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       # taz.de -- Emanzipation des Alterns: Weisheit in der Alterswurstigkeit
       
       > Forever young – wie uncool ist das denn? Eine Emanzipationsbewegung des
       > Alterns müsste Coolness und Weisheit miteinander verknüpfen.
       
   IMG Bild: Gelungene „Ich-Integrität“: Coolness im Alter
       
       Politisch korrekte Gedankenlosigkeit hat uns daran gewöhnt,
       gesellschaftliche Emanzipation in einer Art Märchenerzählschema
       wahrzunehmen. Eine vergangene Opfergeschichte wird mit gesellschaftlicher
       und linguistischer Kompensation in der besseren Gegenwart abgeschlossen.
       Tatsächlich aber sind die meisten Emanzipationsbewegungen Kulturkämpfe.
       Weswegen sie zwar einen Anfang haben, aber selten einen Abschluss.
       
       Emanzipation beginnt, endet und setzt sich fort als Auseinandersetzung um
       ein oben wie unten beanspruchtes Distinktionsgut. Durch die Jahrhunderte
       hat es in sehr Verschiedenem bestanden. In den Bauernaufständen von 1525
       war es die richtige Religion, 1789 die Tugend und so weiter. Seit der
       Harlem Renaissance haben schwarze Künstler die Vorstellung („Begriff“ wäre
       das falsche Wort) der Coolness als letztes Ziel der Emanzipation
       afroamerikanischer Künstler und freier Menschen überhaupt ausgearbeitet.
       Und dieses Konglomerat aus Gefühl und Begriff hat sich seither planetarisch
       ausgebreitet, obwohl (oder weil) kein Mensch es genau definieren kann.
       
       Emanzipation als kämpferische Arbeit an der persönlichen Coolness besteht
       seither in einem quasikünstlerischen Verhältnis zum eigenen Leben und zum
       eigenen Bild. Ursprünglich ist das ein Privileg des Adels gewesen. Aber
       vermittelt durch den europäischen Bildungsroman, ist der adlige Anspruch
       auf grazia und sprezzatura als Streben nach Coolness zu einem mentalen
       Leitmotiv demokratischer Massengesellschaften geworden. Wie gelungene
       Emanzipation überhaupt ja die Vorrechte der Privilegierten nicht abschafft,
       sondern jedem und jeder zugänglich macht. „Frei sein“ ist mit „cool sein“
       heute fast bedeutungsgleich geworden.
       
       Es liegt vielleicht daran, dass alte Menschen vorsichtiger sind als junge,
       dass eine Emanzipationsbewegung des Alterns ebenso wenig existiert, wie der
       Coolnessdiskurs über das Alter ganz unterentwickelt ist. Viele alte
       Menschen scheinen es für befreiend und cool zu halten, sich nach Kräften zu
       benehmen wie junge. Aber Hugh Hefner ist so uncool und unfrei wie übermäßig
       gebräunte Senioren in grellfarbiger, eng anliegender Kleidung im Würgegriff
       altersuntypischer Freizeitaktivitäten.
       
       Dieser blinde Fleck in unserem Nachdenken über Coolness und Emanzipation
       ist historisch eher neu. An seinem Ursprung hat der Diskurs über
       persönliche Coolness gerade alten Menschen exklusive Distinktionschancen
       geboten. Der Dialogessay „Il Cortegiano“ von Baldassare Castiglione bezieht
       sich auf Platons Symposium. Wo ein alter und hässlicher Mann – Sokrates –
       als der coolste und auch erotisch begehrenswerteste erscheint.
       
       ## Innerer Abstand zur Welt
       
       Der Begriff, um den man in diesem Zusammenhang nicht herumkommt, ist
       derjenige der Weisheit. Zeitgenössische Hirnforschung hat für die Tugend
       der sapientia eine physiologische Grundlage identifiziert. Gerade weil alte
       Gehirne nachweislich langsamer denken als junge, sind alte Menschen in der
       Lage, komplexe und widersprüchliche Sachverhalte aus verschiedenen
       personalen Perspektiven zu durchdenken und dadurch manchmal Auswege aus
       Konflikten und Zwickmühlen zu konzipieren, die jungen unlösbar scheinen.
       Man kann es auch einfacher sagen: Alten Leuten sind viele Dinge
       gleichgültiger als jungen und durch diesen inneren Abstand zur Welt sehen
       sie Lösungen, die junge nicht sehen können. Die Weisheit verhält sich zur
       Alterswurstigkeit wie die Tapferkeit zum Testosteron.
       
       Im Symposium und im „Cortegiano“ formulieren Platon und Castiglione statt
       der hirnphysiologischen interessanterweise eine erotische Theorie der
       Weisheit. Alte Männer, so heißt es, könnten sich zwar noch in junge Frauen
       verlieben, aber sie sollten es aus verschiedenen Gründen nur noch
       unkörperlich (eben platonisch) tun. Der Verzicht, dem Begehren Konsequenzen
       folgen zu lassen, gebe alten Menschen die Möglichkeit, vom einzelnen
       Schönen (das ihnen aus naheliegenden physiologischen Gründen sowieso egal
       sein kann) zur Wertschätzung vieles verschiedenen körperlich Schönen
       aufzusteigen.
       
       Gerade weil sie alt sind, können sie induktiv abstrahieren von der oder dem
       Schönen, die oder der sie als junger Mensch ausschließlich und bis zur
       Narrheit beschäftigt hätte. Dadurch kommen sie zur Idee des Schönen, dem
       summum bonum des antiken Philosophen wie des Renaissance-Hofmanns, des
       Gentleman wie vielleicht der modernen Coolness. Alte Leute sehen genauer
       als junge, wie cool das Seiende im Ganzen ist, weil sie nicht mehr so
       besessen davon sind, spezifische cool cats oder cool chicks für ihre
       sinnlichen Zwecke zu erobern. Diese elegante (sozusagen sublim promiske)
       Bewegung des Fühlens und Denkens steht im Zentrum des klassischen
       Nachdenkens über das gelungene Altwerden.
       
       ## Socrates und der Räuberhauptmann
       
       Vielleicht könnte man sie mit den ideellen Mitteln und Materialien der
       Gegenwart neu formulieren. Jedenfalls ist festzuhalten, dass der innere
       Abstand alter Menschen zu den eigenen Regungen und Begierden eine günstige
       Vorbedingung abgibt für jenes quasikünstlerische Verhalten zum eigenen
       Leben und zum eigenen Bild. Coolness setzt voraus, dass man die angeblich
       unwichtigen Umstände des Lebens und des Sterbens wichtiger nimmt als das
       Leben und den Tod selber – die richtige Kleidung, die richtige Haltung, die
       gelungene Formulierung der letzten Worte. Sokrates, der bis zum Eintreffen
       des Giftbechers über die Unsterblichkeit der Ideen diskutiert, ist ein
       Beispiel von Coolness und sprezzatura. Aber auch der Räuberhauptmann aus
       dem 18. Jahrhundert, der an einem Montag hingerichtet wurde und das
       Schafott mit der Bemerkung betrat, die Woche fange ja gut an.
       
       Dem Psychoanalytiker Erik Erikson zufolge geht die Coolness des Alters aus
       gelungener „Ich-Integrität“ hervor: Die ursprünglichen Wunschvorstellungen
       stimmen mit dem tatsächlichen Verlauf des eigenen Lebens im Rückblick
       einigermaßen überein. Glückliche alte Menschen, denen vieles egal sein
       kann, können sich cool und gelassen der Aufgabe widmen, die Ergebnisse
       ihres Lebens so zu arrangieren, dass dabei tatsächlich eine Art Kunstwerk
       entsteht. Ich habe als Beispiel für diese Art von abschließenden
       Lebenskunstwerken zwei Beispiele in zwei verschiedenen Büchern gefunden. Es
       sind Beschreibungen von Abschiedstourneen.
       
       Sylvie Simmons „I’m Your Man“ von 2012 vermittelt jemandem, der nicht dabei
       gewesen ist, das – offenbar keine Sekunde lang resignative oder peinliche –
       Abendlicht tiefen Glücks, das vor ein paar Jahren über der legendären
       Welttournee des damals 74-jährigen Leonard Cohen gelegen hat. Schon in
       seinen vierziger Jahren schrieb Cohen, das Lebensziel müsse es sein, ein
       Weiser seines eigenen Stammes zu werden. Die Tournee von 2008/2009 zeigte
       ihn als den Weltweisen der globalisierten Woodstock-Generation. Millionen
       sahen in ihm ihre große Zeit, die Verletzlichkeit, den Mut, die einmalige
       Aufbruchsstimmung der Leute, die in den späten sechziger Jahren jung
       gewesen sind.
       
       Cohen sagte später, er habe sich während dieser 200 Konzerte gefühlt wie
       eine Postkarte, die Menschen aus den entferntesten Winkeln der Welt
       einander schickten. Und tröstlich und inspirierend ist für uns mehr oder
       weniger Nachgeborene eben auch gewesen, wie gut der alte Mann bei alldem
       aussah.
       
       Die zweite Abschiedstournee, über die ich gelesen habe, ist weniger von
       allgemeinem Einverständnis getragen gewesen als die vorerst letzte Leonard
       Cohens. Sie wird beschrieben in einem schönen und wichtigen Buch Karin
       Wielands über Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl mit dem
       programmatischen Untertitel „Der Traum von der neuen Frau“. Noch im Jahr
       1960, immerhin 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, waren die
       Auftritte der Emigrantin Marlene Dietrich in Deutschland heftig umstritten.
       
       ## Die Coolness der Marlene Dietrich
       
       Es war eine seltsame Zeit, in die sich hineinzuversetzen heute Gott sei
       Dank einige Anstrengung kostet. Willy Brandt wurde damals öffentlich
       vorgeworfen, seinerzeit vor Hitler nach Schweden geflohen zu sein (statt
       sich ordnungsgemäß im KZ umbringen zu lassen). Karin Wieland beschreibt es
       so unnachahmlich, wie es gewesen sein muss: Marlene Dietrichs
       Pressekonferenz im Hilton, die unzähligen filterlosen Zigaretten, die
       maßgeschneiderten Kostüme, die cremefarbenen Handschuhe, den
       überdimensionierten schwarzen Hut mit der über ihre schmalen Schultern weit
       hinausragenden Krempe. Das berühmte, scheinbar durchsichtige Abendkleid.
       Den Applaus bei der Premiere. Willy und Ruth Brandt in der ersten Reihe.
       
       Aber Wieland erzählt auch von dem 17-jährigen Mädchen, das Marlene Dietrich
       damals nach einem Auftritt ins Gesicht gespuckt hat. „Sie zeigt den
       Berlinern, was sie durch Hitler verloren haben. Ihre Überlegenheit spielt
       sie nie aus, doch sie versteckt sie auch nicht.“ Von Deutschland flog sie
       nach Israel und bestand dort darauf, Deutsch zu singen. Ihre Coolness ließ
       ihr Alter verschwinden. Ihre Tournee war eine Bilanz der Hitlerzeit und
       eine Art Prophetie über das Land, in dem wir heute leben. Nur einer alten
       Künstlerin konnte so etwas gelingen.
       
       Aber geht es denn hier nur um alte Künstler? Keineswegs. Das Erstaunliche
       und Entscheidende besteht vielmehr darin, dass gutes Leben und gutes
       Altwerden offenbar gar keinen Unterscheid macht zwischen Nichtkünstlern und
       Künstlern. Die bekanntlich sowieso nur „mit Zeichen und Geräuschen tun, was
       andere mit ihren Partnern und Kindern tun, mit Arbeitskollegen,
       Handwerkszeugen, den Kontoauszügen ihres Geschäftes, dem Besitz, den sie in
       ihren Häusern ansammeln, der Musik, die sie hören, dem Sport, den sie
       ausüben oder beobachten, oder auch den Bäumen, an denen sie auf dem Weg zu
       ihrer Arbeit vorbeikommen“ (so hat der Philosoph Richard Rorty es
       beschrieben).
       
       Bertolt Brecht, der nicht sehr alt geworden ist, bloß 58, hat gewusst, dass
       die Probe auf das gelungene Leben auch ganz gewöhnlicher Leute in ihrem
       coolen Altwerden und jener sozusagen kosmischen Gleichgültigkeit besteht,
       die man Weisheit nennt. Zum Beispiel in dem Gedicht „Als ich im weißen
       Krankenzimmer der Charité“, wenn der Sterbende eine Amsel hört und sich
       freut am Gesang aller Amseln auch nach seinem Tod. Oder in der Erzählung
       „Die unwürdige Greisin“, in der es von der Großmutter des Erzählers heißt,
       sie habe „das Brot des Lebens aufgezehrt bis zum letzten Brosamen“.
       
       2 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephan Wackwitz
       
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