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       # taz.de -- Die These: Nie mehr SPD
       
       > Unsere Autorin hat über Jahrzehnte sozialdemokratisch gewählt. Schon um
       > ihrem Vater eins auszuwischen. Aber nun reicht es ihr endgültig.
       
   IMG Bild: Wenn kein Champagner da ist, tut es auch Bier – Gerhard Schröder bei einem Wahlkampfauftritt 2005
       
       Meine erste Annäherung an die SPD war eine kleine Rebellion. Ich steckte
       damals mitten in der Pubertät, als mein Vater sich entschied, in die
       Politik zu gehen. Er war viele Jahre Kreisdirektor gewesen, nun wollte er
       für das Amt des Regionspräsidenten in den Wahlkampf ziehen. Aber nicht für
       die SPD, wie ich es mir gewünscht hätte, sondern für die CDU.
       
       Er hatte schon als Schüler ein Problem mit linken Gruppierungen wie dem
       Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus gehabt, und so gründete er in
       der Oberstufe einen Ableger der Jungen Union. Später studierte er Jura an
       einer altehrwürdigen Universität, danach arbeitete er in der Justiz, der
       Verwaltung – und jetzt also dieser neue Schritt.
       
       Keine einfache Entscheidung, auch für die Familie nicht. Ich bekam jedes
       Mal ein heißes, brennendes Gesicht, wenn er mich mit seinem Wahlkampfbus
       von der Schule abholte. Nicht weil ich mich nicht gerne von ihm chauffieren
       ließ, sondern weil der Bus mit seinem riesigen Konterfei bedruckt war, dazu
       das Motto „In der Region zu Hause“. Das war für mich als Teenagerin
       natürlich schwer auszuhalten, also rebellierte ich mit allem, was mir als
       wohlerzogenem Bürgerkind zur Verfügung stand: Mit der Punkband [1][WIZO]
       auf den Ohren und einer hochgegelten Super-Sonic-Frisur, die zumindest das
       heile Familienbild beim Fotoshooting mit der Lokalpresse empfindlich
       störte.
       
       Mein Vater erlitt schließlich eine Wahlniederlage, kurz danach
       verabschiedete er sich aus der Politik. Doch mein Umfeld blieb politisch
       und färbte sich immer stärker rot. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass
       mein damaliger Freund mich in einen SPD-Haushalt einführte. Seine Mutter
       war langjährige Genossin, gleichzeitig war sie die coolste Frau, die ich
       bis dato kannte. Alleinerziehend, berufstätig und [2][Hannes-Wader-Fan].
       
       ## Mit gefährlichem Halbwissen
       
       Die SPD hatte es mir also schon als Jugendlicher angetan. Mit gefährlichem
       Halbwissen interpretierte ich von Klassenkampf bis zu gelebter
       Gleichberechtigung alles Mögliche in sie hinein. In meiner Vorstellung
       waren die Roten die Guten, schon allein deshalb, weil sie in vielem das
       Gegenteil von dem zu verkörpern schienen, womit ich aufgewachsen war.
       
       Doch dann erlebte ich meine erste, große Enttäuschung mit der SPD in
       Gestalt eines sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten. Er war der
       erste, dem ich wahrhaftig begegnet bin. Wenn er einen Raum betrat, duckten
       sich alle weg, seine autoritäre Aura fand ich einschüchternd. Hinzu kam
       eine gewisse Vorliebe für teuren Wein und Delikatessen, daneben wirkte mein
       wesentlich bescheidenerer, bodenständiger Vater wie der viel größere
       Sozialdemokrat.
       
       Aber: Die Partei der Altnazis – so nannten meine linksalternativen
       Freund:innen die CDU – konnte und wollte ich nicht wählen, also wählte
       ich nach meinem 18. Geburtstag so, wie wir es uns ausgeknobelt hatten:
       strategisch. Das erste Kreuzchen bekam die SPD, weil die damals einfach die
       größere Chance auf ein Direktmandat hatte.
       
       Das zweite Kreuzchen ging an die Grünen, damit auch von denen möglichst
       viele ins Parlament einzogen. Dass ich der SPD ideologisch nahestand, hatte
       mir übrigens auch der Wahl-O-Mat ausgespuckt, und so stimmte ich gutgläubig
       für einen Spitzenkandidaten, der seine Ehefrauen wechselte wie andere ihre
       Autos. Und der in der zweiten Legislaturperiode – für die ich ja nun
       mitverantwortlich war – mit seiner Agenda 2010 exorbitanten Sozialabbau
       betrieb, unter dem bis heute viele leiden.
       
       ## SPD aka Sammelbecken für skrupellose Machtpolitiker
       
       Meine Güte war das ein großmäuliger Mann, denke ich auch heute wieder, wenn
       ich mir seinen verblendeten [3][Auftritt] nach der Wahlschlappe gegen
       Angela Merkel angucke. Dieser Mann war, da muss ich so manchem
       Konservativen recht geben, wirklich mit Haut und Haaren
       „Champagnersozialist“.
       
       Und ich? Ich bin bis heute maßlos enttäuscht davon, dass selbst die SPD,
       die im Laufe ihrer Geschichte ja so viel für die Arbeiter:innen- und
       Frauenrechte getan hat, zugleich ein solches Sammelbecken für skrupellose,
       wirtschaftsaffine Machtpolitiker geworden ist. Oder war sie das schon
       immer, nur hatte ich es nicht mitbekommen, weil ich mich weder in der
       Schule noch im Studium wirklich intensiv mit ihr auseinandergesetzt hatte?
       
       Auch heute fühle ich mich jedes Mal schlecht, wenn ich pauschal über
       Parteien urteilen soll – außer, es ist die AfD. Aber leider fällt mir schon
       länger auf, dass die SPD keine gute Figur macht. Wo sind denn all die
       Politiker:innen mit Format, die Clara Zetkins und Regine Hildebrandts
       unserer Zeit, um ausnahmsweise auch mal auf die bedeutsamen Frauen der
       SPD-Geschichte hinzuweisen? Was ja nicht gerade oft vorkommt. Und wenn es
       sie denn gibt: In welcher Reihe haben sie sich versteckt?
       
       Selbst ein Kevin Kühnert, der ja viele vernünftige Ansichten hat, scheint,
       seit er zu den „Erwachsenen“ übergelaufen ist, irgendwie gesetzter,
       unscheinbarer geworden zu sein. Dafür bleiben andere durch ihr
       unangemessenes Verhalten in Erinnerung. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel zum
       Beispiel, der die Ausbeutung der Fleischindustriearbeiter:innen als
       Wirtschaftsminister noch kritisiert hatte und sich nach dem Ende seiner
       politischen Laufbahn ausgerechnet von Corona-Tönnies als Berater engagieren
       und fürstlich entlohnen ließ.
       
       ## Der Rücktritt von Andrea Nahles
       
       Oder Familienministerin Franziska Giffey, die trotz der eventuellen
       Aberkennung ihres Doktortitels als Regierende Bürgermeisterin ins Rote
       Rathaus von Berlin einziehen will. Ach ja, und dann wäre da noch diese
       höchst pikante Angelegenheit rund um die mecklenburg-vorpommersche
       Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Nord Stream 2, an deren Bau ja
       auch ein gewisser Gerhard Schröder nicht ganz unbeteiligt ist.
       
       Alles äußerst unschön! Aber wie gesagt, die SPD in meinem Kopf und die SPD
       in der Realität waren schon immer zwei grundverschiedene Dinge, von denen
       die Letztere in den drei großen Koalitionen als kleiner Bündnispartner an
       Angela Merkels Seite mehr und mehr verblasste, bis sie irgendwann fast
       unsichtbar geworden ist. Trotzdem wählte ich sie – aus Mangel an
       Alternativen.
       
       Doch dann kam der Rücktritt von Andrea Nahles, dessen [4][Begleitmusik]
       mich bis heute verstört. Zum einen, weil sie die erste Parteichefin in der
       Geschichte der SPD war, nach der verpatzten Europawahl dann aber bitte auch
       schnell wieder gehen sollte – so, als ob sie allein dafür verantwortlich
       gewesen wäre. Zum anderen irritierte mich, dass sie viele ihrer
       Genoss:innen wohl auch wegen ihres rüden Tons nicht mehr unterstützen
       wollten. Dabei wirkte Nahles – seien wir mal ehrlich – doch gar nicht so
       viel anders als der ein oder andere männliche Genosse. Aber wenn eine Frau
       mal etwas vulgärer wird, geht das gar nicht, schon klar.
       
       Und jetzt will ein so dröger Pragmatiker wie Olaf Scholz, der damals ja
       auch die unglückselige Agenda 2010 mit installiert hat, wirklich aus dem
       Merkel’schen Schatten treten und als SPD-Kanzlerkandidat für Aufbruch und
       Erneuerung stehen? Es hilft auch nicht, dass Scholz in seinem kürzlich
       vorgestellten Wahlprogramm für eine längst überfällige Erhöhung des
       Mindestlohns eintritt, für größere Umverteilung und mehr Klimaschutz.
       
       ## Kollektives Wegschnarchen beim Wahlkampf
       
       Denn das tun andere Parteien auch – und sie tun es mit mehr Esprit. Gegen
       ein kollektives Wegschnarchen beim SPD-Wahlkampf können auch die vielen
       Jusos und Menschen mit Migrationsgeschichte nichts mehr ausrichten, die von
       der SPD als Direktkandidat:innen aufgestellt worden sind. Sollen die
       wirklich so lange in ihren Parlamentssitzen versauern, bis auch aus ihnen
       das letzte bisschen Leben gewichen ist?
       
       Da hätte man doch lieber mal junge Talente ins Spiel bringen können. Wenn
       ein 34-jähriger Maturant wie Sebastian Kurz einen Staat lenken „kann“, dann
       kann das eine 45-jährige gestandene Geschäftsfrau wie Serpil Midyatli,
       stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, schon lange und tausendmal
       besser – und das sage ich ohne Ironie.
       
       Stattdessen schraubt zum Auftakt des SPD-Parteitags, so sah ich es im
       Onlinestream, bloß ein junger DJ betont lässig an seinem Turntable herum.
       Schon klar, man braucht die Jungen, Ungestümen, Kreativen – aber nur, um
       sich mit ihnen zu schmücken. Und als ich sowieso schon die Nase voll habe,
       fällt mein Blick auf eine Wahlwerbung der SPD in meiner eigenen Zeitung: Da
       haben sich die Kampagnenverantwortlichen doch tatsächlich eine
       überdimensionale Deutschlandflagge ausgedacht und auf den roten Streifen in
       der Mitte „Die Mitte ist wieder rot“ geschrieben. Ist das euer Ernst, werte
       Genossinnen und Genossen? Wen, bitte schön, soll das abholen außer
       fußballverrückte Hooligans und irgendwelche deutschtümelnden Patr:idioten?!
       
       Zwanzig Jahre habe ich euch die Treue gehalten, aber jetzt ist es wirklich
       genug. Macht’s gut, ciao.
       
       15 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=mdft02-MerA
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=gRJBn4cCMEA
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=hS3Vw-H_hCA
   DIR [4] /Ruecktritt-von-Andrea-Nahles/!5599736
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Fastabend
       
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