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       # taz.de -- Erinnerungsorte in USA und Russland: Widerspruch zweckvoll
       
       > In den USA wird aktuell über koloniale Denkmäler diskutiert. Russland
       > zeigt, wie man auf kuriose Art mit historischer Erinnerung umgehen kann.
       
   IMG Bild: George Washington, Thomas Jefferson und Co.: alte weiße Männer, die wegkönnen?
       
       Am Mount Rushmore in South Dakota sind die Porträts von vier US-Präsidenten
       monumental in Stein gemeißelt. Und es stellt sich die Frage, ob sie nicht
       gesprengt werden sollten. Denn es ist nun mal so, dass lediglich zwei
       dieser Väter des Vaterlands keine Sklavenhalter waren: Abraham Lincoln und
       Theodore Roosevelt. (In New York City wurde gerade eine andere Statue von
       Theodore Roosevelt wegen ihrer rassistischen Symbolik entfernt.) George
       Washington hingegen besaß 300 Sklaven, während Thomas Jefferson nicht nur
       mehr als 600 Menschen als sein Eigentum betrachtete, sondern auch mit
       „seiner“ Sklavin mehrere Kinder zeugte.
       
       Deswegen ist die Frage nach der [1][Sprengung der Denkmäler] keine
       polemische, sondern bringt nur die Unklarheit ans Licht, in unserem
       Verhältnis zu den lieux de mémoire, den „Erinnerungsorten“: Ein Begriff,
       den der französische Historiker Pierre Nora 1978 etablierte und in einem
       siebenbändigen Werk als „Erinnerungsorte Frankreichs“ festhielt. In
       Deutschland entsprechen dem die 2001 erschienenen „Deutschen
       Erinnerungsorte“.
       
       Diese Unklarheit ist besonders gefährlich in den Vereinigten Staaten, weil
       die [2][Sklavenhalterei hier tief in der Geschichte wurzelt]. Denn
       Sklavenbesitzer waren nicht nur die Präsidenten Washington und Jefferson,
       sondern auch James Madison, James Monroe – von dem die berühmte
       Monroe-Doktrin stammt –, Andrew Jackson, John Tyler, James Polk und viele
       andere. Sogar die Familie des Generals Ulysses Grant besaß Sklaven, jenem
       Grant, der die Truppen der Nordstaaten zum Sieg über den sklavenhaltenden
       Süden führte.
       
       Streng genommen müsste man eigentlich die Hälfte aller Straßennamen in
       US-amerikanischen Städten ändern. Denn diejenigen, die nicht einfach Zahlen
       tragen, sind fast alle nach Präsidenten der Vergangenheit benannt,
       abgesehen von ein paar unattraktiven Ausfallstraßen, die Martin Luther King
       gewidmet sind.
       
       ## Die Frage der Trennlinie
       
       Hier bewegen wir uns in einem Dickicht, wo wir die Trennlinie ziehen
       wollen, zwischen dem, was eben die Geschichte eines Landes ist und dem, was
       politisch auf der Tagesordnung steht.
       
       Manchmal ist das kein Problem. Es war eine unverschämte Provokation gegen
       die Nachfahren der Sklaven, dass die Flagge der Konföderierten noch vor
       vier Jahren über den Kapitolen vieler Südstaaten flatterte; es wäre ein
       eigenes Kapitel wert, das Hin und Her der Staaten des tiefen Südens
       nachzuzeichnen (Alabama, Georgia, Louisiana, Mississippi, Oklahoma, South
       Carolina, Tennessee), wie und ob sie nun in ihrer Flagge Anspielungen auf
       die der Konföderierten unterbringen können.
       
       Niemand wird die Statue von Jefferson Davis in Richmond vermissen,
       Präsident der Südstaaten im Bürgerkrieg 1861–1865 oder die von Admiral
       Raphael Semmes oder all die anderen Denkmäler für die Soldaten des Südens,
       die überall in den Dixie-Städten stehen und die von den „Black Lives
       Matter“-Demonstrationen gestürzt oder von den Städten entfernt wurden.
       
       Heikel wird es [3][bei der Statue von Christoph Kolumbus], denn unmittelbar
       politisches Provokationspotenzial sehe ich dort nicht sehr viel. Wir wollen
       nicht in einer Welt leben, die Denkmäler errichtet und sie dann
       niederstürzt, um sie später wieder neu aufzustellen, in der Erinnerung
       heiliggesprochen oder verdammt wird.
       
       Andernfalls wären wir wie die Taliban, die 2001 den Buddha von Bamiyan
       sprengten oder wie die fanatischen Hindus, die 1992 die Babri-Moschee im
       nordindischen Ayodhya zerstörten.
       
       ## Russland macht's vor
       
       Wie man auf kuriose Art mit diesen Widersprüchen der historischen
       Erinnerung umgehen kann, zeigt das postsowjetische Russland. Nach dem
       Untergang der UdSSR wurde aus Leningrad wieder St. Petersburg, das wissen
       alle; was nicht alle wissen, ist, dass die Region (Oblast) weiterhin
       Leningrad heißt.
       
       Noch merkwürdiger ist der Fall Jekaterinburg, jene Stadt, in der Zar
       Nikolaus II. samt Familie 1918 ermordet wurde. In der sowjetischen Zeit
       hieß die Stadt Swerdlowsk nach dem Funktionär Jakow Michailowitsch
       Swerdlow, der die Verlegung der Romanows nach Jekaterinenburg angeordnet
       hatte. Seit 1991 ist die Stadt wieder nach der Zarin Katharina die Große
       benannt, die Oblast heißt jedoch weiterhin Swerdlowsk, und nicht nur das:
       Die große Straße, an der das neu errichtete Denkmal für das „Martyrium“ der
       Familie Romanow steht, ist die Swerdlowskstraße, die dann im Weiteren den
       Namen wechselt und Karl-Liebknecht-Straße heißt.
       
       Das gleiche Spiel in Irkutsk, nahe dem Baikalsee: Die große, Karl Marx
       gewidmete Straße mündet in einen Platz, auf dem die Statue von Alexander
       III. steht, dem reaktionärsten Zar des 19. Jahrhunderts.
       
       ## Ein Klassenzimmer als bestes Beispiel
       
       Im fernen Osten Russlands, in Wladiwostok, steht ausnahmsweise kein Lenin
       und kein Marx im Zentrum. Die Stadt war eine Hochburg der „Weißen“ im
       Bürgerkrieg, und das macht sich schon gleich bei der Ankunft bemerkbar. Im
       Wartesaal des Endbahnhofs der Transsibirischen Eisenbahn steht ein kleiner
       Altar, der dem damaligen Zarewitsch Nikolaus II. gewidmet ist, der die
       Linie 1891 eingeweiht hatte. Und doch heißt der zentrale Platz dieser
       Metropole der Konterrevolution „Platz der Sowjetmacht“.
       
       Das klarste Beispiel eines solchen historischen Synkretismus, der die
       unvereinbaren Gegensätze der Historie in sich vereint, ist jedoch ein
       Klassenzimmer in einer Schule in Krasnojarsk am Fluss Jenissei, die ich
       besuchen konnte. Auf der Wand hinter dem Lehrerpult, auf den durch die
       Tafel getrennten Seiten, findet sich links Zar Nikolaus und rechts Lenin.
       Der Einzige, der in Russland keinen Eingang findet in die große historische
       Versöhnung, ist Stalin.
       
       Und doch ist dieser Eklektizismus nicht unschuldig, durch ihn lugt immer
       schon der Chauvinismus hervor. Alle, ob nun Zaristen oder Bolschewiken,
       sollen Söhne der einen und ewigen Mutter Russland sein. Man denkt an die
       unsterblichen Worte von Samuel Johnson: „Patriotismus ist die letzte
       Zuflucht des Halunken.“ Und doch kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass
       in diesen russischen Orten an Menschen erinnert wird, die anderswo aus dem
       Gedächtnis getilgt sind: Der anarchistische Prinz Pjotr Kropotkin, nach dem
       in Nowosibirsk ein ganzes Viertel benannt ist; oder Liebknecht in Irkutsk
       oder Jean-Paul Marat – an ihn, Robespierre und Saint-Just wird fast
       nirgends in Frankreich erinnert; und schließlich rührt es einen eben dann
       doch ein wenig, wenn man mitten in Sibirien durch den Irkutsker Park der
       Pariser Kommune spaziert.
       
       Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
       
       29 Jun 2020
       
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       ## AUTOREN
       
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