URI: 
       # taz.de -- Direkte Demokratie in Berlin: Wie überstimmt man das Volk?
       
       > Darf das Parlament ein durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz
       > verändern? Die CDU schlägt eine Volksbefragung von oben vor – und erntet
       > Kritik.
       
   IMG Bild: Statt Schafen stünden hier jetzt wohl Baukräne: Tempelhofer Feld in Berlin
       
       Berlin taz | Seit mehr als einer Dekade übt sich Berlin inzwischen in
       direkter Demokratie. Zahlreiche Initiativen haben Volksbegehren angestoßen
       und dadurch den Druck auf die Politik erhöht; mehrere Volksentscheide
       fanden statt. Der bekannteste davon: die Abstimmung über das Tempelhofer
       Feld im Mai 2014, die mit einem klaren Sieg der Initiative endete. Das Feld
       muss weitgehend so bleiben, wie es ist – es darf nicht mit Wohnungen bebaut
       werden.
       
       Doch gerade dieser Volksentscheid zeigt, welche Frage in Berlin weiterhin
       ungeklärt ist: [1][Wie lange soll, kann, muss] ein vom Souverän, sprich der
       Bevölkerung direkt verabschiedetes Gesetz auf jeden Fall Bestand haben?
       
       Formal ist die Frage leicht zu beantworten. Das Abgeordnetenhaus kann jedes
       Gesetz ändern oder ganz abschaffen.
       
       Klar ist aber auch: Durch Volksentscheide zustande gekommene Gesetze haben
       wegen ihrer Unmittelbarkeit eine besondere Legitimation. Zudem sind nur die
       wenigsten Gesetze auf diese Weise verabschiedet worden, und davor stehen
       hohe formale Hürden. Es geht also sehr wahrscheinlich um inhaltlich für die
       Bevölkerung sehr relevante Themen.
       
       Die Berliner SPD-Linkspartei-Koalition hat Ende der Nullerjahre die
       Grundlagen für eine praktisch tatsächlich anwendbare direkte Demokratie
       gelegt. Rot-Rot-Grün hat sich nach langen Verhandlungen vor wenigen Monaten
       darauf geeinigt, [2][einige wesentliche Verfahrensfehler auszubessern].
       
       Nun hat ausgerechnet die CDU, der direkte Demokratie zuletzt vor allem am
       Herzen lag, wenn sie sich davon einen direkten politischen Vorteil
       versprach, einen Vorschlag gemacht, wie die Abschaffung oder Veränderung
       etwa des Tempelhofer-Feld-Gesetzes vonstatten gehen könnte: Würde ein
       inhaltlich relevanter Teil des Gesetzes vom Parlament verändert, soll es
       die neue Fassung dem Volk noch mal zur Abstimmung vorlegen können. Eine
       Volksbefragung, angeordnet „von oben“.
       
       ## Zusätzliche Legitimation?
       
       „Eine solche Abstimmung würde einem veränderten, ursprünglich durch einen
       Volksentscheid zustande gekommenen Gesetz die notwendige zusätzliche
       Legitimation beschaffen“, begründet Stefan Evers, parlamentarischer
       Geschäftsführer der Unions-Fraktion im Abgeordnetenhaus, gegenüber der taz
       die Idee. Zugleich hält er sie für einen „weiteren Schutz, damit das
       Parlament nicht ohne Not solche Gesetze anfasst“. Der Gedanke dahinter:
       Eine Veränderung, die kaum eine Chance hätte, in einer solchen Abstimmung
       zu bestehen, würde von den Abgeordneten gar nicht erst angestrebt.
       
       Doch so einfach ist es nicht, zumindest nicht in der Fassung, die die
       CDU-Initiative bisher hat. Denn darin ist weder die Abstimmung verbindlich
       vorgeschrieben: Die „Durchführung einer Volksbefragung ist möglich“, heißt
       es in dem Mitte November von Evers ins Abgeordnetenhaus eingebrachten
       Antrag. Noch ist deren Ergebnis bindend für die Politik: Es hat lediglich
       „empfehlenden Charakter“.
       
       Evers glaubt dennoch, dass sich das Abgeordnetenhaus einer solchen
       Befragung weder entziehen noch deren Ausgang ignorieren könnte: „Eine
       solche Abstimmung nicht zu nutzen wäre undenkbar, und selbstverständlich
       ist die Wirkung bindend.“ Evers spricht von der „normativen Kraft des
       Faktischen“.
       
       Zugleich will er den Vorstoß der Union als „Denkanstoß“ verstanden wissen.
       Ausdrücklich sei man offen für andere Argumente und Ideen. Ein solcher
       Austausch ist auch nötig, denn um eine solche zusätzliche Volksbefragung
       durchzusetzen, muss die Landesverfassung geändert werden, und dafür braucht
       es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, also auf jeden Fall zusätzliche
       Stimmen von Rot-Rot-Grün.
       
       Dass die Debatte gerade jetzt aktuell wird, hat mit einer anderen Partei zu
       tun, die aus der Frage nach der Zukunft des Tempelhofer Feldes politischen
       Profit schlagen will. Die FDP hat Ende September selbst damit begonnen,
       Unterschriften für eine teilweise Bebauung des mehr als 300 Hektar großen
       Geländes zu sammeln.
       
       Zur Erinnerung: 2016 gelang der Partei der Einzug ins Parlament nur dank
       einer monothematischen Kampagne für die Offenhaltung des Flughafens Tegel.
       Den entsprechenden Volksentscheid gewannen die Unterstützer zwar deutlich –
       Rot-Rot-Grün hatte aber schon vorher angekündigt, das zu ignorieren. Der
       Entscheid hatte auch nur empfehlenden Charakter.
       
       Beim Tempelhofer Feld ist das anders; mehr als 10.000 Wohnungen sollen am
       Feldrand entstehen. FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja begründete gegenüber
       der taz die Initiative auch mit der besonderen Legitimation des geltenden
       Gesetzes. „Wir sorgen dafür, dass nicht das Parlament den Volksentscheid
       durch ein Gesetz kippt.“ Vielmehr würden der Entscheid und sein Ergebnis
       ernst genommen; „er wird höchstens durch einen anderen Volksentscheid
       hinterfragt“, so Czaja.
       
       Allerdings sehen es viele Experten kritisch, dass Volksbegehren und darauf
       folgende Volksentscheide – die, wie das Wort sagt, eigentlich von der
       Bevölkerung ausgehen sollen – von Parteien politisch instrumentalisiert
       werden, um eigene Positionen durchzudrücken. So hatte sich die
       rot-rot-grüne Koalition in langwierigen Verhandlungen darauf geeinigt, bei
       der jüngsten Novelle des Direkte-Demokratie-Gesetzes den von der SPD
       geäußerten Wunsch einer Volksbefragung für alle möglichen Themen nicht
       umzusetzen.
       
       Für Stefan Evers spricht ein weiterer Grund gegen das Vorgehen à la FDP: Es
       dauere sehr lange, bis es wirklich zu einem Entscheid kommen kann, weil
       entsprechend hohe Hürden genommen werden müssen. Und angesichts der
       Coronapandemie und der erschwerten Bedingungen für das Sammeln von
       Unterschriften könnte die FDP-Initiative bereits in der ersten Phase
       scheitern. Nötig wären 20.000 Unterschriften.
       
       Evers betont zudem, Ziel der Unions-Initiative sei es, in einer ohnehin in
       vielen Fragen gespaltenen Bevölkerung nicht noch weitere Konflikte durch
       langwierige Debatten eskalieren zu lassen. „Wir brauchen ein Ergebnis, ohne
       dass die Stadt unnötig polarisiert wird.“ Nun ist laut Evers die Koalition
       an der Reihe, die von der Union angestoßene Debatte aufzugreifen und eigene
       Vorschläge zu machen.
       
       Bereits in der Debatte Mitte November im Parlament wurde indes deutlich,
       dass einige Aspekte im CDU-Antrag von Rot-Rot-Grün kritisch gesehen werden.
       So betonte Michael Efler (der für die Linke das überarbeitete
       Direkte-Demokratie-Gesetz maßgeblich verhandelt hat) zwar, dass auch seine
       Fraktion eine Verfassungsänderung unterstütze. Es sei aber zum Beispiel
       unklar, was genau der „Kerngehalt“ eines Gesetzes sei – nur wenn dieser
       verändert oder das Gesetz ganz aufgehoben werde, ist laut dem Entwurf die
       Volksbefragung möglich.
       
       Efler kritisierte zudem die Unverbindlichkeit sowohl der Möglichkeit einer
       Volksbefragung wie auch deren Ergebnis. Schlimmstenfalls könnte sich das
       Parlament so selbst in einen Gewissenskonflikt hineinmanövrieren. Er
       schlägt vielmehr vor, sich am Hamburger Modell zu orientieren.
       
       ## Hamburger Modell
       
       In dem Stadtstaat besteht die Möglichkeit, ein Referendum anzustrengen,
       nachdem das Landesparlament ein vom Volk beschlossenes Gesetz geändert oder
       aufgehoben hat. Das Besondere: Die Hürde, damit diese Abstimmung zustande
       kommt, ist nur halb so hoch wie für einen Volksentscheid. Lediglich 2,5
       Prozent der HamburgerInnen müssen dafür innerhalb von drei Monaten
       unterschreiben. Und: Das Ergebnis ist verbindlich.
       
       Anders als bei der Volksbefragung können die BürgerInnen also selbst
       entscheiden, ob es über die Änderung eines Volksentscheids zu einem
       Referendum kommt, betont Michael Efler auf taz-Nachfrage. „Bei einer
       Volksbefragung liegt die Entscheidung beim Parlament. Dadurch ergibt sich
       ein Zielkonflikt, denn das Parlament hat ja vor allem ein Interesse an
       einer Änderung des Volksentscheids.“
       
       Hamburg in Berlin als Vorbild zu nehmen schließt auch Evers explizit nicht
       aus. „Es lohnt sich, das anzuschauen“, sagte er der taz. Und er ist
       optimistisch, dass es in dieser Legislaturperiode – die nur noch bis
       September 2021 dauert – noch zu einer Einigung kommen könnte. „Allerdings
       ist es schwer, die Streitigkeiten in der Koalition zu durchschauen.“ Darauf
       angesprochen sagt Michael Efler: „Die Debatte in der Koalition hat
       begonnen, steht aber noch am Anfang.“
       
       6 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bebauung-des-Tempelhofer-Feldes/!5726690
   DIR [2] /Volksentscheide-in-Berlin/!5686721
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Abgeordnetenhauswahl 2021
   DIR Tempelhofer Feld
   DIR Volksentscheid
   DIR Direkte Demokratie
   DIR Abgeordnetenhaus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Sebastian Czaja
   DIR Parks
   DIR Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
   DIR Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wahl in Berlin unter Coronabedingungen: Notfalls nur per Brief
       
       Die Pandemie behindert die Vorbereitungen der Parteien auf die Wahl.
       Rot-Rot-Grün will das Wahlgesetz ändern und Hürden für kleine Parteien
       senken.
       
   DIR Das Tempelhofer Feld und die FDP: Auf der Suche nach der Emotion
       
       Die FDP setzt wegen der Corona-Pandemie die Unterschriftensammlung für ein
       Volksbegehren zur Randbebauung des Tempelhofer Felds aus.
       
   DIR Bebauung des Tempelhofer Feldes: „Öde Brache“-„Quatsch! Ein Biotop“
       
       Die FDP will die Ränder des riesigen Berliner Parks doch bebauen.
       Fraktionschef Czaja wirbt für Wohnungen, Naturschützer Tilmann Heuser hält
       dagegen.
       
   DIR Direkte Demokratie in Berlin: Bremssenator muss jetzt loslegen
       
       Das Abstimmungsgesetz ist überarbeitet: Künftig muss die Zulässigkeit von
       Volksbegehren innerhalb von fünf Monaten klar sein.
       
   DIR Volksentscheide in Berlin: Demokratie wird direkter
       
       Rot-Rot-Grün will die direkte Demokratie gerechter machen. Dazu wird
       endlich eine Frist für die Zulässigkeitsprüfung eines Volksbegehrens
       eingeführt.