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       # taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Wider alle Essenzen
       
       > Marco Reichert malt mit der Malmaschine, Brigitte Waldach fragt, wie wir
       > Geschichte verstehen, und Juan Pablo Echeverri sprengte das
       > Selbstportrait.
       
   IMG Bild: 24 Jahre Fotoautomat: Juan Pablo Echeverri, „miss fotojapón“ (#3 2023), 1998-2022 (Detail)
       
       Die ovale Form der gewellten schwarzen Linien erweckt den Eindruck eines
       enorm vergrößerten Daumenabdrucks oder eines maskierten, verschleierten
       Gesichts in Großaufnahme. Tatsächlich betrachtet man auf knapp zwei Dutzend
       Leinwänden von Marco Reichert die Variationen zweier Abstraktionen, was in
       ihren späteren Abwandlungen zunächst nur bedingt zu erkennen ist.
       
       Die schweren farbsatten schwarzen Schleifen, durch die da und dort vom
       Malgrund ein Blau, Grün oder Orange aufleuchtet, hängen am Kopfende eines
       Saals in der Bergmannstraße, dessen ursprüngliche Funktion als Kreuzberger
       Hinterhofkino, seine auffällige langgestreckte Form erklärt. Jetzt ist dort
       die Galerie [1][HOTO] (für home to artists) zu Hause und zeigt die
       Ausstellung „Digital is Much Better“ von Marco Reichert, der mit den
       Betreibern Leopold Hornung und Antonio Rilling seit langem verbunden ist.
       
       Dem Titel der Schau konträr scheint freilich eine Installation in der Mitte
       des Saals, die aus einem grauen Schaltkasten besteht, wie er einem auf der
       Straße auffällt, wenn die Telefonfuzzis am Arbeiten sind und einer mehr als
       drei Meter langen Schiene, auf der ein schwarzer Arm vor- und zurückfährt,
       wobei er die Anarchistenflagge mit dem weißen A im weißen Kreis schwenkt.
       Allerdings steht da noch „analog“ auf der Flagge. Was ist nun besser?
       
       Besser ist natürlich beides. Da sind die schon erwähnten malerischen
       Abstraktionen, deren organische Form Marco Reichert aufgreift, teils
       löscht, teils digital überschreibt. Diese Markierungen werden von einer vom
       Künstler gehackten und zur Malmaschine umgebauten und mit jeder Menge
       Datensätze und Algorithmen gefütterten CNC-Fräsmaschine ausgeführt. Marco
       Reichert studierte Informatik, bevor an der Kunsthochschule Weißensee
       seinen Abschluss machte. Die „analog“-Installation stellt eine Art Modell
       der Apparatur dar.
       
       Auf den Leinwänden ist gleichwohl sehr deutlich das Eingreifen des
       Künstlers zu beobachten, etwa in den mit spiegelndem Firnis behandelten
       Flächen. Insgesamt dominiert der malerische Eindruck, wobei Computerkunst
       und Elemente von Graffiti coole Zeitgenossenschaft versichern.
       
       ## Zeichnen als Denkform
       
       Daten spielen auch eine entscheidende Rolle in der Serie großer Zeichnungen
       „History now“, die der Ausstellung in der [2][Galerie Pankow] mit aktuellen
       Arbeiten von Brigitte Waldach den Titel gibt. Er führt in dem von
       Geschichte besessenen Denken der Moderne unweigerlich zu schwierigen
       Fragen. Wie meinen wir Geschichte konkret zu erleben? Wie erfahren wir sie,
       medial vermittelt, gerne politisch instrumentalisiert? Selbst, wenn das
       Krieg meint, wie wir zur Zeit leidvoll feststellen. Brigitte Waldach
       freilich hat sich dort umgeschaut, wo der Streit um die Deutungshoheit über
       geschichtliche Ereignisse und Figuren noch immer ein Streit mit Fakten und
       begründeten Argumenten ist, bei Wikipedia.
       
       Bekanntlich können die Artikel der Online-Enzyklopädie von jeder und jedem
       bearbeitet werden, eine Möglichkeit, die Nutzer gerne und oft wahrnehmen,
       besonders bei einer Reihe zentraler Themenfelder wie Religion, Ideologie,
       Politik, Wissenschaft oder Kunst und Kultur, die auffällig oft überarbeitet
       werden. Diese Bearbeitungen der Beiträge zu Christentum,
       Nationalsozialismus, Terrorismus, Philosophie oder Psychoanalyse hat
       Brigitte Waldach über sechs Monate hinweg beobachtet.
       
       Um sie dann wie es ihre Art, also ihre Kunst ist, auf großen weißen
       Papierbögen zu notieren, frei um die Figurenzeichnung von Jesus, Hitler,
       Mitglieder der RAF oder Hannah Arendt flottierend, also Repräsentanten des
       jeweiligen Themengebiets. Während die frühesten Einträge ganz blass auf dem
       Papier erscheinen, wie im Palimpsest ausradiert durch die nachfolgenden
       Korrekturen, sind diese desto kräftiger und dunkler auf das Ballt gesetzt,
       je aktueller sie sind.
       
       Brigitte Waldach ist Zeichnerin. Ausgerechnet die Meisterschülerin von
       Georg Baselitz. Aber Brigitte Waldach ist eben Zeichnerin, weil sie
       Denkerin ist. Zeichnen interessiert Waldach als diskursive, nicht nur
       ästhetische Praxis. Die Künstlerin setzt sich mit der Zeichnung als
       Ausdrucksmittel der Entwicklung und Erprobung gedanklicher Konstruktionen
       auseinander, nutzt sie als genuines Medium der Reflexion. Und diesen
       Prozess vollzieht sie nicht klein klein, sondern im großen Maßstab. Ihre
       Blätter messen stets 190 x 140 cm, wobei sie die Arbeiten oft als Diptychen
       und Triptychen konzipiert, weshalb sie dann, grob überschlagen, gerne zwei
       mal drei Meter messen. Es braucht Hallen um beispielsweise ihren Zyklus der
       Goldberg-Variationen zeigen zu können.
       
       Waldachs Bach-Zyklus mit zehn Triptychen und zwei Einzelarbeiten schließt
       mit dem Blatt „Aria-Ende“, das in Pankow zu sehen ist und auf dem die
       Notation von sämtlichen 30 Variationen als weiße Freilassungen auf dem mit
       Graphit überzogenen Blatt hervortreten und ein anschauliches Bild dessen zu
       geben scheinen, was man White Noise nennt. Doch die Künstlerin hat einen
       befreundeten Musiker beauftragt diese verdichtete Partitur in einer
       Soundinstallation akustisch darzustellen und dabei stellt sich heraus: es
       hört sich gut an und keineswegs nach White Noise.
       
       „Plasma“, dargestellt als weiß flimmernder Regen und fluide Fläche, ist ein
       weiteres Großformat in der gleichen Technik, die verlangt, das ganze 190 x
       280 cm messende Papierflache mit dem Graphitstift auszumalen, bis auf die
       weißen Freilassungen. Der Blick ins Universum, narrativ unterstützt durch
       Text-Fragmente aus der biblischen Genesis, ist ein Blick in ein
       ästhetisches Universum, einen Anthrazit glänzenden Kosmos zeitgenössischer
       Zeichnung.
       
       ## Identität, 8000 Mal anders
       
       Meistenteils analog, im Zeitalter des digitalen Selfie also noch einmal
       ganz besonders interessant ist das Werk von Juan Pablo Echeverri. Denn der
       1978 in Bogota, Kolumbien geborene Künstler, machte sich schon mit analogen
       Mitteln, dem Fotoautomaten oder dem Besuch eines Passbildstudios, selbst
       zum Bild. Diesen Vorgang, sich zu fotografieren, keineswegs in der Absicht
       eines simplen Selbstporträts, sondern in der, ein Bild zu schaffen, auf dem
       man sich selbst zum Bild gemacht hat, sieht der Kunsthistoriker Wolfgang
       Ullrich ein Charakteristikum des Selfie.
       
       Dass Juan Pablo Echeverri (1978-2022) von Beginn an diesen Werkansatz
       verfolgte, hängt mit seinem aktivistischen Anliegen zusammen, sich einer
       reduzierten, statischen und essentialistischen Lesart von Identität zu
       widersetzten. Davon spricht auch der Titel „Identidad Perdida“ der
       Ausstellung bei [3][Between Bridges], die an den Künstler erinnert, der
       letztes Jahr auf einer Reise tragischerweise an Malaria erkrankte und
       starb. Sich selbst zum Bild zu machen erlaubte es Echeverri mit einer
       Vielfalt an Ausdrucksformen von Identität und Geschlecht zu
       experimentieren. Er dokumentierte dies, indem er jeden Tag ein Porträt von
       sich in einer Fotokabine aufnahm. Die so entstandenen Passbilder sammelte
       er über 24 Jahre hinweg.
       
       Unter dem Titel „miss fotojapón“ – unter anderem ein Wortspiel aus dem
       Homophon miss/mis (spanisch mein) und der kolumbianischen Geschäftskette
       Foto Japón – kam so ein Konvolut von über 8000 Bildern zusammen. Drei
       Bildtafeln im Format von 100 x 100 cm bei Between Bridges zeigen drei
       mögliche Zusammenstellungen von je 400 Bildern. Eines der Mittel, mit dem
       Echeverri sein sich stets wandelndes Selbstbild kreierte, waren Frisur,
       Haarlängen und Haarfarben. Auf „MascuLady“ (2006), einem Straßenaufsteller
       wie er in Südamerika vor Friseurgeschäften zu finden ist, zeigt der
       Künstler Frisuren in der damals populären, als metrosexuell gelabelten
       Ästhetik.
       
       Die besondere Bedeutung von Frisuren als Zeichen für die Zugehörigkeit zu
       Subkulturen und Bewegungen, machte Joan Pablo Echeverri in einer eintägigen
       Performance mit neun fotografischen Stationen deutlich, während seine Haare
       immer wieder neu gefärbt und gleichzeitig stetig gekürzt und schließlich
       ganz abrasiert wurden. „MUTILady“ (2003) ist an der Fassade plakatiert. Mit
       wie viel Ideenreichtum, Wissen um kulturelle und popkulturelle Codes, Lust
       am Spiel – mehr als an der simplen Provokation – und gleichzeitig mit wie
       viel ernsthafter Überlegung und Arbeit der Künstler sein hochpolitisches
       Anliegen in ein zugleich brillantes ästhetisches Ereignis überführte,
       verdeutlichen einmal mehr seine Videos, die im Untergeschoß laufen und von
       denen man kein einziges versäumen darf.
       
       3 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://hotoart.de/about
   DIR [2] https://galerie-pankow.de/veranstaltungen/brigitte-waldach-history-now/
   DIR [3] https://www.betweenbridges.net/de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
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