URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Geselliges Wogen in Gefangenschaft
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (97): Der Röhrenaal wird
       > gerade zum medialen Versuchstier öffentlicher Aquarien.
       
   IMG Bild: Aus seiner Röhre schaut der Aal in die Röhre
       
       Ein sympathischer kleiner Fisch, der zu den Meeraalen zählt und sich im
       Sand „tropischer Flachwasserregionen“ eine Röhre gräbt – mit seinem „harten
       Grabschwanz“, an dem zwei Drüsen ein Sekret absondern, das die Röhrenwand
       festigt. Darin lebt er – und rings um ihn herum leben andere nette
       Röhrenaale, sie sind gesellig, man spricht von Röhrenaalkolonien, und alle
       wiegen sich sanft in der Strömung und fangen dabei Plankton ein. Bei Gefahr
       verschwinden sie blitzschnell in ihren Röhren. Man fragt sich, ob diese
       kleinen Aale auch Feinde haben, bei denen ihre Röhre ihnen nichts nützt.
       Das ist natürlich sehr nutzenbiologisch (darwinistisch) gefragt, trotzdem
       fand ich in der Literatur dazu nichts.
       
       In den öffentlichen Aquarien haben sie überhaupt keine Feinde, außer
       schlechtgelaunten Nachbarn oder Männerkonkurrenzen. Die Röhrenaale sind
       beim Publikum sehr beliebt. Meistens sind es gelb-schwarz getigerte, eine
       Art, die nach dem Unterwasserfilmer Hans Hass benannt wurde. Sie werden bis
       zu 30 Zentimeter lang, haben große wache Augen, wiegen sich in der
       künstlichen Strömung, verschwinden in ihrer Röhre, kommen wieder heraus,
       gucken sich um und so weiter. Ein wie selbstverständliches Ballett.
       
       Laut den Röhrenaalforschern Patzner und Moosleitner verlassen die Männchen
       zur Paarung ihre Röhre und schwimmen zu den Weibchen. Leuchtet ein. Laut
       den Röhrenaalforschern Eichler und Myers verlassen sie aber ihre Röhre nie
       – nie, weswegen sich „nur benachbarte Tiere durch den Sand aufeinander
       zubewegen, die Hinterleiber aber immer in der eigenen Röhre bleiben“. Kaum
       vorstellbar.
       
       Wegen der Corona-Ausgangssperre gelangten jetzt die kleinen Röhrenaale in
       die [1][großen Medien] – gleich doppelt. Im geschlossenen Tokioter
       Samida-Aquarium hat man, damit sie weiterhin Besuchermassen hinter der
       Glasscheibe sehen, einige Bildschirme vor ihr Becken gestellt und dann die
       Röhrenaalfreunde aufgerufen, sich an einer Videokonferenz zu beteiligen,
       damit die Röhrenaale die Erfahrung nicht vergessen, dass man vor den ganzen
       Menschen, die sie vor Corona täglich sahen, keine Angst haben muss, indem
       sie das Publikum wie „eine lebende Tapete“ wahrnehmen, so die Idee der
       japanischen Röhrenaalspezialisten unter den Aquariumspflegern und
       Kuratoren. Bei der Schließung des Aquariums hatten sie nämlich nach einigen
       Wochen beobachtet, dass die Röhrenaale plötzlich in ihren Röhren
       verschwanden, wenn sich ihr Fischpfleger ihnen näherte, was sie vor Corona
       nicht getan hatten.
       
       ## Kollektives Verdrängen
       
       Der Guardian schreibt: Die Röhrenaale neigen dazu, „die Menschen zu
       vergessen“, kollektiv zu verdrängen, wäre vielleicht genauer, denn
       Gefangene gleich welcher Art mögen nun mal nicht gern an das Gefängnis und
       die Wärter denken. Bei den lustigen Röhrenaalen kommt noch hinzu, dass sie
       lebenslänglich bekommen haben – für nichts, das heißt nur für uns zur
       Freude. An diesem Punkt hakte der [2][Kommentator der Berliner Zeitung] an:
       „Was heißt schon ‚Freunde der Röhrenaale‘? Es zeigt sich bei dieser Aktion
       doch die menschliche Natur, die zuerst an ihren eigenen Vorteil denkt. Denn
       natürlich sollen die Besucher nach der Corona Krise das entspannte und
       entspannende Aalewiesenwogen wiedersehen. Für leere Wasserbecken mit
       Kiesgrund zahlt keiner Eintritt.“
       
       Der Autor, Ulrich Seidler, hat sie anscheinend vor Corona in einem Aquarium
       gesehen. Das Röhrenaalkollektiv hat sich nicht vor lauter
       Menschenmassenangst zu Nachttieren entwickelt. Er sah ihre Kolonie als
       „eine Wiese mit sanft schwankenden Halmen, an deren oberen Enden jeweils
       zwei melancholische Augen vorwurfsvoll nach Feinden Ausschau halten.“ Wobei
       die zahlenden Besucher und er auch von den Röhrenaalen nicht als solche
       wahrgenommen werden.
       
       Da „die japanische Kultur kein großes Aufheben um den Unterschied zwischen
       Menschen und Tieren macht, ist sie damit bis zu einem gewissen Grad vor den
       Verlockungen des Anthropomorphismus geschützt, anders als der Westen“,
       meinte der Verhaltensforscher Junichiro Itani. Vielleicht sehen wir hier
       also die Röhrenaale anders als die Japaner, und die im Berliner Aquarium
       lebenden Röhrenaale sind deswegen auch anders als die im Tokioter Aquarium
       lebenden.
       
       ## Mein Luftkissenfahrzeug ist voller Aale
       
       Ulrich Seidler sieht dagegen eher global den Gegensatz zwischen frei
       lebenden und in Gefangenschaft lebenden Röhrenaalen: „Normalerweise fluppt
       eine solche Wiese in dem Moment weg, wenn man sie betrachten will.“ Als
       Besucher eines Aquariums hat man jedoch „Röhrenaalpopulationen“ vor Augen,
       „die in dem Aquarium zur Welt gekommen sind, jeden Tag den Blicken von
       Besucherströmen ausgesetzt waren und damit keine schlechten Erfahrungen
       gemacht hatten, sie kannten keinen Grund, ihren Wiegetanz zu unterbrechen,
       wenn man sie bewundert.“
       
       Die Aquariums-Röhrenaale haben also durch die Zucht eine
       „Instinktlockerung“ erfahren, die nun in der besucherlosen Coronazeit
       langsam wieder uralten Ozeanerfahrungen weicht, das heißt, wenn der
       Fischpfleger sich dem Becken nähert, verschwinden sie in ihrer Röhre. Zu
       dieser Ozeanerfahrung – vor dem Feind ist man in der eigenen Röhre am
       sichersten – kommt das Kriegstrauma der Altvorderen hinzu: dass sie von
       Menschen aus ihren Löchern gefischt wurden und für immer ihre Freiheit
       verloren. „Um diesen Effekt zu verhindern“, schreibt Ulrich Seidler, „will
       das [Tokioter] Aquarium nun ein paar Tablets aufstellen.“ Er hingegen
       „glaubt nicht, dass Tiere schnell vergessen“.
       
       Wenn man an den Umgang mit den letzten Kriegsverbrechen denkt, dann ist
       Japan im Vergleich zu Deutschland in der Tat eine Vergessenskultur.
       Immerhin zeigt man dort seiner Röhrenaal-Zucht auf Bildschirmen eine
       Menschenkonferenz gegen ihr Vergessen. So wie hier der ORB in den neunziger
       Jahren umgekehrt statt Spielfilme vier Goldfische im Aquarium zeigte – nach
       Sendeschluss.
       
       ## Goldfische in der Filterblase
       
       Der Effekt dieser Idee eines ostdeutschen Senders auf seine DDR-Zuschauer
       (ohne DDR inzwischen) war, dass ihnen reihenweise angstvolle Erinnerungen
       hochkamen: Zwar waren die Goldfische (ihr Pfleger auf einem ORB-Schonplatz
       hatte sie benamt) ruhig und ausgeglichen, stießen gelegentlich Luftblasen
       aus und verbreiteten eine entspannte Atmosphäre, aber für die allnächtlich
       auf ihr Becken in der Glotze Starrenden, die nicht einschlafen konnten,
       wurden die harmlosen Goldfische gegen Morgen zu Feinden – zu Finanzhaien,
       Miethaien, Bonner Ultras, Verschwörern, Treuhandverbrechern.
       
       Das Verrückte war indes, dass unendlich viele Brandenburger Zuschauer sich
       beklagten, als die Goldfische bei der Fusion des über die Wende geretteten
       Ost-Senders ORB mit dem antikommunistischen Kampfsender SFB zum rbb vom
       Bildschirm verschwanden. Die meisten glaubten dem neuen Intendanten nicht,
       als er versicherte, dass die Fische am Leben seien und in guten privaten
       Händen. Der Besitzer hätte ihnen allerdings neue Namen gegeben. Dessen
       Mailadresse wollte er jedoch nicht rausrücken.
       
       18 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.heise.de/tr/blog/artikel/FaceTime-fuer-Aale-4714337.html
   DIR [2] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/haben-die-roehrenaale-die-menschen-vergessen-li.82645
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
   DIR Tierwelt
   DIR Helmut Höge
   DIR Fische
   DIR Biologie
   DIR Tiere
   DIR Diebstahl
   DIR Schwäne
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Tiere
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Hingefläzt aufs Eisbärenfell
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (100): Zum Jubiläum mal
       etwas über eine allzu tierische Spezies – den Menschen.
       
   DIR Die Wahrheit: Angriffslustige Jäger-Konkurrenz
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (99): Der auch nordische
       Hyäne genannte Vielfraß mag alles halbwegs Genießbare.
       
   DIR Die Wahrheit: Rufmord an den Abstaubern
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (98): Diebische Tiere gibt
       es nur, wenn es auch Eigentum gibt. Elstern sind also unschuldig.
       
   DIR Schwanenhass hat Tradition in Berlin: Ach, die armen Schwäne
       
       Die preußischen Könige ließen die Wasservögel mit brachialen Methoden
       flugunfähig machen, um die Schwäne zur Standorttreue zu zwingen.
       
   DIR Die Wahrheit: Schläfrig im Kettenpanzer
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (96): Das Schuppentier
       gilt als einer der Hauptverdächtigen im Fall Corona.
       
   DIR Die Wahrheit: Intelligenzbestie Eichhorn
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 95): Zwischen
       grauen und roten Nagern tobt ein Wettbewerb um Klug- und Kühnheit.