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       # taz.de -- Dritte Staffel „Shtisel“: „Es geht hier um nichts und alles“
       
       > „Shtisel“ erzählt vom Leben ultraorthodoxer Juden. In Israel ist sie Kult
       > – und zwar genauso unter Orthodoxen wie unter säkularen Tel Aviver
       > Hipstern.
       
   IMG Bild: Giti (Neta Rsikin) versucht in der 3. Staffel ihre Familie zu ernähren
       
       Tel Aviv taz | Am Anfang war Schauspielerin Neta Riskin überzeugt, dass
       sich so eine Serie niemand anschauen würde. „Wir alle, mein Coach, die
       anderen Hauptdarsteller und ich, waren uns sicher, dass wir das in erster
       Linie für uns selber drehen“, sagt die 44-Jährige am Telefon und lacht.
       „Eine Serie über eine [1][ultraorthodoxe Familie] – nicht das Sexyeste, das
       man sich vorstellen kann.“
       
       Doch zur Überraschung aller wurde die Geschichte der Familie Shtisel in
       Israel eine Sensation – zuerst 2013 auf dem israelischen Satellitensender
       Yes, seit 2018 läuft sie bei Netflix, ab da brach die „Shtiselmania“ auch
       international aus. Seit Donnerstag ist die dritte Staffel auf dem
       Streamingsdienst zu sehen, auch in Deutschland. „Shtisel“-Fans auf der
       ganzen Welt wollen wissen, wie es mit Shulem Shtisel (Dov Glickman) und
       seinen Kindern Akiva, Ben Zvi und Giti weitergeht.
       
       „Es explodierte einfach“, sagt Neta Riskin. Als die
       Hauptdarsteller*innen von „Shtisel“ zu einer Lesereise nach New York
       kamen, musste die Polizei dort die Hauptader Sixth Avenue sperren, so groß
       war der Andrang der Fans.
       
       Dabei passiert in der Serie eigentlich nicht viel. Oder anders: In der
       säkularen Welt außerhalb des strengreligiösen Jerusalemer Viertels Geula,
       in dem „Shtisel“ spielt, würden viele der erzählten Geschichten kaum
       Spannung erzeugen. Doch unter den Ultraorthodoxen, die sich selbst als
       Haredim bezeichnen, mit ihren eigenen strengen Regeln, ist Drama
       unumgänglich.
       
       ## Zwei getrennte Welten
       
       Akiva (Michael Aloni) beispielsweise, der Sohn von Shulem Shtisel, stößt
       mit seinen künstlerischen Ambitionen an die Grenzen der haredischen
       Gesellschaft. Giti, die Tochter, gespielt von Neta Riskin, wird von ihrem
       Mann sitzen gelassen und versucht, ihre Familie zu ernähren und ihre Kinder
       vor einem schlechten Image zu bewahren. Andere Handlungsstränge
       funktionieren auch universell: Etwa wenn das alternde Familienoberhaupt
       Shulem erfährt, dass der Heiratsvermittler ihn einst mit den Worten „Isst
       und raucht“ in seinem Notizbuch charakterisiert hat. Eine Folge lang sehen
       wir Shulem dabei zu, wie er aus Sorge um seinen Ruf versucht, seiner
       Familie ein anderes Bild von sich zu zeigen.
       
       Schauspielerin Riskin vergleicht „Shtisel“ mit der legendären US-Sitcom
       „Seinfeld“ der neunziger Jahre, die von vielen als „Show über nichts“
       beschrieben wurde. „In Seinfeld geht es um nichts“, sagt Riskin: „In
       ‚Shtisel‘ geht es um nichts und alles.“
       
       Das Erstaunlichste am Erfolg der Serie ist allerdings die Zusammensetzung
       ihrer Fans. Die speisen sich nämlich aus jenen zwei getrennten Welten, die
       sich nicht selten feindselig gegenüberstehen und auch in der Serie das
       Fundament der Geschichten bilden. Säkulare Tel Aviver Hipster lieben die
       Serie genauso wie Strengreligiöse aus ultraorthodoxen Zentren wie Bnei Brak
       und Jerusalem – zumindest die unter ihnen, die sich Fernsehen und Internet
       erlauben.
       
       Für sie hält die Serie eine revolutionäre Erfahrung parat: „Zum ersten Mal
       werden Ultraorthodoxe in einer kommerziellen Serie in einem positiven Licht
       gezeigt“, sagt Yaffa Solomon, Ehefrau eines ultraorthodoxen Rabbiners. Wir
       finden sie über eine Facebook-Seite, auf der sich religiöse Fans der Serie
       austauschen. Shtisel im col ha lomdes veke – „Shtisel mit all seiner
       Interpretationsfähigkeit und so weiter“, etwa so lässt sich der Name der
       hebräischsprachigen Gruppe übersetzen. Mehr als 6.000 Mitglieder
       diskutieren dort über Fragen, die mit ihrem religiösen Leben und „Shtisel“
       zu tun haben oder spinnen Witze der Serie weiter.
       
       Yaffa Solomon fühlt sich durch „Shtisel“ in die Zeit ihrer Kindheit zurück
       versetzt. Sie sei in einer ultraorthodoxen Familie in Jerusalem
       aufgewachsen, führe noch immer ein ultraorthodoxes Leben, wenn auch eher
       „light“. Das Internet zum Beispiel ist eigentlich in vielen haredischen
       Strömungen tabu – oder höchstens zensiert zu benutzen. Mit ihrer Familie
       lebt Solomon mittlerweile im säkular geprägten Ashkelon, südlich von Tel
       Aviv. „Wer ‚Shtisel‘ gesehen hat, fängt an, uns zu sehen“, sagt sie.
       „Diejenigen in meiner Nachbarschaft, die ‚Shtisel‘ gesehen haben, blicken
       auf die haredische Welt plötzlich mit mehr Sympathie.“
       
       ## Aus Neugier und mit Scham
       
       Geschrieben und erdacht wurde die Serie von Ori Elon und Yonatan Indursky.
       Beide sind ultraorthodox aufgewachsen und leben heute säkular. Vielleicht
       sind sich viele Haredim deswegen so einig, dass die ultraorthodoxe Welt in
       der Serie im Großen und Ganzen realistisch wiedergegeben wird. Auch Avraham
       Burstein, der eine kleine Rolle spielt und einer der wenigen Schauspieler
       in der Serie ist, die auch in Wirklichkeit ultraorthodox leben, hält die
       Serie für authentisch – abgesehen von kleinen Schnitzern.
       
       Man sollte meinen, dass die Serie unter diesen Bedingungen nichts für
       Säkulare sein kann. Schließlich stellt sie eine Welt positiv dar, die von
       Säkularen heftig kritisiert wird. Feminist*innen kritisieren die
       Unterdrückung der orthodoxen Frauen, andere kritisieren die Einschränkungen
       der individuellen Freiheiten und die Zensur, der sich Ultraorthodoxe
       unterwerfen. Doch trotz der Streitpunkte schauen auch viele Säkulare die
       Serie.
       
       Die Berlinerin und „Shtisel“-Guckerin Frauke Groner war zunächst nur
       neugierig. Groner hat eine Weile in London gelebt, in direkter
       Nachbarschaft einer haredischen Gemeinschaft, sagt sie. „Ich habe sie dort
       immer als das Andere empfunden, als Menschen, die meine Werte nicht teilen
       und nichts mit mir zu tun haben wollen.“ Doch mit der ersten Folge von
       „Shtisel“ habe sie das Gefühl gehabt, mit ebendiesen Personen im
       Wohnzimmer zu sitzen. Sie verliebte sich in die Figuren, in ihre
       Widersprüche, ihre Sehnsüchte.
       
       Es mag die Neugier sein, die viele Säkulare zunächst vor den Bildschirm
       lockt, aber dabeibleiben dürften sie aus anderen Gründen: wegen der Figuren
       mit Tiefe, des überzeugenden Skripts und der poetisch-melancholischen
       Erzählweise.
       
       Groner als Feministin findet es allerdings auch verstörend, dass sie die
       Serie so liebt. „Ganz viel, was in ‚Shtisel‘ passiert, kann ich eigentlich
       nicht gut finden“, sagt sie: „Und ich vermute, dass das Patriarchale etwas
       weichgespült ist.“
       
       ## Kein Urteil über Ultraorthodoxe
       
       Eine Serie, die ultraorthodoxes Leben ganz anders zeigt, ist die
       [2][preisgekrönte Netflix-Miniserie „Unorthodox“] aus dem Jahr 2020. In
       vier Episoden erzählt sie die Geschichte von Esther Shapiro, einer jungen
       Frau, die sich aus den patriarchalen Strukturen der ultraorthodoxen
       Gemeinschaft der Satmarer in New York befreit und in Berlin ein neues Leben
       beginnt. Verkörpert wird Esther von Shira Haas, die auch in „Shtisel“ eine
       tragende Rolle spielt. „Unorthodox“ basiert lose auf dem 2012 erschienenen
       [3][Memoir desselben Titels von Deborah Feldman], fügt dem allerdings einen
       fiktiven Handlungsstrang in Berlin hinzu.
       
       „Unorthodox“ ist eine Befreiungsgeschichte. Sie stellt die beiden Welten
       und ihre unterschiedlichen Werte einander gegenüber; Szenen, in denen die
       jung verheiratete Esther Shapiro von ihrem Mann trotz Schmerzen zum Sex
       gedrängt wird, und der Druck der Familie, der auf sie ausgeübt wird, machen
       es den Zuschauer*innen beinahe unmöglich, sich mit der ultraorthodoxen
       Seite zu identifizieren.
       
       „Shtisel“ geht anders vor, die Kamera bleibt in den haredischen Vierteln
       Geula und Mea Shearim. Nur selten setzt eine der Figuren ihren Fuß in die
       säkulare Außenwelt. Damit werden die Geschehnisse nicht der Prüfung nach
       säkularen Maßstäben ausgesetzt. Gleichzeitig wird es so möglich,
       einzutauchen in die Gefühlswelt von Menschen, von denen wir glauben mögen,
       wir hätten nicht viel mit ihnen gemeinsam. Wir lernen ihre Sehnsüchte
       kennen, ihre Wünsche und persönlichen Fehler. Die Serie selbst fällt kein
       Urteil über das Leben der Ultraorthodoxen.
       
       Möglicherweise ist in der Geschichte auch noch eine Form des Feminismus
       verborgen, die anders berührt als die klare und eindeutige Botschaft von
       „Unorthodox“. So zumindest sieht es Neta Riskin, die sich drei Monate lang
       auf die Rolle vorbereitete, sich an Wochenenden in strengreligiösen
       Familien in Jerusalem abguckte, wie sie essen, beten, sprechen und gehen.
       
       „Nehmen wir Homers ‚Odyssee‘“, sagt sie und schlägt damit gleich einen
       Bogen von den Anfängen des Storytellings bis heute. „Wir folgen seinen
       Affären, seinen Kriegen, seinem Scheitern. Seine Frau sitzt währenddessen
       zu Hause und wartet. In den letzten zehn, zwanzig Jahren wurde das
       Verhältnis mitunter umgedreht: Die Frau erobert die Welt, der Mann bleibt
       zu Hause.“ „Shtisel“ breche mit dieser klassischen Erzählweise. Bei
       „Shtisel“ folgt die Kamera nicht denen, die losziehen. Wir verfolgen nicht
       die Abenteuer von Gitis Mann, der nach Argentinien geht, um „endlich mal
       für sich zu sein“, sondern wir bleiben bei Giti, bei ihrer Sorge ums Geld
       und um das Wohl ihrer Kinder. „In gewisser Weise“, sagt Riskin, „ist das
       die feministischste Geschichte überhaupt.“
       
       25 Mar 2021
       
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