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       # taz.de -- Duisburger Filmwoche: Andere Blicke auf die Welt
       
       > Die Duisburger Filmwoche lief notgedrungen online. Zu sehen gab es
       > unterschätzte Dokumentarfilms und kluge Ausflüge an die Ränder der
       > Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Kurt Girk in „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel
       
       Konzentriert sitzt der grauhaarige Mann an einem Schreibtisch, der rechts
       mit Buntstiftkisten bedeckt ist. An der Wand vor ihm hängen Bilder,
       gerahmt, die mit Buntstiftschraffuren bedeckt sind. Auf manchen liegt über
       den Schraffurflächen ein Netz von Linien, die dem Gewebe zusätzliche
       Struktur geben. Über dem Kopf des Zeichners hängt ein Namensschild an der
       Wand: Adolf Beutler. In der Zeichnung auf dem Schreibtisch fügt Beutler
       gerade umbrafarbene Linien in ein Gewirr von roten und violetten Linien
       ein.
       
       [1][Sabine Herpichs Film „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen
       ist“] zeigt die Arbeit einer Reihe von Künstler:innen. Suzy van Zehlendorf
       eignet sich Werke der Kunstgeschichte ebenso wie Fotos aus
       Boulevardzeitungen an und ersetzt die Köpfe der Menschen durch Hähne.
       „Kunst heißt der Hahn“, wie van Zehlendorf treffend zusammenfasst. Gedreht
       wurde der Film überwiegend in den Ateliers der privat betriebenen
       Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin-Spandau, die Räume für Künstler:innen mit
       Behinderung bietet.
       
       Sabine Herpichs Film hat auf der 44. [2][Duisburger Filmwoche], die am
       Sonntag zu Ende ging, den 3sat-Dokumentarfilmpreis gewonnen, einen der
       beiden Hauptpreise des Festivals. Der zweite Hauptpreis ging an [3][Patric
       Chihas] „If It Were Love“, der die Arbeit rund um das Rave-Stück „Crowd“
       der französischen Theatermacherin und Choreografin [4][Gisèle Vienne]
       begleitet hat.
       
       Auch die Duisburger Filmwoche blieb dieses Jahr nicht verschont: Das
       Festivalkonzept schien coronatauglich, die Kataloge waren gedruckt.
       Zwischen Duisburg und Berlin-Neukölln ein Wettkampf bei den steigenden
       Fallzahlen. Statt eines Festivals am Ort mit Satelliten in Hamburg,
       München, Köln, Berlin, Zürich und Wien fand man sich dann doch leider in
       diesem Jahr nur vor den heimischen Rechnern ein.
       
       ## Glücksspiel und Revierkämpfe
       
       Zur Eröffnung lief der österreichische Dokumentarfilm „Aufzeichnungen aus
       der Unterwelt“ von [5][Tizza Covi und Rainer Frimmel], der wie Sabine
       Herpichs Film auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte. Covi und
       Frimmel porträtieren in ihrem Film zwei Lokalgrößen der kleinteiligen
       Wiener Unterwelt der 1960er Jahre. Alois Schmutzer, der „Stoßkönig“, und
       Kurt Girk, der „Frank Sinatra von Ottakring“ wirken unscheinbar, wenn sie
       in Kaffeehäusern von vergangenen Zeiten berichten. Das teils von blutigen
       Revierkämpfen begleitete Geschäft mit dem Glücksspiel war eine Weile
       einträglich, endete für einige der damaligen Protagonisten aber auch
       tödlich.
       
       Zugleich wird in den Erzählungen der älteren Herren ein Österreich der
       Polizeiwillkür sichtbar. Wie so viele Filme des Dokumentarfilmer-Duos
       Covi/Frimmel ist auch „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ ein kluger Ausflug
       an die Ränder der Gesellschaft, von wo aus andere Blicke auf die Welt
       möglich werden. Covi/Frimmels Filme gehören – womöglich gerade wegen ihrer
       Zugänglichkeit – zu den unterschätzten Perlen des europäischen
       Dokumentarfilms.
       
       Bei Jan Soldat ist es schwer geworden, mit dessen immer schneller werdender
       Filmproduktion mitzuhalten. 18 Filme weist seine Website für dieses Jahr
       aus und noch ist es ja nicht um. Die Filme von Jan Soldat leisten seit
       Jahren Pionierarbeit, eröffnen Perspektiven, die es ohne sie nicht gäbe.
       
       ## Zeigen ohne zu werten
       
       Zu „Wohnhaft Erdgeschoss“ vermerkt der Programmtext der Filmwoche: „Heiko
       sitzt nackt am Schreibtisch. Vor ihm Tabak und Tastatur, hinter ihm
       Raumsprays. Heiko pisst.“ Wie immer geht es bei Soldat um Männer und ihre
       Sexualität, um Vorlieben, die irritieren können, aber zugleich zeichnen
       Soldats Filme stets Biografien nach. Auch „Wohnhaft Erdgeschoss“ vereint
       beide Facetten.
       
       Die Kraft von Soldats Filmen besteht in der Intimität, die sie zwischen
       Filmemacher und Protagonist erzeugen. Seine Porträts zeigen ohne zu werten.
       „Wohnhaft Erdgeschoss“ wurde auf der Filmwoche mit dem Preis der Stadt
       Duisburg ausgezeichnet.
       
       In diesem Jahr fanden sich im Wettbewerb der Duisburger Filmwoche
       vergleichsweise viele schon bekannte Filme. Neben den Übernahmen von der
       Berlinale sogar zwei Filme, die schon regulär in den deutschen Kinos
       liefen. [6][Carmen Losmanns „Oeconomia“] und [7][Aysun Bademsoys „Spuren –
       Die Opfer des NSU“]. Bademsoy sucht Freude und Angehörige von drei
       NSU-Opfern auf und zeigt deren Umgang mit den Morden und dem Verlust. Drei
       Momentaufnahmen der Trauer, ein Panorama der Enttäuschung. Das Versagen der
       deutschen Behörden bei den Ermittlungen zum NSU, die Beschuldigungen der
       Familien der Opfer haben tiefe Spuren hinterlassen.
       
       In normalen Jahren lebt die Duisburger Filmwoche vom Austausch. Es läuft
       jeweils nur ein Film und nach der Vorstellung wechseln alle in den stets
       gut gekühlten Diskussionsraum. Der Diskussionsraum war dieses Jahr bei den
       meisten vermutlich wärmer, wer sitzt schon gut gekühlt daheim vor dem
       Rechner. Das wäre aber auch schon der einzige Vorteil dieser notgedrungen
       online gegangenen Ausgabe der Duisburger Filmwoche.
       
       Pünktlich zur Duisburger Filmwoche wurde die Website mit den Protokollen
       der Diskussionen neu aufgesetzt. Unter [8][protokult.de] können 43 der 44
       Festivaljahrgänge durchstöbert werden.
       
       11 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Outsider-Kunst-auf-der-Berlinale/!5664363
   DIR [2] /Zur-Duisburger-Filmwoche/!5636974
   DIR [3] /40-Duisburger-Filmwoche/!5353967
   DIR [4] /Deutsch-franzoesisches-Kulturprojekt/!5066129
   DIR [5] /Angebot-fuer-Frankfurter-Rundschau/!5073795
   DIR [6] /Dokumentarfilm-ueber-das-Geld/!5720015
   DIR [7] /Rechtsradikaler-Terror-und-die-Opfer/!5659815
   DIR [8] https://protokult.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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