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       # taz.de -- Die HTS in Syrien: Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
       
       > Dschihadistische Terrorgruppe oder gemäßigte Rebellenmiliz? Was ist das
       > für eine Gruppe, die Aleppo in einem Überraschungsangriff eingenommen
       > hat?
       
   IMG Bild: Erster Medienauftritt von Abu Mohammed al-Jolani, im Juli 2016
       
       Eine Armee aus insgesamt 13 bewaffneten Gruppen ist für die aktuelle
       Rebellenoffensive in Syrien verantwortlich. Sie verfügt nach eigenen
       Angaben über insgesamt 60.000 gut trainierte und gut ausgerüstete Kämpfer.
       Die mit Abstand wichtigste dieser Gruppen ist Hayat Tahrir al-Sham (HTS).
       Sie beherrscht seit 2017 das Rebellengebiet Idlib im Nordwesten Syriens.
       
       HTS wird in vielen Berichten als „dschihadistisch“ bezeichnet und ihre
       Wurzeln sind teilweise in diesem Bereich zu finden. Doch mit der Realität
       der Gegenwart hat das nichts zu tun. Die sunnitische Miliz macht keine
       religiösen Motive für ihren Kampf geltend und ruft ausdrücklich zum Schutz
       von Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften auf.
       
       In der [1][Aufstellung bestätigter und identifizierter ziviler Opfer des
       Syrienkrieges] seit 2011, das die führende syrische
       Menschenrechtsorganisation SNHR (Syrian Network for Human Rights) als
       Grundlage für die Vereinten Nationen und für die internationale
       Strafverfolgung syrischer Kriegsverbrecher führt, rangiert die HTS als
       Verantwortliche ganz hinten: mit 549 Getöteten zwischen 2011 und Juni 2024
       – von 231.495 insgesamt, die zu 87 Prozent auf das Konto des Assad-Regimes
       gehen.
       
       Die Gesamtzahl bildet nach Meinung von Experten allerdings nur einen
       Bruchteil der Realität ab; es wird von über 600.000 zivilen Toten im
       Syrienkrieg ausgegangen, über 500.000 davon Opfer des Assad-Regimes.
       
       ## HTS-Regierung über 4 Millionen Menschen
       
       HTS wurde 2017 als Bündnis mehrerer Milizen von Abu Mohammed al-Jolani
       gegründet, mit richtigem Namen Ahmed Hussein al-Shara, der zuvor die zum
       Al-Qaida-Netzwerk gehörende Al-Nusra-Front in Syriens Nordwestprovinz Idlib
       angeführt hatte. Mit der Gründung der HTS löste sich Jolani von al-Qaida
       und sagte der Terrororganisation ebenso wie dem „Islamischen Staat“ (IS)
       den Kampf an.
       
       Da er selbst zu Anschlägen in Russland als Antwort auf die massiven
       russischen Angriffe auf Zivilisten in Syrien aufgerufen hatte, bezeichnet
       Russland ihn von Anfang an als Terrorist. 2018 übernahmen die USA diese
       Bezeichnung – was sie nicht daran hinderte, gemeinsam mit HTS den IS zu
       bekämpfen. Der flüchtige IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi wurde am 26.
       Oktober 2019 von US-Spezialkräften im Gebiet Idlib aufgespürt und getötet,
       in Zusammenarbeit mit HTS.
       
       Die HTS hat in Idlib eine Regierungsstruktur namens „Syria Salvation
       Government“ (SSG) aufgestellt, die die rund 4 Millionen Bewohner des
       Rebellengebiets zivil verwaltet und auch als Ansprechpartner für die
       zahlreich in der Region tätigen internationalen Hilfswerke fungiert. Die
       Miliz selbst kontrolliert die Grenzübergänge zur Türkei, über die
       internationale humanitäre Hilfe und Handelsware – sowohl reguläre als auch
       geschmuggelte – Idlib erreicht; darunter mutmaßlich auch militärische
       Ausrüstung, die auf dem Schwarzmarkt in gigantischen Mengen verfügbar ist.
       
       Während einzelne HTS-Führer, darunter Jolani selbst, immer noch als
       überzeugte konservative Salafisten gelten, grenzt sich die Gruppe rigoros
       von Dschihadisten wie dem IS oder auch vom fundamentalistischen
       Staatsverständnis Saudi-Arabiens oder der afghanischen Taliban ab. Es gibt
       weder eine Verschleierungspflicht für Frauen, noch sind diese von höherer
       Bildung ausgeschlossen. Für das [2][Centre for Strategic and International
       Studies (CSIS)] in den USA ist HTS „eher ein autoritärer Protostaat als die
       transnationale islamistische Miliz, die es einmal war“.
       
       ## Angriff mit Ansage
       
       Die HTS hat sich nicht nur von transnationalen bewaffneten islamistischen
       Strukturen losgesagt, sondern auch von den Versuchen der Türkei, Syriens
       Rebellen unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Türkei kontrolliert und
       bombardiert immer wieder mehrere nordsyrische Grenzgebiete, die sie als
       Pufferzone zum kurdischen Autonomiestaat „Rojava“ bezeichnet. Hier herrscht
       die mit der türkischen PKK-Guerilla verbündete syrische Kurdenguerilla YPG,
       die von den USA unterstützt wird. Unter der Kontrolle der Türkei ist die
       „Syrische Nationalarmee“ (SNA) als Bündnis türkeitreuer
       Rebellenorganisationen entstanden, dem sich die HTS in Idlib aber nicht
       angeschlossen hat.
       
       Dennoch verdankt das Rebellengebiet von Idlib, in dem mehr Menschen leben
       als im flächenmäßig viel größeren „Rojava“, seine Existenz dem
       militärischen Schutz der Türkei. Immer wieder hat Syriens Assad-Regime
       mithilfe Russlands Rebellen aus anderen Landesteilen erst nach Idlib
       evakuiert und sie dann mitsamt der Zivilbevölkerung bombardiert: Ende 2016
       aus Aleppo, danach aus den anderen Rebellengebieten im Westen Syriens.
       
       Eine Reihe von Regierungsangriffen 2019/20 verkleinerte das Rebellengebiet
       von Idlib immer weiter, bis zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen der
       Türkei und Russland im März 2020. Trotzdem hat Russland in den Jahren
       danach Idlib immer wieder bombardiert.
       
       Als Reaktion darauf hat die HTS unter Jolanis Führung die vielen Milizen
       und Rebellen auf ihrem Gebiet neu aufgestellt und daraus eine
       schlagkräftige geeinte Armee geschmiedet. Eine HTS-Militärakademie bietet
       militärische Ausbildung nach dem Standard regulärer Truppen an und entlässt
       seit 2020 regelmäßig Absolventen in die HTS-Eliteeinheit „Rote Liga“; die
       Organisation zählt nach einem [3][Bericht des US-amerikanischen Wilson
       Centre] elf Militäreinheiten und hält Manöver ab.
       
       Dass diese neue Armee irgendwann losschlagen würde, war nur eine Frage der
       Zeit. Bei einer [4][Rede vor seinen Kadern im November 2023] erklärte
       Jolani, die „syrische Revolution“ sei jetzt „in ihrem besten Zustand seit
       2012“. Er sagte: „Es fehlt nur wenig und wir erreichen Aleppo.“
       
       1 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://snhr.org/blog/2024/08/30/civilian-death-toll/
   DIR [2] https://www.csis.org/blogs/examining-extremism/examining-extremism-hayat-tahrir-al-sham-hts
   DIR [3] https://www.wilsoncenter.org/article/hts-evolution-jihadist-group
   DIR [4] https://x.com/BroderickM_/status/1862598027610919201
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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