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       # taz.de -- Erhebung zu Militärausgaben: EU rüstet auf – und hat wenig davon
       
       > Für Wachstum bringen hohe Militärausgaben wenig, sagt eine neue
       > Greenpeace-Studie. Wegen der Haushaltskrise fordern Experten ein
       > Umdenken.
       
   IMG Bild: Rechtfertigt die Finanzierung seines Wehretats: Boris Pistorius am 29. 11. im Bundestag
       
       Berlin taz | In diesen Tagen wird Bundesverteidigungsminister Boris
       Pistorius (SPD) nicht müde, die Finanzierung seines Wehretats zu
       rechtfertigen. Zuletzt am Mittwoch im Bundestag. Trotz der aktuellen
       Haushaltskrise – [1][ausgelöst durch das Karlsruher Urteil zum Klima- und
       Transformationsfonds (KTF)] – sieht er keine Notwendigkeit, bei seinem Etat
       zu sparen. Es gebe bislang keinerlei Anforderungen an ihn, einen Beitrag
       zur Konsolidierung zu leisten, so Pistorius.
       
       Das Militärbudget soll 2024 um rund 1,7 Milliarden Euro auf 51,8 Milliarden
       Euro steigen. Auch [2][das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro],
       das Bundeskanzler Olaf Scholz unmittelbar nach Russlands Angriff auf die
       Ukraine veranschlagte, wird unangetastet bleiben. Ohnehin ist dieser
       Sondertopf nicht betroffen, er ist im Grundgesetz festgelegt.
       
       Es herrscht Krieg in Europa. Die internationalen Anforderungen – allen
       voran aus der Nato – sind enorm. Deutschland will das Zwei-Prozent-Ziel
       unbedingt erfüllen, also zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für
       Verteidigung ausgeben. So ist es in der Nationalen Sicherheitsstrategie
       ausgeführt, die im Juni vorgestellt wurde. Und Pistorius und Scholz
       bekräftigen dies, wo immer sie können. Sei es bei der Wehrtagung der
       Bundeswehr, [3][beim letzten Nato-Gipfel in Vilnius], bei Treffen und
       Gesprächen mit Vertreter:innen der USA, beim Koordinierungsgremium für
       die Ukraine-Unterstützung in Ramstein, bei der Münchner
       Sicherheitskonferenz.
       
       Die Begründung für die aktuellen Investitionen in Milliardenhöhe ist die
       Kriegslage in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein eindrückliches Beispiel ist
       die Zusage Pistorius’, rund 4.000 Soldat:innen dauerhaft in Litauen zu
       stationieren. Die baltischen Staaten sehen sich seit Jahrzehnten durch
       Russland bedroht, seit Februar 2022 noch einmal mehr als zuvor. [4][Die
       Zusage kostet, auch wenn Litauen bereits eine Milliarde an Unterstützung
       zugesagt hat]. Aber Kasernen bauen, Infrastruktur für die Soldat:innen
       und ihre Familien schaffen, Prämien zusätzlich zum Sold der dauerhaft
       stationierten Streitkräfte – das alles ist teuer.
       
       ## Wurde die Bundeswehr kaputtgespart?
       
       Und ein weiterer Grund wird seit Jahren angeführt: [5][Der schwerfällige
       Apparat der Bundeswehr sei seit Jahren kaputtgespart worden], es fehlt an
       Ausrüstung, an gut ausgebildetem Personal. Auch die Wehrbeauftragte Eva
       Högl (SPD) hat dies in ihrem aktuellen Bericht angeprangert – und mahnt zu
       dringenden Reformen. Auf Widerstand stoßen die Aussagen des
       Verteidigungsministeriums aufgrund der aktuellen Lage kaum. Aber stimmt es
       auch, dass die Bundeswehr in den vergangenen Jahren zu wenig Geld erhalten
       hat und sind die angedachten höheren Investitionen gerechtfertigt?
       
       Die Greenpeace-Büros in Deutschland, Italien und Spanien kommen [6][in
       einer Erhebung], die der taz vorliegt, zu einem anderen Schluss. Insgesamt
       sind in den letzten zehn Jahren die Militärausgaben der NATO-EU-Länder um
       fast 50 Prozent gestiegen – von 145 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf ein
       prognostiziertes Budget von 215 Milliarden Euro im Jahr 2023, heißt es
       dort. Zum Vergleich: Die Summe ist größer als das jährliche
       Bundesinlandsprodukt eines Landes wie Portugal.
       
       Konkret auf Deutschland, Spanien und Italien bezogen bedeutet das:
       Deutschland hat innerhalb eines Jahrzehnts seine Militärausgaben um 42
       Prozent gesteigert, Italien um 30 Prozent – und Spanien gar um 50 Prozent.
       Gekauft wurden damit ausschließlich Waffen und Ausrüstung. Von 2022 auf
       2023 verdreifachte Deutschland seine Ausgaben auf 13 Milliarden Euro, in
       Italien sind es 5,9 Milliarden Euro, in Spanien 4,3 Milliarden Euro. Auch
       die Einfuhr von Waffen innerhalb der EU hat sich zwischen 2018 und 2022
       verdreifacht. Haupteinkaufsland sind die USA.
       
       Die EU hat sich dem Weg der Aufrüstung angeschlossen, schlussfolgert
       Greenpeace und kritisiert scharf die Zusagen für aktuelle Mehrausgaben, um
       die deutschen Streitkräfte besser auszustatten. „Die Bundeswehr wurde in
       den vergangenen Jahren bereits finanziell stark bevorzugt und keineswegs
       kaputtgespart“, sagte Alexander Lurz, Greenpeace-Experte für Frieden und
       Abrüstung, der taz. Lurz spricht von einem dysfunktionalen System, das
       Milliarden erhält. „Es braucht erst eine durchgreifende Reform des
       Beschaffungswesens.“
       
       ## Scharfe Kritik an höherem Wehretat
       
       Angesichts der ungelösten aktuellen Haushaltskrise stehen Sozialausgaben
       oder Investitionen in Klimaschutz auf der Kippe. Für Lurz eine fatale
       Einschätzung. „Angesichts des 60-Milliarden-Lochs im Haushalt muss jetzt
       das Bundeswehr-Sondervermögen zur Finanzierung des regulären
       Bundeswehr-Beschaffungsetats herangezogen werden – anstatt bei Sozialem und
       Klimaschutz zu sparen“, sagt der Abrüstungsexperte.
       
       Prioritätensetzung ist das eine. Aber die Nichtregierungsorganisation
       untersucht in ihrer Erhebung auch den wirtschaftlichen Mehrwert für die
       Staaten, wenn es um Rüstungsinvestitionen geht. Grundlage dafür sind die
       Effekte für mehr Arbeitsplätze und das Wirtschaftswachstum in den
       jeweiligen Ländern. Allein die Tatsache, dass Investitionen auch anteilig
       in Importe fließen, hemmt die Entwicklung in den Staaten. Laut Studie
       führten in Deutschland Ausgaben in Höhe von einer Milliarde Euro für die
       Beschaffung von Rüstungsgütern zu einem Anstieg der inländischen Produktion
       um 1,23 Milliarden Euro. Mit Blick auf Beschäftigungseffekte entspräche
       dies nur 6.000 zusätzlichen Jobs in Deutschland.
       
       Würde eine Milliarde Euro in Umwelt, Bildung und Gesundheit investiert,
       sähe das Zahlenspiel laut Greenpeace komplett anders aus. In der Studie
       gehen die Expert:innen im Bereich Umweltschutz in Deutschland von einem
       Zuwachs in der inländischen Produktion von 1,752 Milliarden Euro aus, für
       das Bildungswesen und die Gesundheitsbranche wird von Zahlen zwischen 1,19
       und 1,38 Milliarden Euro ausgegangen.
       
       In Arbeitsplätzen gerechnet könnten dies 11.000 Jobs im Umweltbereich
       werden, rund 18.000 für die Bildung und rund 15.000 im Sektor Gesundheit.
       Auf Basis dieser Zahlen wäre Aufrüstung ein „schlechtes Geschäft“.
       „Steigende Militärausgaben führen in Europa zu einem geringeren
       Wirtschaftswachstum, zur Schaffung von weniger Arbeitsplätzen und zu einer
       geringeren Qualität der Entwicklung“, heißt es in der Studie. Interessant
       ist in diesem Zusammenhang auch der Vergleich zwischen steigenden Ausgaben
       für Militär und dem deutlich geringeren Anstieg des Bruttoinlandsprodukts
       innerhalb der EU.
       
       Zwischen 2013 und 2023 stieg die Wirtschaftsleistung in den Nato-EU-Staaten
       um 12 Prozent, die Gesamtbeschäftigung um 9 Prozent. Die
       Verteidigungsausgaben stiegen dagegen um rund 46 Prozent.
       
       In Anbetracht des Ukraine-Kriegs scheint eine Verschiebung der
       Investitionen für Rüstungsgüter in andere Bereiche derzeit aber politisch
       kaum machbar. Dies zeigt auch der am Donnerstag veröffentlichte
       Jahresbericht der EU-Verteidigungsbehörde (EDA). Demnach haben die
       Militärausgaben der EU-Mitgliedsstaaten 2022 mit 240 Milliarden Euro eine
       Rekordhöhe erreicht. Das sind rund sechs Prozent mehr als 2021. Insgesamt
       gaben die EU-Staaten im vergangenen Jahr rund 1,5 Prozent ihres
       Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Also deutlich weniger als das
       Zwei-Prozent-Ziel der Nato. 2023 sollen es noch einmal 30 Milliarden Euro
       mehr werden für die Aufrüstung.
       
       30 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Regierungserklaerung-von-Olaf-Scholz/!5976827
   DIR [2] /Sondervermoegen-ist-sicher/!5975023
   DIR [3] /Militaerhilfe-fuer-Ukraine/!5962971
   DIR [4] /Nato-Gipfel-in-Vilnius/!5943687
   DIR [5] /Mehr-Geld-fuer-die-Bundeswehr/!5972197
   DIR [6] https://www.greenpeace.org/static/planet4-italy-stateless/2023/11/d4d111bc-arming-europe.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tanja Tricarico
       
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