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       # taz.de -- ESC-Berichterstattung: Zwischen Heuchelei und Anteilnahme
       
       > Laufen deutsche Journalisten Gefahr zu heucheln, wenn sie über
       > Menschenrechtsverletzungen vor dem ESC in Aserbaidschan schreiben? Pro &
       > Contra.
       
   IMG Bild: Die aserbaidschanische Hauptstadt Baku von ihrer glanzvollen Seite.
       
       Vor dem Finale des Eurovision Song Contest in Baku ist unter Beobachtern
       des Wettbewerbs ein Streit entbrannt, wie man angemessen über die
       Veranstaltung berichtet.
       
       Kern der Diskussion ist die Frage, wie journalistisch mit den
       demokratischen Defiziten des Gastgeberlandes umzugehen ist; mit
       Zwangsräumungen, fehlender Meinungs- und Versammlungsfreiheit, mit
       Schikanen durch die Polizei und unrechtmäßigen Verhaftungen. Auch in der
       Redaktion der taz wird diese Frage intensiv diskutiert.
       
       Für die taz berichtet aus Baku Redakteur Jan Feddersen, der den Eurovision
       Song Contest seit vielen Jahren beobachtet – schon vor seiner Abreise hatte
       er über Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan berichtet. [1][Er
       bloggt zudem für den NDR aus Baku]. In einer Kolumne auf [2][taz.de] hatte
       sich Feddersen zum Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus
       Löning, geäußert. Menschenrechtsskandale, wie sie Löning öffentlich
       angeprangert hatte, gebe es durchaus in Aserbaidschan, schrieb Feddersen.
       „Viele hier werden den Verdacht nicht los, dass es einerseits stimmt, was
       er mitteilte. Und andererseits auch eine Spaßbremse sondergleichen ist.“
       
       Daraufhin kritisierte der Generalsekretär von Amnesty International in
       Deutschland, Wolfgang Grenz, Feddersens Aussagen als „weltfremd“. Auch der
       Medienjournalist Stefan Niggemeier, der fü[3][r Spiegel Online aus Baku
       berichtet], hatte sich [4][in seinem Blog] kritisch zur Berichterstattung
       Feddersens geäußert. Journalisten, Fans und Kritiker hätten sich zuvor
       darauf geeinigt, dass es gut sei, wenn möglichst viele nach Baku fahren
       würden, um sich ein eigenes Bild zu machen. „Aber die Leute, die jetzt in
       Baku sind, sehen natürlich vor allem: die Fassaden.“ Felix Dachsel
       
       ## PRO
       
       Zunächst zu den Fakten: Dieses Land Aserbaidschan am Kaspischen Meer ist im
       Vergleich zu seinen Nachbarn nicht nur auf den ersten Blick eine westlich
       anmutende Oase.
       
       Über die Demokratiedefizite Russlands, über die theokratischen Despoten in
       Iran oder über das auch nicht gerade plurale Georgien muss man kein Wort
       verlieren. Eher noch über die Türkei – im Gegensatz zu dieser wird in
       Aserbaidschan eine strikte Trennung von Staat und Religion geachtet.
       
       Baku sieht westlich aus, Kopftücher bei Frauen sind rar, Schwule und Lesben
       werden durch kein Gesetz verfolgt. Dass Queerness in Aserbaidschan nicht so
       populär ist, liegt mehr an bislang fehlenden Einflüssen aus dem zentralen
       Europa. Was den Gehalt des Demokratischen anbetrifft, kommt dieses Land
       eher dem Niveau Rumäniens oder Bulgariens vor den Beitritten zur EU nahe.
       
       Baku verströmt überall den Charakter von Moderne und einen fast
       wahnsinnigen Willen zum Aufbruch. Organisationen wie Human Rights Watch
       oder Amnesty International machen seit dem Sieg von Ell/Nikki in Düsseldorf
       im Mai 2011 einen glänzenden Job, auch ich habe damals auf die Probleme
       hingewiesen, die es in Baku geben würde. Die Organisationen machen das,
       wofür sie da sind: auf Missstände hinzuweisen. Und sie tun das in Form von
       Kampagnen. Ihre Hinweise in Sachen ESC und Aserbaidschan waren nötig – und
       gut. Tatsächlich sitzen etwas mehr als ein Dutzend Menschen im Gefängnis,
       weil sie gegen das Regime in Baku auch durch (nicht genehmigte) Proteste
       aufstanden. Die europäische Welt erfährt nun, dass in Aserbaidschan noch
       manches im Argen liegt.
       
       Aber es ist kein Land wie Kambodscha unter den Roten Khmer, es ist kein
       Nordkorea, es ist kein Myanmar von vor einem Jahr: Vor allem ist es die
       freundlichste ESC-Gastgeberstadt, die sich denken lässt. Offenbar ist die
       immer breiter werdende Mittelschicht des Landes stolz, den arrivierten
       Europäern zu zeigen, dass sie so ein buntes Event veranstalten können.
       Anders beim ESC in Moskau 2009 oder in Belgrad im Jahre 2008. Dort wurden
       ESC-Besucher mehr geduldet und ertragen. Moskaus Bürgermeister Luschkow
       sagte damals, er werde nicht die Eröffnungsparty beehren – weil er einem
       Schwulen nicht die Hand schütteln wolle.
       
       Zur Medialisierung gehört auch, Missstände zu benennen – aber mir als
       Journalist war und ist wichtig, alle Perspektiven gründlich in den Blick zu
       nehmen. Aserbaidschan braucht gewiss mehr Akkuratesse in puncto
       Menschenrechte. Was wir nicht brauchen, ist eine Medialisierung, die
       einseitige und verzerrende Schwerpunkte formuliert. Wer momentan in Baku
       übersieht, dass auch durch den ESC die Stadt quasi europäisch „infiziert“,
       ja „gequeert“ wird, verkennt das Politische am ESC. Jan Feddersen
       
       ## Contra
       
       Die Aufgabe von Journalisten lässt sich nüchtern auf die Formel bringen:
       hinter die Fassaden blicken. Das in Aserbaidschan und beim ESC nicht anders
       als anderswo, nur dass die Fassaden hier ganz außerordentlich prachtvoll
       sind.
       
       Der Grand Prix ist für das autoritär herrschende Regime eine Fassade, um
       sich der Öffentlichkeit als europäisch, modern und weltoffen zu
       präsentieren. Einiges in Baku ist verblüffend europäisch.
       
       Doch viele europäische Werte und Ideale zählen hier nichts. Kritische
       Journalisten werden zusammengeschlagen und drangsaliert, friedliche
       Demonstrationen gewaltsam aufgelöst, Leben und Werk von Bürgerrechtlern
       brutal zerstört.
       
       Die Ausrichtung des ESC ist hier eine tatsächlich nationale Aufgabe, ein
       Regierungsprogramm. Deshalb gehört zur Berichterstattung darüber auch die
       Berichterstattung, um was für eine Regierung es sich handelt und welche
       Opfer Menschen dafür bringen mussten.
       
       Der große Parkplatz, auf dem in Baku täglich Hunderte Journalisten in
       Shuttle-Busse zur Kristallhalle umsteigen, ist der Ort, an dem vor kurzem
       noch Menschen in Mittelklasse-Wohnungen lebten, bevor sie eilig, brutal und
       vermutlich selbst nach aserbaidschanischem Recht ungesetzlich vertrieben
       wurden. Man kann es Verantwortung nennen, diese Menschen nicht zu
       vergessen, oder Solidarität.
       
       Es reicht aber schon ein journalistisches Selbstverständnis, hinter die
       Fassaden gucken zu wollen.
       
       Es ist nicht alles Elend, was man dort erblickt. Aber es gibt auch viel
       Elend, das man dort nicht auf Anhieb erkennt. Die Zahl der politischen
       Gefangenen zum Beispiel ist im Vergleich gar nicht so groß, die Opposition
       klein, die Zustimmung im Volk zum Präsidenten hoch. Aber das ist auch
       Ausdruck dafür, wie geschickt das Regime Macht und Geld für sich nutzt; wie
       drastisch und vollständig es seinen Bürgern Interesse und Engagement
       ausgetrieben hat.
       
       Jan Feddersen hat die Menschen, die darüber berichten, in vielfacher Weise
       verunglimpft. Er hat den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung
       eine „Spaßbremse“ genannt und Kritiker als „Menschenrechtisten“ verspottet.
       
       Dabei gibt es hier keinen Druck auf alle und jeden, sich zur politischen
       Lage zu erklären. Auf den Pressekonferenzen werden die Sänger nicht mit
       Fragen danach behelligt, Roman Lob darf einfach die Stadt toll finden und
       über Tattoos und Mützen reden. Der ESC-Zirkus darf ESC-Zirkus sein. Aber
       die Chance, auch kritisch hinter den Vorhang zu gucken und mehr zu
       erfahren, wo er gastiert, warum und zu welchem Preis, die müssen wir
       Journalisten nutzen. STEFAN NIGGEMEIER
       
       24 May 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://eurovision.blog.ndr.de/
   DIR [2] /
   DIR [3] http://www.spiegel.de/kultur/musik/videoblog-von-stefan-niggemeier-zum-esc-2012-waterloos-waterloo-a-834930.html
   DIR [4] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
   DIR Stefan Niggemeier
       
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