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       # taz.de -- Energie sparen im Ukraine-Krieg: Ein paar Tage abschalten in Berlin
       
       > Wer aus der Ukraine nach Deutschland in ein erleuchtetes Hotel kommt,
       > denkt sofort ans Energiesparen. Kann aber auch Pause vom Krieg machen.
       
   IMG Bild: Kerzen statt elektrischem Licht: 70-jährige Ukrainerin während eines Stromausfalls
       
       Als ich nach meiner Reise aus der Ukraine in Berlin eintraf und in das, wie
       mir schien, gemütliche und moderne Hotelzimmer kam, verspürte ich
       augenblicklich ein gewisses Unbehagen: Das Zimmer ist zu hell erleuchtet!
       „Schnell das Licht ausmachen“, war der erste Gedanke, der mir durch den
       Kopf ging.
       
       Noch vor wenigen Wochen hätte mich solch ein Verhalten noch selber
       erstaunt. Aber während ich in Berlin bin, spüren meine Landsleute
       mittlerweile fast in der ganzen Ukraine die [1][Auswirkungen der russischen
       Angriffe auf unsere Infrastruktur].
       
       Die Menschen in Kyjiw sitzen stundenlang in ihren dunklen, kalten
       Wohnungen. In der Gegend von Lwiw wurden erstmals iranische
       Kamikaze-Drohnen gesichtet und abgeschossen. Und im Gebiet Tscherniwzi nahe
       der rumänischen Grenze schlug die erste Rakete seit Beginn des russischen
       Überfalls ein.
       
       Weil es nicht mehr genügend Strom im Land gibt, lernen die Ukrainer jetzt
       wirklich Energie zu sparen. Innerhalb weniger Wochen ist das jetzt schon
       zur Gewohnheit geworden.
       
       In Berlin möchte ich ständig alle Lampen ausknipsen. Sobald ich mein
       Hotelzimmer betrete, mache ich als Erstes den Fernseher aus, der immer
       automatisch angeht. Beim Ausschalten einer weiteren Lampe stelle ich
       plötzlich fest, dass ich ein ähnliches Verhalten schon mal beobachtet habe.
       Allerdings ging es da ums Essen.
       
       Meine Großmutter wie überhaupt ihre ganze Generation ging sehr sorgfältig
       mit Brot und ganz allgemein mit Nahrungsmitteln um. Alles musste verwendet,
       nichts durfte weggeworfen werden. Denn während ihrer Kindheit herrschte der
       [2][Holodomor, die künstlich erzeugte Hungersnot in weiten Teilen der
       Ukraine in den 1930er Jahren].
       
       Damals nahm man den Ukrainern absichtlich nicht nur das Brot, sondern
       jegliche Nahrung und sogar das Saatgut. Alles, um die Keimzellen der Kultur
       – die unabhängigen Bauern – physisch zu vernichten und den Widerstand gegen
       die sowjetische Politik der Kollektivierung und beschleunigten
       Industrialisierung zu brechen.
       
       Fast neunzig Jahre später nimmt man den Ukrainern Strom und Heizenergie, um
       sie zum Ende der Kampfhandlungen zu zwingen. Zum Glück sind wir jetzt ein
       unabhängiger Staat mit einer eigenen Armee und der Unterstützung durch
       große Teile dieser Welt.
       
       In den 1930er Jahren wusste die Welt nichts von dem, was in der Ukraine
       geschah oder verschloss die Augen davor, weil sie selbst unter dem Schock
       der Großen Depression stand. Heute wird alles früher oder später öffentlich
       bekannt, dank der Presse und den sozialen Medien.
       
       Die ukrainischen Flaggen, die ich am Bahnhof und in den Berliner Straßen
       gesehen habe, sind ein Zeichen dafür, dass wir dieses Mal nicht alleine
       sind. Das wachsende Interesse auf Seiten der deutschen Gesellschaft in
       Bezug auf die Ukraine zeigt, dass sie uns nach Jahren vergeblicher
       Hoffnungen auf engere Beziehungen zu Russland und unter Ignorierung der
       Ukraine nun endlich hören wollen.
       
       An den allerersten Tagen des russischen Großangriffs haben gerade die
       Nachrichten von Freunden und Bekannten aus anderen Ländern sehr geholfen,
       den ersten Schock zu überwinden.
       
       Jetzt hilft uns [3][das deutsche Flugabwehrsystem] dabei, die ukrainischen
       Städte vor den iranischen Kamikaze-Drohnen und russischen Raketen zu
       schützen. Die Erwartung wachsender Rüstungshilfe und Unterstützung für die
       ukrainische Wirtschaft lässt uns auch dann hoffnungsvoll in die Zukunft
       blicken, wenn Wladimir Putin Hunderttausende neuer Soldaten in den Kampf
       schickt. Er setzt darauf, dass die Welt müde wird von dem fortdauernden
       Krieg.
       
       Die wenigen Tage, die ich in Deutschland ohne Angst um mein Leben und die
       echte Notwendigkeit, überall das Licht auszuschalten, verbracht habe, haben
       mir geholfen, mich ein bisschen zu erholen. Aber das Wichtigste war, dass
       sie mir das Gefühl vermittelt haben, dass die Ukrainer nicht alleine sind.
       Und ich glaube daran, dass das so bleiben wird. Das wird mir in meiner
       kalten Wohnung ein Gefühl von Wärme geben, und auch unseren Soldaten, die
       noch vor Kurzem Journalisten, Ärzte und Arbeiter waren, in den
       Schützengräben an der Front.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       14 Nov 2022
       
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