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       # taz.de -- Entwicklung des feministischen Diskurses: Ich*
       
       > Ein Blick auf zwei Ausgaben der Zeitschrift Kursbuch – von 1977 und 2017.
       > Den Unterschied kann man auf drei Buchstaben bringen.
       
   IMG Bild: Erster Jahrestag des Women's March in Barcelona
       
       Kleines Rätsel. Aus welchem Jahr stammt der folgende Satz: „Es gibt keine
       ‚Frauenthemen‘. Themen werden zu Frauenthemen, weil Männer sich nicht drum
       kümmern.“ 1977 oder 2017? Oder der hier: „Während wir reden, habe ich mich
       schon entschieden, mit ihm ins Bett zu gehen – vorausgesetzt dass auch er
       will.“ 2017? 1977? Lösung folgt.
       
       Manche Aspekte der sogenannten Frauenfrage scheinen sich nie zu ändern. Im
       Großen und Ganzen aber liegen Welten und 40 Jahre feministischer Diskurs
       zwischen dem Kursbuch „Frauen“ von 1977 und „Frauen II“ von 2017. Auch das
       Kursbuch hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, 1965 von Hans Magnus
       Enzensberger gegründet, war es lange eine maßgebliche linke
       Kulturzeitschrift, erschien in verschiedensten Verlagen wie Suhrkamp,
       Rotbuch, Rowohlt, wurde 2008 wegen zu geringer Auflage eingestellt, 2012
       aber unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger
       neu belebt.
       
       Wenn man die Unterschiede von „Frauen“ und „Frauen II“ auf einen Begriff
       bringen sollte, dann hieße der: „Ich“. Das alte Kursbuch – eng bedruckt mit
       viel Text pro Seite – ist voll mit Erfahrungsberichten und Erforschungen
       persönlicher Befindlichkeit. Schmerzhaft genau schildert etwa Beate
       Klöckner, warum sie es nicht wagt, sich im Germanistikseminar zu Wort zu
       melden, auch wenn sie durchaus etwas zu sagen hätte. Alle Gedanken kreisen
       um dieses Sprechenwollen und die eigene dünnhäutige Unsicherheit. „Wenn ich
       jetzt was sage, dann schmunzeln die vielleicht über mich, wer weiß. Jetzt
       exponiert die sich auch noch. Das kommt mir alles so absurd vor.“
       
       Zu lesen ist aber auch ein launiger Selbstversuch von Anna Petermann und
       Christine Darmstadt über Kneipenbesuche an verschiedenen Wochentagen und
       die entsprechenden Kontaktanbahnungen mit Männern. Hierher stammt auch der
       eingangs zitierte Satz: „Während wir reden, habe ich mich schon
       entschieden, mit ihm ins Bett zu gehen.“ Die Autorinnen geben zusätzlich
       Auskunft über beängstigend hohe Gasrechnungen, Stricken, Fernsehen und
       Schreibblockaden beim Verfassen des Textes.
       
       ## Die Frau wird entdeckt
       
       Andere Artikel im Kursbuch 47 erzählen von der Sozialarbeit mit Mädchen aus
       schwierigen familiären Verhältnissen oder dokumentieren Statements
       17-jähriger Schülerinnen über ihre Besuche in Frauengruppen, samt den
       erotischen Unsicherheiten, die das manchmal mit sich bringt. Martina de
       Ridder liefert eine kenntnisreiche Analyse der Animierdamen-Ökonomie in
       Nachtclubs samt Preisliste: 250 Mark für eine Flasche Champagner samt Dame
       im Separee.
       
       1977 ist „Frausein“ das brennende Thema. Wie bin ich Frau, wie will ich
       sein, wie fühle ich mich dabei – als sei die Frau für Frauen ein komplett
       neu zu entdeckender und vor allem zu erobernder Kontinent. Denn bislang war
       sie nur ein Spiegel der Wünsche des Mannes, ein Sich-Zurücknehmen, ein
       Nichts und, wie Barbara Duden es ausdrückt, durch die bürgerliche
       Gesellschaft zugerichtet zu „einer Person ohne Ich.“ Im Kursbuch 47 liest
       man – sorry: frau – die Aufregung darüber auch zwischen den Zeilen: in die
       Sichtbarkeit hinauszutreten, sich ernst zu nehmen, sich selbst zu erfahren
       gemeinsam mit anderen Frauen, und all das verquickt mit einer Prise
       Klassenkampf.
       
       Die Themen, die „Frauen II“ besetzt, sind dagegen kaum noch persönlicher
       Natur: Es geht um Gender, Gender-Kritik, um die Care-Krise und
       Rollenverteilung, es geht – direkt und indirekt – um Rassismus und den
       Blick über den nationalen Tellerrand. Während im Kursbuch 47 Ele
       Schöfthaler am historischen Beispiel von Zunftmeisterinnen zeigt, wie
       Frauen langsam aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen wurden, ist im Kursbuch
       192 die persische spirituelle Lehrerin Tahiri das Guckloch zu anderen
       Welten. Es gab sie schon immer, die starken, unabhängigen Frauen. 1977
       sucht man sie im Mittelalter, heute im Fernen Osten.
       
       Uneindeutig war die Welt auch 1977 und kompliziert die Frage, auf welche
       Weise frau Erotik und Sex entdecken soll, wie sie mit Konkurrenz unter
       Frauen umgeht, wie sie es mit den Männern hält, ob sie „politisch korrekt“
       (so hieß das nur noch nicht) die Frauenfrage mitbedenkt. Im Vergleich wirkt
       das Kursbuch 47 trotz der formulierten Unsicherheiten wie ein dichter, mit
       Alltag gesättigter Erfahrungsblock. Das Kursbuch 192 dagegen kommt eher als
       ein luftiges Netz aus abstrakten Fäden daher, gesponnen aus dem Wissen um
       die auszuhaltende „fuzzy logic“ der Geschlechterverhältnisse.
       
       Der Begriff „Frau“ geht jedenfalls nur noch in Anführungszeichen, meint
       Paula-Irene Villa. Ein Bezug zum Alltag aber, die persönliche Dringlichkeit
       ist in „Frauen II“ wenig spürbar, und ein kämpferisches Ich bleibt
       allenfalls noch bei Margarete Stokowski, die – tausendmal ironischer als
       ihre Vorgängerinnen – über „Mein Leben als feministische Kolumnistin“
       schreibt. Hier löst sich auch der Rest vom Eingangsrätsel: Den Satz „Es
       gibt keine 'Frauenthemen’“ hat sie geschrieben.
       
       ## Fluidität gegen Stillstand
       
       Wie beim „Bäumchen-wechsel-dich“ scheinen jene Master-Theorien, die die
       Welt erklären und das Denken leiten, heute ausgetauscht.
       Kulturwissenschaften haben die Psychoanalyse beerbt, postmoderne und
       postkoloniale Theorie den Marxismus als Gesellschaftslehre.
       
       1977 erklärt Marina Moeller-Gambroff noch strikt psychoanalytisch, dass das
       feministische „Feindbild Mann“ im Grunde auf einem nicht bearbeiteten
       Mutterkonflikt beruhe. Männerhass sei – wie auch Frauenhass – Symptom einer
       Abwehr der omnipotenten Mutter-Imago, die „individuelle Bewältigung des
       Matriarchats“ müsse daher der „kollektiven Bewältigung des Patriarchats“
       vorausgehen. Heute klingt so etwas eher versponnen, obwohl noch ein wenig
       Erinnerung an psychoanalytische Denkweisen mitschwingt, wenn Christina von
       Braun im Kursbuch 192 die gegenwärtige populistische Kritik an Gender als
       einen „Deckdiskurs“ deutet. Über die Frage der „Wandelbarkeit der Körper“
       werde ein Kampf ausgetragen, bei dem es in Wirklichkeit gar nicht um
       Geschlecht gehe, sondern vielmehr um soziale und kulturelle Mobilität,
       meint von Braun.
       
       Fluidität gegen Stillstand, Hybridität gegen Eindeutigkeit – sind das die
       Frontlinien heute? An die Stelle des Klassenkampfes als Aufgabe der
       politischen Avantgarde, so scheint es, ist jetzt Antirassismus getreten.
       Das Kursbuch 47 erwähnt noch Arbeiterinnen, die in der Fabrik schuften,
       hier in Deutschland – jetzt sind die Fabriken weit weg und die
       Unterdrückten kommen von fern her. Das mag einer der Gründe dafür sein,
       dass uns als ausgezeichnetes politisches Subjekt heute nicht mehr der/die
       Arbeiter*in erscheint, sondern der/die Migrant*in.
       
       Das Gelenkstück zwischen den beiden Frauen-Kursbüchern ist ein Text der
       Schriftstellerin Karin Reschke, der 1977 schon erschien und 2017 erneut
       abgedruckt ist. In ihm artikuliert die Autorin ihr Unbehagen an den
       „Power-Frauen“, den Übermüttern der Bewegung, an Shulamith Firestone etwa
       oder Alice Schwarzer, deren Eindeutigkeit in der Mann=Feind-Zuweisung ihr
       Bauchschmerzen verursacht. „Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass der
       sexuelle Status die Ausgangsposition für das proletarische Elend der Frau
       an sich ist“, schreibt Reschke.
       
       Sex/Arbeit/Gewalt, das waren 1977 die Kernbegriffe und Themen. Heute wären
       sie gar nicht mehr so leicht auf den Punkt zu bringen, sie heißen
       Gender/Migration/Inklusion vielleicht. Sind die alten Fragen gelöst oder
       nur die ehemaligen Kategorien taub geworden? Damals war die große
       Diskussion, ob Frauen autonom agieren sollten oder mit den Männern
       zusammen. Das Problem scheint vom Tisch. Aber ist es das wirklich?
       Erstaunlich ist auch die Frage Reschkes, ob Arbeit nicht eine Form von
       Gewalt sei, die nur aus Gewohnheit ertragen werde. Ist das beantwortet?
       Vielleicht lösen sich Probleme ja gar nicht, sondern werden nur abgelöst
       von anderen, also fallen gelassen, vergessen, und sie hängen dann wie
       ziellose Fäden abgerissen im Nichts.
       
       Karin Reschke geht mit ihren feministischen Schwestern hart ins Gericht:
       „Ihr setzt euch ordentlich zusammen in Arbeitsgruppen und geht die Texte
       durch wie Briefmarken.“ War das damals auch schon so? In der Rückschau
       erscheint der alte Feminismus, lebendiger, fühlvoller, existenzieller und
       aufgewühlter als die gendermultiple „fuzzy logic“, die wir heute kennen.
       Aber wenn man* mittendrin steckt, ist das theoretisch-politische Geschäft
       wohl immer ein Stück weit öde, und daher stammt der folgende Satz von 1977
       und von 2017: „Kaum ein Text, der euch so an die Nieren geht, dass ihr
       schreit.“
       
       23 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Roedig
       
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