URI: 
       # taz.de -- Emily Dickinsons gesammelte Gedichte: Sag doch mal was, Mädchen
       
       > Ein leises Leben führte Emily Dickinson – nur in ihrer Lyrik fand sie zur
       > Sprache. Nun erscheint ihr Werk in einer klugen Übersetzung.
       
   IMG Bild: Immer hart gegen sich selbst: die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson.
       
       Die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson ist in Deutschland so gut wie
       unbekannt. Das könnte sich mit der umsichtig übersetzten und klug
       kommentierten zweisprachigen Ausgabe von Gunhild Kübler jetzt ändern.
       Dickinsons Werk gehört zu den Gründungsakten amerikanischer Literatur- und
       Mentalitätsgeschichte.
       
       Amherst, ihr Geburts- und Lebensort, liegt im „Pioneer Valley“ von
       Massachusetts im weiten Tal des Connecticut River, umgeben vom waldigen und
       sanft hügeligen Herzland der ersten Besiedlung Nordamerikas durch englische
       Puritaner. Ihre Familie gehörte im 16. Jahrhundert zum Uradel dieser „Great
       Puritan Migration“. Ein Dickinson gründete, ein anderer finanzierte Amherst
       College, noch heute eine der wichtigsten amerikanischen Einrichtungen
       höherer Bildung.
       
       Protestantischer Selbstbehauptungs-Heroismus war Emily auch als Frau in die
       Wiege gelegt: unorthodoxe Frömmigkeit, radikaler Individualismus, morbide
       Todessehnsucht und Härte gegen sich selbst, Freiheitspathos in politischen
       und intellektuellen Dingen.
       
       Ihr Leben war deprimierend arm an äußeren Ereignissen. Sie verließ Amherst
       nur ein einziges Mal, um ihren Vater in Washington zu besuchen (der dort
       Massachusetts im Kongress vertrat). Später bekam jahrzehntelang überhaupt
       niemand mehr die alternde Schönheit zu Gesicht, jedenfalls nicht außerhalb
       des Anwesens am Ortseingang der ländlichen Universitätsstadt (es ist heute
       eines der zahlreichen vielbesuchten neuenglischen Literaturmuseen).
       
       ## Weibliche Version puritanischer Düsternis
       
       „The Belle of Amherst“ wohnte dort in einem kleinen Zimmer, sprach auch mit
       Besuchern oft nur durch ihre halb angelehnte Tür, kleidete sich ganz in
       Weiß und lebte bloß noch für eine seelenvolle Korrespondenz und ein
       lyrisches Werk, von dem zu ihren Lebzeiten nur eine Handvoll von Gedichten
       in entlegenen Almanachen erschienen ist.
       
       Dickinsons Gedichte markieren den Umschlagspunkt angestammter puritanischer
       Düsternis und Selbstverleugnung in die freie und individualistische
       Gedankenwelt des „New England Transcendentalism“. Aus den Essays, Gedichten
       und Pamphleten Emersons, Thoreaus – und eben Dickinsons – leitet sich die
       amerikanische Innerlichkeit bis heute ab; Freiheitsliebe, Pragmatismus,
       Individualismus und leidenschaftliches Freundlichsein ebenso wie
       Selbstüberschätzung, Exzeptionalismus und religiöse Sentimentalität.
       
       Emily Dickinsons Bedeutung liegt darin, dass sie eine spezifisch weibliche
       Version dieser Mentalitäten literarisch begründete. Ihr Werk hat, ebenso
       wie das der männlichen transcendentalists, revolutionäre Folgen gezeitigt
       in der US-amerikanischen Literatur. Weder die Neuerungen und Leistungen
       Walt Whitmans noch die von J.D. Salinger und Philip Roth, vollends nicht
       die von und für Frauen geschriebene amerikanische Literatur der Gegenwart
       sind denkbar ohne ihre erst im späteren 19. Jahrhundert posthum
       bekanntgewordenen Gedichte.
       
       Hinwendung zum Alltäglichen und „Unpoetischen“, radikale Parteinahme für
       die eigenen, schamfrei ausgesprochenen Seelenregungen, schwärmerische
       Naturreligiosität und eine ostentative Einfachheit sind ihre Kennzeichen.
       Man kann diese kurzen, mit vielen Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen
       durchsetzten Gebilde vielleicht am besten beschreiben als radikalisierte
       und an die Grenze zur experimentellen Literatur getriebene
       Nobilitierungsform einer spezifisch weiblichen populären Literaturgattung:
       des Poesiebucheintrags. „Sie schließen mich in Prosa ein/ Wie ehedem als
       Kind/ Als sie mich, dass ich „still“ war/ Wegsperrten in den Spind// Still!
       – hätten sie gesehen/ Wie da mein Hirn – sich drehte –/ Genauso könnt ’nen
       Vogel man/ Einpferchen als Verräter.“
       
       ## Nachleben in der Popmusik
       
       Inspiriert sind diese Metren, Versformen, Gedankenstriche und stolz
       individualistischen Bekenntnisse aber auch vom calvinistischen Kirchenlied
       und von den europäischen Volksliedern, die man in Neuengland gesungen hat
       (aus dem Volkslied scheint Dickinsons raffiniertes Spiel mit unreinen
       Reimen zu stammen). Viele ihrer Strophen könnte man singen und man ertappt
       sich beim Lesen oft dabei, traditionelle Melodien zum Schriftbild
       hinzuzufantasieren: „Hier ein Stern und da ein Stern,/ Mancher irrt ab!/
       Hier ein Dunst – und da ein Dunst –/ Und dann – der Tag!“
       
       Nicht zufällig ist Emily Dickinson eine der am häufigsten vertonten
       Autorinnen überhaupt. Und die Singbarkeit ihrer Lyrik hat zu einem
       ausgedehnten Nachleben in der amerikanischen Populärmusik geführt, bei der
       New Yorker Cello-Rockband Rasputina zum Beispiel oder in der Musik zu dem
       Film „The Piano“ von Michael Nyman.
       
       All das ist schön und gut. Auf ästhetisch reizvolle, menschlich rührende
       und grundsätzlich interessante Weise kann man in Gunhild Küblers großer
       Hanser-Ausgabe der Gedichte Emily Dickinson studieren und sozusagen von
       Seite zu Seite nachvollziehen, auf eine wie tastende, unsichere und
       sozusagen wackelige Weise das literarisch Neue offenbar immer und überall
       zur Welt kommt.
       
       ## Erinnert an Goethe und Benn
       
       Im Fall Emily Dickinsons ist eine spezifisch weibliche (und sehr
       amerikanische) literarische Stimme im vorletzten Jahrhundert zum ersten Mal
       hörbar geworden, die aus gesellschaftlich verordneter Sprachlosigkeit
       ausbrach, sich mit den Befreiungs- und Suchbewegungen der
       transzendentalistischen Denker verbündete und zu überraschend modernen
       Lösungen und Auflösungen gefunden hat.
       
       Wie in Hölderlins Spätwerk (mit dem dasjenige Dickinsons die komplizierte
       posthume Editions- und Rezeptionsgeschichte teilt) findet sich in ihren
       Gedichten das Avancierte, Zukunftsträchtige und Geniale direkt neben dem
       Konventionellen und Unausgearbeiteten. Da erinnert manches an den späten
       Goethe oder an Gottfried Benn; manches andere bleibt konventionell,
       beliebig, marginal, zeitgebunden. „Wie scheint doch alles Werdende so
       krank.“ Oder zumindest: wie auf inspirierende Art unfertig.
       
       22 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephan Wackwitz
       
       ## TAGS
       
   DIR Lyrik
   DIR Literatur
   DIR Theater
   DIR Frauenrolle
   DIR Schleswig-Holstein
   DIR Buch
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Sizilien
   DIR Indiepop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Probenbesuch am Hamburger Schauspielhaus: Die Tyrannei des Weglassens
       
       Christoph Marthaler interpretiert am Hamburger Schauspielhaus Gedichte von
       Emily Dickinson. Ein Besuch bei einer Probe voller Ruhe und Heiterkeit.
       
   DIR Essayist über Lebensentwürfe von Frauen: „Dein Eigenes musst du verteidigen“
       
       Die Mutter des Autors Stephan Wackwitz wollte Künstlerin werden und ist
       Hausfrau geworden. Darüber hat er nun ein Buch geschrieben.
       
   DIR Literaturfestival in Schleswig-Holstein: Langsamer Lückenschluss
       
       Autoren aus Dänemark in der schleswig-holsteinischen Provinz? Es ist
       Literatursommer! Und der kommt beinahe ohne nordisches Krimifutter.
       
   DIR Der Roman „Jagen 135“: Die Suche nach dem Ort der Freitode
       
       Ein Fotograf soll den Ort finden, an dem sich viele Menschen selbst töten.
       Das Twin-Peaks-Mäßige des Buches zieht den Leser in seinen Bann.
       
   DIR In Syrien verfolgter Lyriker: Gefangener Nr. 13
       
       Der Dichter Faraj Bayrakdar saß Jahre in syrischen Gefängnissen. Er schrieb
       auf Zigarettenpapier, bis er freikam. Heute lebt er in Schweden.
       
   DIR Epos „Horcynus Orca“: Verloren an der Straße von Messina
       
       Stefano D’Arrigos viel gelobter Roman bewegt sich in einem eigenen Tempo.
       Will man nicht kapitulieren, muss man ihn als „Genießertext“ lesen.
       
   DIR Zwischen den Rillen: Die Sehnsucht nach dem Rausch
       
       Nacktheit, Blitzlichteffekte und neue Surfbretter von The Raveonettes: Auch
       auf dem Album „Pe’ahi“ überzeugt das dänische Duo mit Noiserock.