliche Lebenserwartung lag bei knapp über 20 Jahren. Grausame
Strafen wie Pfählen und Vierteilen waren auch für kleine Vergehen die
Regel.
Entsprechend grausam schlugen die Schwarzen zurück, als sie, inspiriert von
der Französischen Revolution, Menschenrechte einforderten und ab 1791 in
einem zwölfjährigen Krieg die Unabhängigkeit erkämpften. Der
"Negeraufstand" aus dem Kinderlied fand nicht in Kuba statt, sondern in
Haiti. Tausende von Weißen wurden gemeuchelt, ihre Städte niedergebrannt.
Die erste unabhängige Republik Lateinamerikas entstieg am 1. Januar 1804
einem gigantischen Blutbad. Das Land lag in seiner Geburtsstunde in
Trümmern.
Danach gab es gleich Streit. Die ehemaligen Plantagenaufseher, meist
Mulatten, wollten die riesigen Monokulturen als Staatsbetriebe
weiterbetreiben, während die schwarzen ehemaligen Sklaven die Parzellen
aufteilen wollten. Die Masse der Schwarzen setzte sich durch - und legte
damit den Grundstein für spätere Katastrophen. Die kleinen Landstücke
reichen gerade zum Überleben. Holz war und ist der hauptsächliche
Energieträger. Die Kleinstbauern haben ihr Land entwaldet wie kein anderes
in der westlichen Hemisphäre. Die regelmäßigen starken Regenfällen führen
sofort zu verheerenden Überschwemmungen und Erdrutschen.
Die im Streit um das Wirtschaftsmodell unterlegene neue Elite zog in die
Städte und bildete dort eine kleine Oligarchie, die sich vor allem dem
Handel und der Verwaltung widmete. So ist das bis heute geblieben: Eine
kleine, aber reiche mulattische Oligarchie und eine Masse von armen
Schwarzen, die auf dem Land auf Miniparzellen lebt und in den Slums der
Städte.
Das eigentliche Problem aber war ein Knebelvertrag mit Frankreich, mit dem
sich die junge Republik 1825 die internationale Anerkennung erkaufte. Haiti
verpflichtete sich dazu, für die enteigneten Plantagen eine Entschädigung
von 150 Millionen Francs in Gold zu bezahlen, eine unvorstellbar hohe
Summe. Haiti nahm bei Banken in den USA, Frankreich und Deutschland Kredite
auf. Auch wenn der Betrag später auf 90 Millionen Francs reduziert wurde,
brauchte Haiti bis 1947, um diese Schulden abzustottern. Zinsen und Tilgung
fraßen 80 Prozent des Staatshaushalts auf. Selbst in wirtschaftlich
stabilen Zeiten blieb nichts übrig, um eine angemessene Infrastruktur
aufzubauen. Haiti wurde zum ersten Land, das in einer permanenten
Schuldenkrise steckte. Im Jahr 2003 verlangte der damalige Präsident
Jean-Bertrand Aristide - ohne Erfolg - die Rückerstattung der
Entschädigung. Nach heutiger Rechnung wären dies knapp 22 Milliarden
US-Dollar.
Die herrschende Elite merkte schnell, dass unter solchen Bedingungen kein
Staat zu machen war. Sie verlegte sich darauf, das wenige Geld, das dem
haitianischen Staat blieb, in die eigene Tasche zu leiten. Der Kampf um die
Pfründe wurde in Staatsstreichen ausgefochten, regelmäßig entlud sich die
Wut der frustrierten Massen in Aufständen. Als das Land 1915 wieder einmal
im Chaos zu versinken drohte, fürchteten die USA, Haiti könnte den
Schuldendienst einstellen. Marines besetzten das Land und verwalteten es
bis 1934 wie ein Militärprotektorat.
Die korruptesten unter den Potentaten waren die Duvaliers, die das Land von
1957 bis 1986 regierten. Der von den USA geförderte François (genannt "Papa
Doc") baute mit "den Tontons Macoutes" eine über dem Gesetz stehende
Privatmiliz auf, die zwischen 30.000 und 60.000 Menschen ermordete. Sein
Sohn Jean-Claude ("Baby Doc"), der das Amt 1971 erbte, war ein Playboy, der
sich dem schönen Leben und dem Ausplündern der Staatskasse widmete. Als er
nach langen Unruhen ins Exil nach Frankreich verschwand, nahm er
schätzungsweise 900 Millionen US-Dollar mit.
Die auf die Diktatur folgenden Wirren endeten in einer demokratischen Wahl,
die der linke Priester Jean-Bertrand Aristide gewann. 1991 wurde er in
einem blutigen Putsch gestürzt. Er ging in die USA ins Exil, zehntausende
seiner Anhänger folgten ihm auf Flößen übers Meer. Das war der US-Regierung
zu viel. Sie einigte sich mit Aristide: Wenn sich dieser den Vorgaben der
internationalen Finanzinstitute beuge, werde man ihn zurück an die Macht
bringen. 1994 war es so weit. 20.000 Marines besetzten Haiti.
Seither wird Haiti nominell links regiert. Auf Aristide folgte sein
Premierminister René Préval, dann wieder Aristide. Er eiferte nun früheren
Potentaten nach und kümmerte sich nicht um das Land, sondern nur noch um
sich selbst und seine Klientel. Im Jahr 2004 wurde er in einem von
Oligarchie und ehemaligen Militärs angezettelten Aufstand zum zweiten Mal
ins Exil gezwungen.
Diesmal schritt die US-Armee nicht ein. Nach der Flucht Aristides
versuchten UN-Blauhelme unter der Führung Brasiliens, das Land zu
stabilisieren. Ganz langsam ist ihnen das auch gelungen. Nach zwei Jahren
Übergangsregierung wurde der Pragmatiker Préval erneut zum Präsidenten
gewählt, allerdings ohne Mehrheit im Parlament. Dort hat noch immer die in
viele Kleinparteien zersplitterte Oligarchie das Sagen.
Mithilfe der Blauhelme wurde Haiti zwar ruhiger. Entwicklung und
Staatsbildung aber fand nicht statt. Noch immer leben vier Fünftel der
Haitianer in Armut, sind die Hälfte von ihnen Analphabeten und drei Viertel
arbeitslos. Geteerte und meist von Schlaglöchern übersäte Straßen gibt es
nur zwischen den großen Städten - der Großraum Port-au-Prince sowie
Cap-Haïtien, Gonaïves und Delmas -, alles andere sind Feldwege. Im ganzen
Land stehen gerade zwei Feuerwehrstationen.
Abseits der großen Städte findet man kaum einen Polizisten und schon gar
keinen Richter. Staatsangestellte, egal ob in der Justiz, in der
Verwaltung, in Krankenhäusern oder in Schulen und Universitäten, werden so
schlecht oder gar nicht bezahlt, dass sie gezwungen sind, anderen
Beschäftigungen nachzugehen und ihren eigentlichen Dienst zu
vernachlässigen. Oder sie lassen sich bestechen. Öffentliche Gebäude sind
so heruntergekommen, dass sie bisweilen auch ohne Erdbeben einstürzten.
Eine Bauaufsicht gibt es nicht. So stürzte im November 2008 in Petionville,
dem Stadtteil der Bessergestellten auf den Hügeln über Port-au-Prince, eine
Schule ein, 80 Kinder und Lehrer kamen dabei ums Leben.
Produziert wird in Haiti so gut wie nichts. Zudem verkauft das Land ein
bisschen Kaffee, Kakao und Mangos. Den Exporteinnahmen von gut einer halben
Milliarde US-Dollar im Jahr stehen Ausgaben von 1,8 Milliarden Dollar für
Importe gegenüber. Eine Tourismusindustrie, die der benachbarten
Dominikanischen Republik jährlich 2 Milliarden Dollar beschert, existiert
in Haiti nicht. Die bei weitem wichtigste Einnahmequelle Haitis sind die
Überweisungen aus der Diaspora. Die Auslandshaitianer schicken jährlich
rund 1 Milliarde Dollar nach Hause, etwa so viel, wie der gesamte
Staatshaushalt ausmacht. 80 Prozent der staatlichen Investitionen und rund
die Hälfte des Gesamtbudgets werden mit internationalen Krediten und
Hilfsgeldern finanziert. Kurz: Die Lage war schon elendig. Und dann kam das
Beben.
20 Jan 2010
## AUTOREN
DIR Toni Keppeler
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