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       # taz.de -- EU-Liste sicherer Staaten: Verunsichertes Herkunftsland
       
       > Die EU-Kommission deklarierte diese Woche sieben Staaten als sicher genug
       > für Abschiebungen. Darunter auch Tunesien, wo gerade Migranten gejagt
       > werden.
       
   IMG Bild: Kein sicheres Herkunftsland, kein Sicherheit für niemanden, ob dauerhaft oder unterwegs, so scheint die Linie der EU zu sein
       
       Brüssel/Tunis taz | Tunesien ist ein sicheres Herkunftsland. Das konnte man
       zumindest der Liste mutmaßlich sicherer Herkunftsländer entnehmen, die die
       EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel vorgelegt hatte. Als sicher gelten
       nach Ansicht der Brüsseler Behörde auch das Kosovo, Bangladesch, Kolumbien,
       Ägypten, Indien sowie Marokko. Die EU-Kommission erwägt zudem, alle
       EU-Beitrittskandidaten als sichere Herkunftsländer einzustufen.
       
       Das führt aber – ähnlich wie im Fall Tunesien – auf menschenrechtliche
       Abwege. So wird im Kandidatenland Türkei die Demokratie mit Füßen getreten;
       [1][gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu]
       gehen Zehntausende auf die Straße. Auch die Ukraine ist ein Problemfall,
       denn das Land ist im Krieg und kann keineswegs als sicher betrachtet
       werden.
       
       Die EU-Kommission liefere mit ihrem Vorschlag den „Beweis für die eigene
       Verlogenheit“, kritisiert die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel von der
       Linken. „Ob in Tunesien, Ägypten oder der Türkei: Überall verschärfen die
       Regime die Repression gegen Oppositionelle und unabhängige Medien und
       schränken Grundfreiheiten und Menschenrechte ein“, sagte die Abgeordnete.
       
       Das Konzept der sicheren Drittstaaten widerspreche fundamental dem
       Grundsatz der individuellen Prüfung jedes Asylantrags und der Genfer
       Flüchtlingskonvention, so Demirel weiter. „Ihre blumigen Worte über
       Demokratie und Menschenrechte verfangen nicht mehr, wenn man gleichzeitig
       mit autoritären Regimen für die Abschottung paktiert.“
       
       ## Nur Deutschland definiert bisher „sichere Herkunftsländer“
       
       Bisher haben nur einzelne EU-Staaten wie Deutschland das – auch rechtlich
       umstrittene – Konzept sicherer Herkunftsländer eingeführt. Auf EU-Ebene gab
       es das bisher nicht. Die EU-Kommission betritt daher mit ihrem Vorschlag
       asylpolitisches Neuland. Wenn sie sich durchsetzt, würde die Liste
       angeblich sicherer Länder auch für Deutschland erheblich ausgeweitet.
       
       Das erklärte Ziel ist es, Asylverfahren zu beschleunigen und Abschiebungen
       zu erleichtern. Außerdem sollen künftig alle Mitgliedstaaten die
       Möglichkeit erhalten, eigene Herkunftsstaaten festzulegen, für die
       beschleunigte Verfahren erlaubt wären. Die EU-Kommission sieht diese
       Möglichkeit vor, wenn 20 Prozent oder weniger der Anträge aus dem
       entsprechenden Land angenommen werden.
       
       Der Vorstoß ist Teil der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
       (GEAS). Das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten müssen noch zustimmen.
       Außerdem läuft ein Verfahren am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Ein
       Urteil wird in den kommenden Monaten erwartet – es geht um die letztlich
       entscheidende Frage, welche Kriterien sichere Herkunftsländer erfüllen
       müssen.
       
       ## In Tunesien regt sich Widerstand
       
       Seit der Ankündigung der EU, Tunesien zum sicheren Herkunftsland zu
       erklären, regt sich in dem nordafrikanischen Staat Widerstand. Bei mehreren
       Straßenprotesten in der vergangenen Woche in Tunis hielten Aktivisten
       Plakate mit Parolen wie diesen hoch: „Dieser Vertrag tötet“ oder „Stoppt
       die koloniale Politik der EU“.
       
       Anlass für die Ablehnung ist jedoch nicht die Behauptung in Berlin und
       Brüssel, dass es in Tunesien keine politische Verfolgung, unmenschliche
       Behandlung im Strafvollzug oder Formen der Bestrafung mehr gebe. Gegen die
       Bestechlichkeit von Gerichten, gegen Polizeigewalt und willkürliche
       Ermittlungen der Staatsanwaltschaften gehen Menschenrechtsaktivisten
       bereits seit 12 Jahren auf die Straße.
       
       Die Kritik an den Zuständen in Justiz und im Sicherheitsapparat teilen
       sogar Anhänger des autokratischen Präsidenten Kais Saied. In vertraulichen
       Gesprächen machen Berater aus dem Präsidentenpalast der Zivilgesellschaft
       deutlich, dass die teilweise überharten Strafen der politischen
       Entscheidungsträger und Ermittlungen wegen Facebook-Einträgen keine
       Anweisung von oben sind. Sondern schlicht das Resultat der unbegrenzten
       Macht der Richter und Beamten seit Zeiten des autokratischen
       Ben-Ali-Regimes zwischen 1987 und 2011.
       
       ## Kein „außerordentliches Land“
       
       Das wurde besonders [2][an den Folgen des TV-Auftritts der Rechtsanwältin
       Sonia Dahmani] vor einem Jahr deutlich. Die landesweit bekannte 59-Jährige
       ist seit Jahren dafür bekannt, ihre Meinung als TV-Kommentatorin offen
       auszusprechen. Als ein zum Thema Migration eingeladener Studiogast den nach
       Tunesien kommenden „Afrikanern“ vorwarf, die außerordentlichen Schätze des
       Landes an sich zu reißen, platzte ihr der Kragen. „Von welchem
       außerordentlichen Land sprechen Sie denn? Von dem, dessen halbe Jugend
       aufgrund ihrer eigenen Lebensumstände auswandern will?“
       
       Während die Zuschauer der Talksendung mehrheitlich applaudierten, bereitete
       die Staatsanwaltschaft eine Anklage laut Paragraph 54 vor, der das
       Verbreiten von Falschmeldungen, unwahren Gerüchten oder die Gefährdung der
       öffentlichen Ordnung unter Strafe stellt. Im Mai 2024 wurde Dahmani zu zwei
       Jahren Haft verurteilt. Auch wenn die Strafe mittlerweile um sechs Monate
       reduziert wurde, ihre zuvor immer wieder geäußerte Kritik an den Zuständen
       in den tunesischen Haftanstalten hat sie letztlich selbst hinter Gitter
       gebracht.
       
       ## Tausende Kritiker in Haft
       
       „Irgendjemand im Machtapparat glaubt, mit der Verurteilung wegen solcher
       Bagatellen die Kritiker der politischen Elite in Angst und Schrecken zu
       versetzen, aber derjenige irrt“, sagte ein Menschenrechtsaktivist aus
       Tunis. Doch schon seine Weigerung, seinen Namen in einer Zeitung gedruckt
       zu sehen, zeigt, wie gut die aus vorrevolutionären Zeiten stammenden
       Methoden funktionieren.
       
       Niemand kennt die genaue Zahl derjenigen, die wegen kritischer
       Facebook-Posts in einem der überfüllten Gefängnisse sitzen, aber die
       letztjährige Amnestie des Präsidenten für einige seiner Kritiker zeigte: Es
       könnten Tausende sein.
       
       Doch die eigentliche Wut gegen das Migrationsabkommen mit der EU richtet
       sich zur Zeit nicht gegen die eigene Justiz, sondern gegen die Umsetzung.
       Seitdem in Italien ein zur Abschiebung inhaftierter Tunesier Anfang April
       unter dubiosen Umständen im Gefängnis starb, klagen tunesische Medien über
       zunehmenden Rassismus gegen Nordafrikaner im nördlichen Nachbarland. Doch
       die Gewalt gegen Fremde gibt es auch in Tunesien selbst – gegen
       Migrant:innen aus Subsahara-Afrika.
       
       Man wolle nicht mehr „Polizist der EU“ am Mittelmeer sein, sagen viele
       Bewohner der Fischerdörfer bei Sfax. [3][Dort leben bis zu 30.000
       Migrant:innen in Olivenhainen], ohne jegliche medizinische Hilfe.
       Seitdem die tunesische Küstenwache fast alle Boote nach Lampedusa abfängt,
       steigen die Spannungen zwischen Einheimischen und Geflüchteten und
       Migrant:innen.
       
       Das Antwort der Nationalgarde zeigt wohl, wie man sich Brüssel die
       Reduzierung der Asylbewerber vorstellt. Die Zelte der Menschen werden
       zerstört und verbrannt. Wer nicht rechtzeitig fliehen kann, wird mit Bussen
       an die algerische oder libysche Grenze gefahren und im Niemandsland
       ausgesetzt.
       
       18 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Eric Bonse
   DIR Mirco Keilberth
       
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