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       # taz.de -- Doomscrolling in Krisenzeiten: Tyrannei der Aktualität
       
       > In Krisenzeiten klagen Menschen über die Nachrichtenflut. Ist das
       > weinerlich oder ist der Medienkonsum tatsächlich problematisch?
       
   IMG Bild: Doomscrolling verschafft einigen manch schlaflose Nacht
       
       In den sozialen Medien kursiert schon seit Längerem der Ausdruck
       „Doomscrolling“. Das Wort doom bedeutet auf Deutsch so viel wie Verderben
       oder Untergang. [1][Wer Doomscrolling betreibt], rollt also die niemals
       endenden Feeds der sozialen Medien auf der Suche nach schrecklichen Dingen
       ab. Und da die Aufmerksamkeitslogik von Twitter nicht anders funktioniert
       als die der etablierten Medien, kann man sich darauf verlassen, dass man
       auf der Suche nach Nachrichten, die vom Verderben erzählen, reichlich
       fündig wird.
       
       Gerade in Momenten, in denen ein krisenhaftes Ereignis die internationale
       Berichterstattung komplett beherrscht wie etwa der [2][russische Einmarsch
       in die Ukraine], wird im Internet besonders stark über die eigene
       Unfähigkeit geklagt, auch einmal wegzuschauen. Doomscrolling erscheint dann
       vor allem als Symptom einer krankhaften Form von Medienkonsum, das es den
       Befallenen unmöglich macht, sich von den sich abspulenden
       Schreckensnachrichten loseisen zu können.
       
       Dieses Phänomen kennen natürlich auch Menschen, die sich nicht den ganzen
       Tag im Internet aufhalten. Die [3][Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel]
       schreibt in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen – Was negative Nachrichten
       mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“, dass wir in
       Momenten der Angst dazu tendieren, immer mehr beängstigende Informationen
       zu sammeln. Sie nennt das die
       „Angst-Nachrichten-noch-mehr-Angst-noch-mehr-Nachrichten-noch-viel-mehr-Ang
       st-Spirale“.
       
       Diese Spirale lässt sich durch gedruckte Zeitungen genauso in Gang halten
       wie durch das Fernsehen. Die Autorin hat aus Krisen- und Kriegsgebieten
       berichtet. Sie war Politikredakteurin der Zeit und als Reporterin in
       Kabul. Und doch habe sie irgendwann selbst aufgehört, Nachrichten zu lesen.
       Und in diesem Moment sei die Welt um sie herum besser geworden.
       
       ## Aspekte, die Hoffnung machen
       
       Das Buch versteht sich als Plädoyer für eine Berichterstattung, die nicht
       allein im Negativen aufgeht. Sie fordert, dass Medien dafür sorgen sollten,
       ihre Rezipient*innen nicht in die Verzweiflung zu treiben. Die Formel,
       die sie dafür findet, ist „Scheiße plus X“, also eine Erzählung, die zwar
       die Augen nicht vor dem Schrecklichen verschließt, allerdings bewusst nach
       den Aspekten sucht, die Hoffnung machen.
       
       Einem Appell wie dem von Wurmb-Seibel möchte man unmittelbar zustimmen,
       zumal sie vor allem Vorschläge macht, wie man bessere Geschichten erzählen
       kann. Gleichzeitig regt sich in Bezug auf die allgemeine Klage über die
       Flut schlechter Nachrichten auch ein gewisses Unbehagen. Denn diese Klage
       läuft Gefahr, in einen medialen Wellnessdiskurs auszuarten, der die Frage
       nach dem angemessenen Medienkonsum zu einer individuellen Entscheidung der
       eigenen Lebensführung macht. Ist es nicht Ausdruck eines Privilegs, sich
       den News entziehen zu können, die andere am eigenen Leib erfahren müssen?
       
       Zum Medienwandel der Digitalisierung gehört auch eine kulturelle Angst vor
       einem neuen Aktualitätsregime – eine Angst, die darauf beruht, dass wir
       angeblich in einer Zeit der absoluten medialen Beschleunigung und
       Unübersichtlichkeit leben. Diese Gegenwartsdiagnose lasse sich auch und
       gerade auf die Massenmedien übertragen, die sich durch die Digitalisierung
       endgültig einer Tyrannei der Aktualität verschrieben hätten.
       
       ## Gefühl der Überforderung
       
       Lothar Müller merkt in seinem Essay „Deadline – Zur Geschichte der
       Aktualität“ an, Aktualität habe „die letzte Beschleunigungsstufe erreicht“.
       Menschen konsumieren Nachrichten nicht mehr im Rhythmus der
       Erscheinungsdaten von Medien, etwa einer Tageszeitung, sondern immer und
       überall. Es gibt keinen Moment mehr, in dem Gegenwart nicht irgendwo
       erfahren werden kann.
       
       Das Gefühl der Überforderung lässt sich als kulturelle Malaise vermarkten.
       Bücher wie Rolf Dobellis „Die Kunst des digitalen Lebens – Wie Sie auf News
       verzichten und die Informationsflut meistern“ sind Ausdruck eines
       Wellnessdiskurses, der als Reaktion auf die Always-on-Probleme der
       Digitalisierung entstanden ist. In einem Werbetext zum Buch heißt es: „Wir
       sind immer bestens informiert und wissen doch so wenig. Warum? Weil wir
       ständig ‚News‘ konsumieren – kleine Häppchen trivialer Geschichten,
       schreiende Bilder, aufsehenerregende ‚Fakten‘.“ Der Autor lebe seit vielen
       Jahren gänzlich ohne News, und man solle es ihm nachtun, sich ausklinken,
       um ein stressfreies digitales Leben genießen zu können.
       
       Aktualität erscheint hier also nicht als journalistische Tugend, sondern
       als Laster; „Medienfasten“, das Innehalten und Warten dagegen als Mittel
       gegen die gehetzte Echtzeitberichterstattung. Es geht aus dieser
       Perspektive darum, mehr, nicht weniger zeitliche Distanz zwischen dem*der
       Rezipient*in und dem Ereignis zu schaffen.
       
       ## Ein Zuviel an Nachrichten
       
       Die Kritik an der medialen Beschleunigung ist nicht neu und keine Erfindung
       des Internetzeitalters. Lothar Müller weist darauf hin, dass die Klage,
       über ein Viel-zu-schnell und Viel-zu-viel, über die Tyrannei der
       Aktualität, seit Beginn der Zeitungsgeschichte im 17. Jahrhundert eine
       Rolle spielte: „Man verschlang nun nicht nur im Rhythmus der
       ‚Messekataloge‘ die neuen Bücher, sondern im schnelleren Rhythmus der
       periodischen Presse die Neuigkeiten.“ Die*Der Zeitungsleser*in
       erscheint also schon seit Beginn der modernen Mediengeschichte als
       unbelehrbarer Vielfraß, als unverbesserlicher Gegenwartsjunkie, dem es nie
       aktuell genug sein kann und den man mittels Diät erziehen muss.
       
       Im Zeichen schrecklicher Ereignisse erscheint dieser Belastungsdiskurs, der
       ein Zuviel an Nachrichten zum Ausgangspunkt einer auf Achtsamkeit und
       Konzentration ausgerichteten Form von self care machen möchte, allerdings
       auch ambivalent und wird – gerade jetzt wieder – zum Gegenstand heftiger
       Kritik. Diese Spannung kommt in einem Tweet zum Ausdruck, der in der
       Anfangsphase des Ukrainekriegs riesige Resonanz gefunden hat. Man sieht
       hier eine Frau in einer sehr gepflegten Wohnung der kreativen Oberschicht
       an einem Schreibtisch stehen. Der Kommentar dazu ist ein fiktives Zitat,
       das ihr in den Mund gelegt wird: „I’m tired of living through historic
       events“ („Ich bin es leid, historische Ereignisse zu durchleben“).
       
       Was hier aufs Korn genommen wird, ist die angebliche Wehleidigkeit eines
       Mediendiskurses, der das eigene Leiden an einer tyrannischen Gegenwart
       inszeniert, während man in der warmen schönen Wohnung an seinem Laptop
       steht. Ist Doomscrolling also nur Ausdruck einer privilegierten
       Weinerlichkeit, die sich dem Leid anderer Menschen nicht aussetzen will?
       
       Man kann den Begriff durchaus so verstehen. Allerdings steckt darin auch
       die Kritik an einem Medienkonsum, der sich auf eine fast pornografisch
       anmutende Art an den Schreckensnachrichten der Gegenwart berauscht. Unser
       Medienkonsum folgt verschiedenen Motiven, und neben dem
       Informationsbedürfnis steht immer auch, oft uneingestanden, die Gier nach
       spannenden Geschichten. Diese Gier erzeugt wiederum eine Nachfrage, die
       dann von atemloser Nonstop-Berichterstattung befriedigt werden kann. Dieser
       Mechanismus scheint tatsächlich zerstörerisch und hochgradig
       reformbedürftig zu sein – nicht weil er uns so schwer belastet, sondern
       weil er dem Ereignis und den realen Leiden, die es verursacht, nicht
       gerecht wird.
       
       1 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /News-Algorithmus-bei-Facebook/!5735025
   DIR [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=aLAhnAjGrts
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Franzen
       
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