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       # taz.de -- Die Nahrung der Philosophen: Erst das Fressen, dann die Moral
       
       > Entschlüpften dem Vegetarier Pythagoras andere Gedanken als dem
       > Wurstfetischisten Sartre? Wirkt der Bauch auf den Kopf? Und wie dachten
       > die Philosophen selbst darüber?
       
   IMG Bild: Gut oder böse? Hauptsache es schmeckt.
       
       Geht es nach Ludwig Feuerbach, dann "ist der Mensch, was er isst". Für ihn
       ist Nahrung der "Anfang der Weisheit". Wer nichts Ordentliches esse, könne
       auch nichts Ordentliches denken. Ein Nahrungsmittel stößt ihm dabei
       besonders auf: die Kartoffel. Sie mache die Deutschen zu kraftlosen und
       autoritätshörigen Wesen. Auch für Friedrich Nietzsche stand fest, dass der
       "Mangel an Vernunft in der Küche" die Entwicklung des Menschen lange
       behinderte. Bezüglich seiner Landsleute schimpfte er: Die deutsche Küche,
       speziell "die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse,
       die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer", führe zu "betrübten
       Eingeweiden", aus der die Herkunft des deutschen Geistes zu verstehen sei.
       
       Der Philosoph und die Küche - eine innige Beziehung, möchte man meinen.
       Doch das Verhältnis hat in der Geschichte der Philosophie eine gehörige
       Schieflage. Der Körper galt von der Antike bis ins 19. Jahrhundert als
       materielle Last. Sogar richtig lästig war Platon der hungrige Bauch, da er
       ihn vom Denken abhielt. Schon Sokrates war das Essen und Trinken eines
       Philosophen nicht würdig genug. Die Aussage verstört, wenn man an das
       Symposion denkt, dem ein geselliges Essen voranging. Feuerbach war es, der
       energisch mit dieser Denktradition brach: "Welcher Verstoß gegen die gute
       Sitte, auf dem Katheder der Philosophie über den Materialismus aus allen
       Leibeskräften zu schimpfen, dafür aber am table dhôte von ganzem Herzen und
       von ganzer Seele dem Materialismus im gemeinsten Sinne zu huldigen!"
       
       Vor Feuerbach vermutete schon Georg Christoph Lichtenberg, dass Speisen
       einen großen Einfluss auf die Menschen haben: "Wer weiß, ob wir nicht einer
       gut gekochten Suppe die Luftpumpe und einer schlechten den Krieg oft zu
       verdanken haben." Wie groß diese Wirkung tatsächlich ist, beantwortet die
       Ernährungswissenschaft. Zwar weiß sie noch längst nicht alles, doch ob
       Engländer wegen ihrer Vorliebe für Steaks "grausam und blutrünstig" seien,
       wovon Jean-Jacques Rousseau überzeugt war, kann sie mit einem sicheren Nein
       beantworten.
       
       Auch ob zuerst einmal das Fressen komme und dann erst die Moral (Brecht)
       oder bessere Speisen zu höherer Moral führen (Feuerbach) ist schwer zu
       klären. Sicher ist, wer durch Mangel- oder Fehlernährung einen niedrigen
       Serotoninspiegel aufweist, ist in der Regel aggressiver. Der Kyniker
       Diogenes von Sinope meinte, dass aus einem, der Gerstenbrot esse, noch nie
       ein Tyrann geworden sei, "wohl aber aus einem, der üppig tafelt". Die
       Antithese zu Brecht lädt zum Weiterspinnen ein: War Arthur Schopenhauer,
       der üppige Mahlzeiten verschlang, also ein tyrannischer Mensch, dem
       ebensolche Ideen in den Kopf stiegen?
       
       Wissenschaftlich gesehen ginge das zu weit, doch nicht nur Diogenes, auch
       Schopenhauer selbst hielt die Askese für ein probates Mittel gegen
       schädliche Egomanie. Dass er selbst sich nicht kasteite, dafür hatte der
       Philosoph eine schlüssige Erklärung, die auch wissenschaftlich gestützt
       ist: "Wer viel denke, müsse auch viel essen." Schopenhauer aß mit einer
       "wahren Gier" und war ein launenhafter Tischgenosse, solange er seinen
       Hunger nicht gestillt hatte. Wer ihn bei seinen Mahlzeiten im Frankfurter
       Nobelhotel "Englischer Hof" störte, wurde vom Tisch vertrieben. Erst nach
       dem Essen war er für Gespräche offen.
       
       Das Wechselspiel von Nahrung und Befindlichkeit erforscht die Wissenschaft
       in beide Richtungen. Dass Schopenhauer erst einmal kräftig essen musste,
       bevor er redselig wurde, liegt vermutlich daran, dass er wegen des
       Verzichts auf Frühstück "unterzuckert" war. Was in der Tat schlecht für die
       Gemütslage ist, denn erst Kohlenhydrate führen zu einer erhöhten
       Serotoninausschüttung im Gehirn. Aktiviert wurde das "Glückshormon" in
       Schopenhauer wohl durch sein geliebtes Chaudeau, einem süßen Weinschaum aus
       Zucker, Eigelb und Weißwein, das er zum Nachtisch mit dem Suppenlöffel
       verputzte. Neben den Inhaltsstoffen sind auch soziale Gründe
       verantwortlich, was und wie wir essen. Immanuel Kant aß zwar nur einmal am
       Tag, dafür aber ausgiebig und immer in Gesellschaft illustrer Gäste.
       
       Studien zeigen, dass die Menge der aufgenommenen Nahrung mit der Anzahl der
       Tischgenossen steigt. In einer Dreiergruppe um fast 50 Prozent, bei sieben
       oder mehr Personen um beinahe 100 Prozent. Kant hatte zu seiner
       Mittagstafel, die drei oder vier Stunden dauern konnte, immer bis zu sechs
       Personen eingeladen. Gesund war sein einmaliger Mittagsmarathon aus
       heutiger Sicht nicht.
       
       Jean-Paul Sartre hatte sein Leben lang eine Schwäche für Deftiges.
       Schweinebraten etwa, den ihm seine elsässische Mutter jeden Sonntag kochte.
       Was Sartre als Leckerbissen wahrnahm, hätte im Vegetarier Pythagoras wohl
       Ekel hervorgerufen. Das zeigt, dass unsere kulinarischen Sinne sozialisiert
       sind. Auch andere Empfindungen wirken auf das Essverhalten. "An meinen
       Gaumen habe ich immer nur gedacht, wenn mein Herz müßig war", erinnert sich
       Rousseau in seiner Autobiografie. Seine Selbstbeobachtung deckt sich mit
       der einer Studie, nach der intensive Emotionen das Essverhalten im
       Allgemeinen hemmen. Sind Gefühle nicht ganz so intensiv, dann steigert
       Freude den Appetit, wogegen Trauer ihn dämpft. Negative Gefühle wie
       Einsamkeit und Langeweile können auch zum Essen verleiten. War das der
       Grund, warum Nietzsche sich "öfters krank" aß, wenn ihm seine Mutter
       Pfefferkuchen schickte? Schon möglich, denn Nahrung als Seelentröster kann
       selbst auferlegte, vernünftige Schranken ohne Weiteres durchbrechen.
       
       Ein Lieblingsgericht von Kant war Kabeljau, der wie alle Fische in der
       Brainfood-Bewegung hoch im Kurs steht. Dass sich die Art der Nahrung auf
       die Denkleistung auswirkt, ist nachgewiesen. Daraus den Schluss ziehen,
       Speisen beeinflussten damit auch, was wir denken, darf man aber nicht.
       Auch, wenn es bei einigen Philosophen den Anschein hat, als würde ihre
       Philosophie mit dem Essen übereinstimmen. Rousseau kritisierte die
       verworrenen Sitten der Kultur und sah in der Natur das unverdorbene Ideal.
       Sein Lieblingsmahl passte dementsprechend in einen Picknickkorb:
       Sauermilch, Brot, Käse und Obst. Sartre dagegen war von Grünzeug,
       natürlichen und rohen Speisen nicht sonderlich angetan, was sich in seiner
       Philosophie widerspiegelt. Weder Natur noch Natürlichkeit sind für ihn
       positiv besetzt.
       
       Rousseau mochte darüber hinaus auch Wein, der in Maßen genossen zwar
       Stimmung und Kreativität verbessert, aber in großer Menge äußerst negativ
       auf das Denken wirkt. Alkohol ist Körpergift und Nervenzellenkiller. Einer,
       der zumindest ab und zu einen über den Durst trank, war Feuerbach, der
       seine "diätische Lebensweise" nur unterbrach, um in sein "System von Ruhe
       und Ordnung" eine "wohltätige Revolution" hineinzubringen. Sartre dagegen
       war nicht nur dem Alkohol, sondern auch chemischen Aufputschmitteln sehr
       zugetan, von denen er sich eine Steigerung seiner Denk- und
       Schreibproduktivität versprach. Aus medizinischer Sicht ein Verstoß gegen
       das eigene Wohl, doch der Philosoph und Schriftsteller Sartre sah das ganz
       anders: Wozu solle man auf seine Gesundheit achten, jeder müsse einmal
       sterben!
       
       Ob Schlemmer oder Asketen. Die großen Philosophen waren unbeirrt,
       unangepasst und eigensinnig. Das gilt für ihre Werke wie fürs Essen. Manch
       gastrosophische Anschauung erwies sich als unzutreffend, andere dagegen
       haben nichts von ihrem Esprit verloren. Wie jene des Immanuel Kant: "Gut
       Essen und Trinken ist die wahre Metaphysik des Lebens."
       
       11 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Ebenhöh
       
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   DIR Kolumne Ethikrat
   DIR Philosophie
       
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