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       # taz.de -- Ermittlungen im Fall Qosay Khalaf: Trotz offener Fragen eingestellt
       
       > In Delmenhorst starb im März ein 19-Jähriger nach Polizeigewahrsam. Immer
       > noch ist ungeklärt, wie genau es zu seinem Tod kam.
       
   IMG Bild: Trauer nach dem Tod von Qosay Khalaf: Bank im Delmenhorster Wollepark im April 2021
       
       Hannover taz | In der Nacht vom 5. auf den 6. März dieses Jahres änderte
       sich das Leben der Familie Khalaf schlagartig. Das älteste Kind der
       Yezid*innen, die vor dem Völkermord des sogenannten „Islamischen Staats“
       nach Deutschland geflüchtet waren, der 19-jährige Qosay Sadam Khalaf,
       [1][verstarb in einem Oldenburger Krankenhaus.] Wie genau es zu dem Tod
       kam, ist bis heute nicht final geklärt.
       
       Die Polizei hatte Khalaf im Wollepark in Delmenhorst beim Kiffen erwischt,
       er rannte weg, widersetzte sich, wurde daraufhin „fixiert“ und in Gewahrsam
       genommen – so hieß es im Polizeibericht. Vor Ort habe der Rettungsdienst
       ihn untersucht und keinen Anlass für eine weitere Versorgung gesehen. In
       der Zelle im Revier sei Khalaf dann kollabiert und in das Krankenhaus
       gebracht worden, in dem er später verstarb.
       
       Zweifel an der Darstellung der Polizei nährten die Aussagen eines Freundes,
       mit dem Khalaf unterwegs war. Seine Schilderungen weichen stark vom
       Polizeibericht ab. So sagt der 23-Jährige, der sich Hamoudi nennt, als er
       von Polizist*innen zum Festnahmeort gebracht worden sei, hätten andere
       Beamt*innen auf Khalafs Rücken gekniet. Der habe um Wasser gebettelt und
       gesagt, er bekomme keine Luft.
       
       Geholfen habe ihm niemand, auch nicht die dazugerufenen Sanitäter*innen.
       Die hätten Qosay nicht ernst genommen, so Hamoudi.
       
       Vom Rettungsdienst und der Polizei hieß es daraufhin, man führe eben kein
       Wasser mit sich. Öffentlich wurde das alles überhaupt nur, weil das
       NDR-Politmagazin „Panorama“ und die taz unabhängig voneinander zu dem Fall
       [2][recherchierten] und sich Freund*innen und Verwandte mit einem Bündnis
       an die Öffentlichkeit wandten.
       
       Anfangs sah man in Delmenhorst gar keinen Grund für Ermittlungen. Früh
       sprang der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme für die eingesetzten
       Beamt*innen in die Bresche: „Sie haben mein volles Vertrauen.“ Zu
       Ermittlungen kam es erst, nachdem die Familie Anzeige erstattet hatte.
       
       Die Anwältin der Hinterbliebenen, Lea Voigt, kritisierte in der taz das
       Vorgehen der Ermittlungsbehörden: „Qosay wurde nach den Schilderungen des
       Zeugen nicht geholfen, das wurde nicht erkannt oder man wollte das nicht
       erkennen. Rennen, Panik, Fixierung, Pfefferspray, Bauchlage – wie haben
       diese Faktoren gewirkt?“, fragte sie im April.
       
       [3][Alle Ermittlungen wurden mittlerweile eingestellt.] Dagegen legten die
       Angehörigen des Verstorbenen Widerspruch ein. Nach Sach- und Rechtslage
       halte man die Entscheidung für richtig, sagte die Sprecherin der
       Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg, Carolin Castagna, zuletzt zur taz. Die
       Ermittlungen seien geprüft worden.
       
       Mit einem Klageerzwingungsverfahren versucht die Familie nun, weitere
       Ermittlungen zu erreichen. Im neuen Jahr wird eine Entscheidung erwartet.
       Wenn sie Erfolg haben, müsste wieder in dem Fall ermittelt werden.
       
       Ob wirklich alle Möglichkeiten zu Ermittlungen ausgereizt wurden, ist
       fraglich. Die Telefone und Kommunikation der Beschuldigten zu prüfen,
       darauf kam die Staatsanwaltschaft zum Beispiel wohl nicht, sagt Anwältin
       Voigt auf Nachfrage der taz. Zumindest finde sich davon offenbar nichts in
       den Ermittlungsakten. Dabei hatte erst jüngst ein Fall aus Köln gezeigt,
       dass es möglicherweise Polizist*innen gibt, die sich in Chats zum
       besonders harten Vorgehen bei Kontrollen verabreden.
       
       Ist so ein Verdacht gegen die Polizei Delmenhorst angebracht? Zumindest
       lassen sich mit einfacher Onlinerecherche rechtsextreme Symbole bei dort
       arbeitenden Polizist*innen finden. So zitiert eine Lokalzeitung einen
       Polizisten des Reviers mit den Worten: „Nur weil ich Uniform trage, bin ich
       kein Freiwild.“ Auf den Fotos von einem Sicherheitstraining für
       Einsatzkräfte der Feuerwehr trägt er einen „Punisher Skull“ – ein beliebtes
       rechtsextremes Symbol, das im Zuge der „Thin Blue Line“-Bewegung in den USA
       bekannt wurde.
       
       Unter migrantischen Jugendlichen in Delmenhorst ist der Beamte für seine
       Sprüche und sein hartes Vorgehen bekannt, schilderten unabhängig
       voneinander verschiedene Jugendliche aus dem Wohngebiet um den Wollepark.
       In die tödliche Kontrolle Qosay Khalafs war er offenbar nicht verwickelt,
       ist aber auf dem zuständigen Revier tätig. Die Anwohner*innen des
       Wolleparks berichteten auch von wiederholten anlasslosen Kontrollen.
       Derartige Vorwürfe hat die Polizei immer wieder als absurd abgetan.
       
       ## Superabsorber im Bauch
       
       Stattdessen untersuchten die Ermittler*innen eine ominöse Vergiftung,
       die Khalafs Magenschleimhaut angegriffen hatte. Am Ende hieß es, es handle
       sich um einen chemischen Superabsorber. Diese werden etwa in Babywindeln
       eingesetzt, um Flüssigkeit aufzunehmen, kommen aber auch in der Medizin zum
       Einsatz. Wie der Superabsorber in den Bauch des 19-Jährigen gelangt war und
       welche Rolle er bei seinem Tod spielte – das ist nach wie vor ungeklärt.
       
       Die Staatsanwaltschaft äußerte sich lange nicht zu dem mutmaßlich
       konsumierten oder gefundenen Betäubungsmittel. Das ließ Raum für
       rassistisch aufgeladene Spekulationen über harte Drogen. Am Ende zeigte
       sich: Khalaf hatte lediglich Gras geraucht.
       
       Der Fall Qosay Khalaf reiht sich ein in die 203 von der Kampagne „[4][Death
       in custody]“ dokumentierten Fälle seit 1990, in denen von Rassismus
       betroffene Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland
       starben.
       
       Laut Barsan Mehdi, Khalafs Cousin, versucht die Familie heute vor allem,
       ihr Leben wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. „Sie leiden immer
       noch täglich unter dem Verlust, weil ihnen Qosay so gewaltvoll genommen
       wurde“, sagt Mehdi. „Wenn ich an Qosay denke, kommt alles wieder hoch.
       Trauer und Wut.“
       
       29 Dec 2021
       
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