URI: 
       # taz.de -- Drei Jahre nach dem Putschversuch: Gedenken als Propaganda
       
       > Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist in der Türkei zum festen
       > Bestandteil der Erinnerungskultur geworden. Doch das Land hat sich
       > verändert.
       
   IMG Bild: Yasin Şafak blieb Gedenkveranstaltungen mit politischen Botschaften fern
       
       „Nächste Haltestelle: Brücke der Märtyrer des 15. Juli. Fahrgäste, die das
       Mahnmal für die Märtyrer des 15. Juli besuchen wollen, bitte hier
       aussteigen.“
       
       Der Metrobus hält am Fuß der Bosporusbrücke auf der anatolischen Seite von
       Istanbul. In dieser Durchsage im Bus manifestiert sich, wie die Erinnerung
       an den Putschversuch am 15. Juli 2016 im Alltag verankert ist. Die
       Bosporusbrücke, die 1970 eröffnet wurde und den europäischen und den
       asiatischen Teil Istanbuls miteinander verbindet, wurde kurz nach dem
       Putschversuch in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ umbenannt.
       
       Auf beiden Seiten der Brücke wurden Mahnmale zur Erinnerung an die
       Putschnacht errichtet. Die Gedenkstätte auf der anatolischen Seite der
       Brücke ist kuppelförmig gebaut und trägt eine Tafel mit der Inschrift der
       Namen von 249 Menschen, die in der Putschnacht vor drei Jahren ums Leben
       gekommen sind. Der Innenraum der Gedenkstätte wird 24 Stunden durchgehend
       mit Versen aus dem Koran beschallt. Um die Gedenkstätte herum wurden
       Zypressen gepflanzt, denen die Namen der Getöteten gegeben wurden.
       
       Nebenan laufen die letzten Bauarbeiten am „Gedächtnismuseum“, das pünktlich
       zum dritten Jahrestag von Staatspräsident Erdoğan eröffnet werden soll.
       
       ## Drei Jahre nach dem Putschversuch
       
       Drei Jahre nach dem Putschversuch sind in der Türkei die Erinnerungen an
       die blutigen Ereignisse am 15. Juli 2016 nach wie vor präsent. Teile des
       Militärs hatten den Putsch gegen die türkische Regierung geplant, sie
       bombardierten das Parlament in Ankara und sperrten die Bosporusbrücke. Weil
       sich jedoch weite Teile der Armee nicht am Umsturz beteiligten und
       Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Bevölkerung aufrief, auf die
       Straßen zu gehen und Widerstand zu leisten, konnte der Aufstand
       niedergeschlagen werden.
       
       Vor der Gedenkstätte an der Bosporusbrücke steht Yasin Şafak zwischen
       Familien, die das Mahnmal mit ihren Kindern besuchen. Der 40-jährige Beamte
       war einer derjenigen, die in der Putschnacht auf die Straße gegangen sind.
       Er erinnert sich an den Anblick im Morgengrauen: „Als ich die Brücke
       überquerte, habe ich überall die Blutlachen auf dem Boden gesehen. Ich habe
       Panzer gesehen und Fahrzeuge, die beschossen wurden. In dem Moment wurde
       mir klar, dass diese Nacht das Leben vieler Menschen verändern würde.“
       
       Die Putschnacht markiert einen tiefen Einschnitt in der jüngsten Geschichte
       der Türkei, dessen Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Im
       Ausnahmezustand, der wenige Tage nach dem Putschversuch verhängt wurde und
       bis Juli 2018 andauerte, wurden mehr als hunderttausend Staatsbedienstete
       per Dekret suspendiert, zehntausende Menschen, oppositionelle
       Politiker*innen und Journalist*innen wurden verhaftet, mehr als 100 Medien
       und Verlage geschlossen. Mit dem Referendum im April 2017 wurde der Weg zum
       Präsidialsystem geebnet, das es Erdoğan heute ermöglicht, das Land als
       Ein-Mann-Regime zu regieren.
       
       Während noch viele Fragen zum Geschehen in der Putschnacht unbeantwortet
       waren, begann die türkische Regierung schon mit der Geschichtsschreibung.
       Der 15. Juli wurde als „Tag der Demokratie und der nationalen Einheit“
       offiziell zum Feiertag erklärt. Nicht nur die Brücke, allein in Istanbul
       wurden mehr als 50 Plätze, Parks und Bushaltestellen zur Erinnerung an den
       Putschversuch umbenannt.
       
       ## Die Menschen stehen nicht im Vordergrund
       
       Seit drei Jahren feiert die Türkei das blutige Ereignis als „Sieg der
       Demokratie“. Ein offizielles Logo zum 15. Juli wurde zur Marke, jedes Jahr
       wird von offizieller Stelle ein neues veröffentlicht. Wer den „Tag der
       Demokratie und der nationalen Einheit“ feiern möchte, findet auf [1][der
       Internetseite] der neu gegründeten Kommunikationsbehörde des
       Staatspräsidiums die aktuellsten Logos, Videos und Plakate zum
       Herunterladen, alles unter der Überschrift „Institutionelle Karte des 15.
       Juli“.
       
       Obwohl Yasin Şafak in der Nacht des 15. Juli auf die Straße ging, um die
       Demokratie zu verteidigen, blieb er den anschließenden Feiern und den
       sogenannten „Demokratiewachen“ fern. Er habe sich nicht als Teil dieser
       Zeremonien empfunden, sagt er. In den offiziellen Erzählungen der
       Ereignisse stünden die Zivilisten unterschiedlichster Gesinnung, die sich
       gegen den Putschversuch gestellt hatten und in dieser Nacht ums Leben
       kamen, nicht im Vordergrund, sagt er.
       
       Deshalb nahm Şafak zwar an der Trauerfeier und dem Gebet für die Menschen
       teil, die im Stadtbezirk Çengelköy getötet worden waren, besucht aber bis
       heute keine der Veranstaltungszeremonien mit politischem Botschaften.
       
       In der Türkei, die etwa alle zehn Jahre einen Putschversuch erlebt, nehme
       dieser letzte einen besonderen Stellenwert ein, so Şafak: „In der
       Geschichte der Türkei wurden Putsche immer mit dem Schutz des Staates
       begründet. Dieses Mal war es anders. Denn dieses Mal bedeutete Widerstand
       gegen den Putsch, den Staat zu verteidigen.“
       
       ## Geschichtsschreibung mit Tradition
       
       Durch Mythenbildung Fakten zu schaffen hat Tradition in der türkischen
       Geschichte. Schon nach früheren Putschversuchen hatten Putschgeneräle
       Straßennamen geändert und offizielle Feiertage eingeführt. Für die
       Politikwissenschaftlerin Büşra Ersanlı, die ein Buch zur offiziellen
       Geschichtsschreibung in der Türkei veröffentlicht hat, ist das, was die
       Türkei in den vergangenen drei Jahren erlebt, nichts Neues.
       
       Sie erinnert daran, dass auch nach dem Putsch 1960 der 27. Mai als „Tag der
       Freiheit und der Verfassung“ zum offiziellen Feiertag erklärt wurde. Im
       Jahr 1982, nach dem Militärputsch 1980, sei der Feiertag dann wieder
       abgeschafft worden. Deshalb, so glaubt sie, könne diese Art der
       Geschichtserzählung nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Die
       Regierungen wechselten, doch die Praxis der staatlichen
       Geschichtsschreibung blieb gleich. Schon seit jeher mussten Ersanlı zufolge
       auch Schulbücher als bevorzugtes Medium für eine Geschichtserzählung zu
       Propagandazwecken herhalten: „In diesen Büchern finden wir keine sachlichen
       Informationen, sondern eine propagandafokussierte Sicht der Ereignisse“,
       sagt sie.
       
       Seit der Putschversuch von 2016 in den Lehrplan aufgenommen wurde und
       Schulbücher vom Bildungsministerium kostenlos verteilt werden, sind auf der
       Rückseite der Bücher das Logo des 15. Juli und Figuren abgebildet, die vor
       der Bosporusbrücke die türkische Flagge schwenken. Zehnjährige
       Schüler*innen lernen in der Grundschule vom „ruhmreichen Widerstand“, den
       das „heldenhafte türkische Volk“ gegen die Putschisten geleistet hat.
       
       Das gesellschaftliche Trauma wird als Sieg der Demokratie abgehandelt. „Wir
       müssen begreifen, welche Bedeutung und welchen Wert dieser Tag hat, der uns
       zeigt, dass keine Kraft der Welt vor der nationalen Willenskraft bestehen
       kann“, steht etwa in dem Schulbuch, und: „Wir sind unseren Märtyrern und
       Kriegsveteranen, die ihr Leben dafür aufs Spiel setzten, zu Dank
       verpflichtet.“
       
       ## Vieles hat sich geändert in drei Jahren
       
       Seit dem Putschversuch würden Schüler*innen im Sozialkundebuch der 6.
       Klasse zudem gefragt, was sie unter Demokratie verstehen, erzählt die
       Politikwissenschaftlerin Ersanlı. „Worauf die Regierung keine Antwort hat,
       fordert sie hier eine von den Schülerinnen und Schülern.“ Was in den drei
       Jahren seit dem Putschversuch in der Türkei passiert ist, stehe in großem
       Widerspruch zu dem Unterrichtsstoff in den türkischen Schulbüchern. „Passt
       das zu den Prinzipien der Demokratie, die hier von den Schüler*innen
       abgefragt werden?“, fragt sie.
       
       Doch die offizielle Kommunikationsstrategie reicht über den Bereich der
       Bildung hinaus. Am 13. Juli erhielten Bürger*innen eine SMS mit der
       Unterschrift des Bildungsministers Ziya Selçuk: „Wir sind denjenigen etwas
       schuldig, die sich vor die Panzer gestellt haben, den schönen Menschen, die
       nicht nach Hause gegangen sind, sondern als Märtyrer gestorben sind.“
       
       Eine ähnliche Nachricht verschickte die Kommunikationsbehörde des
       Staatspräsidiums, die dazu aufruft, an der Gedenkveranstaltung des
       Staatspräsidenten im ehemaligen Atatürk-Flughafen teilzunehmen. Als Erdoğan
       vor drei Jahren in der Putschnacht an diesem Flughafen landete, wurde er
       mit großem Jubel empfangen.
       
       Aber in den letzten drei Jahren hat sich vieles geändert in der Türkei.
       Nachdem der neue Flughafen Istanbul im Norden der Stadt eröffnet worden
       war, wurde der Flughafen Atatürk für Passagierflüge geschlossen. Auch
       Erdoğan und die AKP, die diesen Flughafen weiterhin für ihre Reisen nutzen,
       stehen heute woanders als noch vor drei Jahren. Erdoğan kassierte bei den
       Kommunalwahlen am 31. März und auch bei der Wiederholung der
       Bürgermeisterwahl in Istanbul eine herbe Niederlage.
       
       Drei Jahre nach dem Putschversuch, nach einem Ausnahmezustand, mitten in
       einer Wirtschaftskrise und nach Wahlniederlagen wird der Staatspräsident am
       Atatürk-Flughafen wohl mit anderen Gefühlen empfangen werden als noch in
       der Putschnacht.
       
       Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
       
       15 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://kurumsal.15temmuz.gov.tr/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Beyza Kural
       
       ## TAGS
       
   DIR Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Volkswagen investiert in der Türkei: Autofabrik für Autokraten
       
       VW sorgt für Arbeitsplätze in der konservativen Region Izmir. Das ist ein
       wirtschaftlicher Erfolg für den isolierten Staatschef Erdoğan.