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       # taz.de -- Diktatur in Nicaragua: Ortega bürgert Kritiker aus
       
       > Insgesamt 94 Gegner der nicaraguanischen Regierung unter Daniel Ortega
       > werden ausgebürgert. Darunter auch der Schriftsteller Sergio Ramírez.
       
   IMG Bild: Wird aus Nicaragua ausgebürgert: Schriftsteller Sergio Ramírez
       
       Wien taz | Nicaraguas Bevölkerung schrumpft. Nachdem vergangene Woche
       [1][222 in die USA abgeschobene Gewissensgefangene] kurz nach ihrer
       Freilassung ausgebürgert wurden, verfügte ein Richter des autoritären
       Regimes am Mittwoch den Entzug der Staatsbürgerschaft von 94 weiteren
       Persönlichkeiten. Die Liste, die den Romancier [2][Sergio Ramírez] und die
       bekannte Schriftstellerin [3][Gioconda Belli] enthält, liest sich wie ein
       Who is Who der nicaraguanischen Intellektualität.
       
       Richter Ernesto Rodríguez Mejía vom Berufungsgericht in Managua verlas am
       Mittwoch eine Resolution, mit der die 94 namentlich aufgezählten Personen
       zu „Vaterlandsverrätern“ und gleichzeitig Justizflüchtlingen erklärt
       wurden. Sie befinden sich allesamt im Exil in den USA, Costa Rica oder
       Europa. Die Ausbürgerung geht Hand in Hand mit der Beschlagnahme sämtlicher
       Immobilien und allfälliger Unternehmen, die auf ihren Namen eingetragen
       sind.
       
       Die Maßnahmen, so der Richter, dienten dem Zweck, „den sozialen Frieden,
       die Rechtssicherheit, Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung des
       Staates Nicaragua und im Besonderen den Schutz der nicaraguanischen
       Gesellschaft zu garantieren.“ Ohne auch nur ein Minimum an
       Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen, erklärte das Gericht die Angeklagten in
       Abwesenheit pauschal der „Schädigung der nationalen Souveränität in
       Tateinheit mit der Verbreitung falscher Nachrichten“ für überführt. Die
       Ausbürgerung als Folge strafrechtlicher Verurteilung war letzte Woche von
       der Nationalversammlung durchgewunken worden.
       
       Staatenlos ist auch Bischof Rolando Álvarez, der sich am 9. Februar der
       Abschiebung widersetzte und tags darauf in einem Schnellverfahren zu 26
       Jahren und vier Monaten verurteilt wurde.
       
       ## Viele ehemalige Mitstreiter unter den Ausgebürgerten
       
       [4][Silvio Báez], einer der prominentesten Kritiker des Präsidentenpaares
       Daniel Ortega/Rosario Murillo, der vor vier Jahren nach Morddrohungen vom
       Papst aus der Schusslinie genommene und in eine Pfarre in Miami versetzte
       Weihbischof, findet sich ebenso auf der Liste, wie die
       Menschenrechtsanwältin Vilma Núñez, die in den 1970er Jahren sandinistische
       Gefangene vor den Tribunalen der Somoza-Diktatur verteidigte.
       
       Luis Carrión saß einst mit Daniel Ortega im neunköpfigen
       Nationaldirektorium, dem Zentralkomitee der Sandinistischen Befreiungsfront
       FSLN. [5][Monica Baltodano] war Comandante der Revolution und wandte sich
       später von Ortega ab.
       
       Der Universitätsprofessor und Freiheitskämpfer [6][Moisés Hassan] war
       einige Monate Mitglied der Revolutionsjunta, [7][Carlos Fernando Chamorro]
       leitete während der Revolutionsdekade das FSLN-Parteiorgan Barricada und
       gibt jetzt im Exil das online-Magazin [8][Confidencial ] heraus. Der
       Bannstahl der Ortegas traf auch seine Ehefrau Desiree Elizondo.
       
       ## Eine juristische Monstrosität
       
       Von Sippenhaftung betroffen ist auch Berta Valle, die Ehefrau des
       Präsidentschaftsaspiranten Félix Maradiaga, die schon seit mehreren Jahren
       im Exil lebt.
       
       Außer ehemaligen Comandantes und hohen Funktionären, die sich irgendwann
       dem autoritären Allmachtsanspruch Daniel Ortegas nicht mehr unterordnen
       wollten, enthält die Liste prominente Presseleute, Geistliche,
       Intellektuelle und Aktivisten, die während des Volksaufstandes 2018 an den
       Barrikaden gestanden sind.
       
       In Juristenkreisen wird die Express-Ausbürgerung als juristische
       Monstrosität gesehen. Sie widerspricht nicht nur der von Nicaragua
       ratifizierten Konvention zur Verringerung von Staatenlosigkeit aus dem Jahr
       1961, sondern auch der nicaraguanischen Verfassung, wie die Politologin und
       Historikerin Lilly Soto Vásquez in einem Kommentar nachweist.
       
       Brian Nichols, Staatssekretär für die Westliche Hemisphäre im
       US-Außenministerium, bedauert den Schritt in einem Tweet: „Dieser
       beklagenswerte Akt entfernt die nicaraguanischen Staatsbürger noch weiter
       von der Demokratie, die sie verdienen.“ Das UN-Menschenrechtsbüro (Oacnudh)
       spricht in einer ersten Reaktion von einer „willkürlichen Entscheidung.“
       
       Mehrere der Betroffenen zeigten sich in den sozialen Medien unbeeindruckt,
       wie der Ex-Staatsanwalt [9][Yader Morazán]: „Mich überrascht nicht die
       Lächerlichkeit von Rosario (Murillo, Ehegattin von Ortega und
       Vizepräsidentin, Anm.), sondern die Rolle, die die Pseudo-Richter spielen.“
       Er weist darauf hin, dass Gesetze keinen rückwirkenden Charakter haben und
       es keine Verurteilung ohne Prozess geben kann.
       
       16 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [8] https://www.confidencial.digital/politica/
   DIR [9] https://twitter.com/YaderMorazan/status/1626021243253100547
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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