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       # taz.de -- Einsamkeit in Berlin: Großstadtgeister ohne Freunde
       
       > In Berlin fühlt sich jede*r Zehnte einsam. Die Pandemie hat die
       > Vereinsamung verstärkt, vor allem bei Jugendlichen.
       
   IMG Bild: Berlin ist eine „transiente Stadt“: Nur wenige wollen sich niederlassen und festlegen
       
       Berlin taz | Berlin bietet alles: grüne Oasen, Orte des Exzesses an jeder
       Ecke, 3,7 Millionen Einwohner*innen und unzählige Möglichkeiten,
       Freunde oder Sexpartner*innen per Mausklick zu finden. Dennoch fühlt
       sich jede*r Zehnte einsam.
       
       „Wie viele andere Großstädte ist auch Berlin eine hyperindividualisierte
       Stadt“, sagt Monika Jiang. Sie veranstaltet „Gemeinschaftskreise“, also
       Gesprächsrunden gegen Einsamkeit. „Die Stadt ist riesig, man ist ständig
       Stimulationen ausgesetzt und umgeben von Menschen. Aber die meisten führen
       ein abgekapseltes Leben in ihrer Blase“, sagt sie.
       
       Weil das Problem ein bundesweites ist, veranstaltet das Familienministerium
       zusammen mit dem Kompetenznetzwerk Einsamkeit dieser Tage eine
       Aktionswoche. Am Montag wurden auf einer Konferenz in Berlin die Ergebnisse
       des [1][Einsamkeitsbarometers vorgestellt, das die Einsamkeitsbelastung
       beobachtet.]
       
       Bis vor der Pandemie waren demnach bundesweit die über 75-Jährigen am
       stärksten von Einsamkeit betroffen. Seit Corona sind es vor allem die
       Jugendlichen. Das zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung.
       Demzufolge liegt der Anteil der „stark“ und „moderat einsamen“ 16- bis
       30-Jährigen, je nach Geschlecht und Altersgruppe, zwischen 33 und 51
       Prozent. Ein weiterer Befund: In Städten ist die Einsamkeit ausgeprägter.
       
       ## Die urbane Infrastruktur verschärft die Einsamkeit
       
       „Eine große Rolle spielen Städtebau und urbane Infrastruktur“, sagt Monika
       Jiang. Berlin sei so konzipiert, dass das Leben sehr individualisiert und
       isoliert ablaufe, zwischen Nachbar*innen gebe es kaum Berührungspunkte.
       In der „Hauptstadt der Einsamkeit“ leben etwa mehr als 55 Prozent der
       Einwohner*innen in Singlehaushalten. Die Verwaltung unterstützt
       heteronormatives Bauen, [2][alternative Wohnformen, wie lesbische oder
       mehrgenerationale Wohnprojekte werden strukturell benachteiligt].
       
       „Auch der Hyperfokus auf den Job sowie das Ideal der heteronormativen
       Zweierbeziehung führen zur Vernachlässigung von Freundschaften und zur
       Verschärfung von Einsamkeit“, sagt Jiang. Dadurch formten sich die „kleinen
       atomisierten Blasen, in denen wir in Großstädten leben“.
       
       Zudem sei Berlin eine „transiente Stadt“, in der sich nur wenige
       niederlassen und festlegen wollten, sagt Jiang. Häufiges Umziehen macht es
       vor allem für junge Erwachsene schwer, ein Netzwerk aufzubauen – das viele
       während der Pandemie ohnehin verloren haben. „Viele Jugendliche, die
       vereinsamt sind, schämen sich für ihr Versagen, geben sich auf und ziehen
       sich zurück“, sagt Sabine Loch vom Marktforschungsinstitut Rheingold.
       Oftmals in die digitale Welt, in der die Vereinsamung verstärkt werde,
       ergänzt Jiang.
       
       „Manche Gruppen sind stärker betroffen als andere, Frauen etwa stärker als
       Männer, Arbeitslose mehr als Arbeitende, Menschen mit Migrationshintergrund
       mehr als die ohne“, sagt Jiang. Aber von alten Menschen über
       Manager*innen bis hin zu Student*innen besuchten alle ihre
       Gemeinschaftskreise gegen Einsamkeit.
       
       ## Einsamkeit geht mit einer Abnahme des Vertrauens in politische
       Institutionen einher
       
       Die Folgen sind nicht nur für Betroffene, sondern auch
       gesamtgesellschaftlich schwerwiegend. Die Psychiatrien sind an ihrer
       Kapazitätengrenze, duch Corona ist die Nachfrage weiter angestiegen. Bis
       2025 sollen in Berlin 134 zusätzliche kinder- und jugendpsychiatrische
       Plätze eingerichtet werden. Laut Bertelsmann-Studie geht Einsamkeit zudem
       mit einer Abnahme des Vertrauens in demokratische Institutionen und dem
       Interesse an politischer Teilhabe einher und stärkt den Glauben an
       Verschwörungstheorien.
       
       „Nach der Schule tauchen viele Schulabgänger*innen ab und finden nicht
       den Weg in die berufliche Bildung“, sagt Sabine Loch. Unter die sogenannten
       „NEETS“ (Not in Education, Employment or Tranining) fielen 2022 in Berlin
       9,5 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren. Der Grund dafür sei
       bei einigen die Not, sich zwischen zu vielen Möglichkeiten entscheiden zu
       müssen; bei vielen sei es auf ein geringes Selbstwertgefühl und Einsamkeit
       zurückzuführen, sagt Loch.
       
       Um diese zu reduzieren, gibt es in Berlin zahlreiche Angebote:
       Nachbarschaftsplattformen wie nebenan.de, Apps wie „Meetup“ oder Hotlines
       wie Silbernetz, bei der einsame ältere Menschen anrufen können. Für
       Anfragen der taz sind verschiedene Anbieter jedoch nicht zu erreichen.
       Problematisch ist auch, dass viele Angebote nicht niedrigschwellig
       zugänglich sind und vor allem alte Menschen adressieren, laut
       Einsamkeitsbarometer 44 Prozent. Derweil schließen in Berlin Jugendclubs am
       laufenden Band.
       
       [3][Der Bezirk Reinickendorf hat als bundesweit erste Kommune seit Februar
       eine Einsamkeitsbeauftragte], die im Kiez vorhandene Projekte unterstützt
       und koordiniert. Als die CDU für die Einrichtung der Stelle warb,
       protestierte die FDP: „Einen Einsamkeitsbeauftragten, den brauchen wir
       nicht. Denn ein Einsamkeitsbeauftragter ist selber ein Einsamer – ein
       Einsamer, der Einsame sucht.“
       
       ## Einsamkeit ist immer noch Tabuthema
       
       Es brauche eine Entstigmatisierung des Themas, fordern Loch und Jiang.
       Zudem bedürfe es nicht nur Reduktions-, sondern auch Präventionsmaßnahmen,
       etwa Angebote, um die Verbindung zu sich selbst zu stärken. Schließlich
       brauche es mehr „Dritte Orte“: bereichernde Gesellschaftsräume, an denen
       das öffentliche Leben stattfindet, die nicht der Arbeitsplatz oder das
       Zuhause sind, sagt Jiang.
       
       „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Stadt so bauen können, dass es
       einen Raum fürs Zusammenkommen und zufällige Begegnung gibt“, sagt Jiang.
       Ein wenig Utopie zu wagen, würde Berlin nicht schaden.
       
       20 Jun 2024
       
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