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       # taz.de -- Essay Parlamentarisches Weltgremium: Für eine UNO der dritten Generation
       
       > Vor hundert Jahren schlug die erste demokratische Regierung Deutschlands
       > ein Weltparlament vor. Ein solches ist nötiger denn je.
       
       Bei den Vereinten Nationen in New York und in vielen Hauptstädten ist von
       einer [1][tiefen Krise des Multilateralismus] die Rede. Die Attacken von
       US-Präsident Donald Trump gegen das Pariser Klimaabkommen, die
       Welthandelsorganisation, die Zusammenarbeit in der Nato, die
       US-Finanzierung wichtiger UN-Programme oder den Menschenrechtsrat, ja sogar
       gegen den Weltpostverein sind nicht ohne Wirkung geblieben. In einem Akt
       verzweifelter Symbolpolitik begeht die UNO am 24. April 2019 sogar einen
       neuen internationalen Tag „für Multilateralismus und Friedensdiplomatie“.
       
       Es herrscht Verunsicherung. Die Klimakrise spitzt sich zu und jeder weiß,
       dass die Gegenmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft nicht ausreichen.
       Wegen der Blockade des Sicherheitsrates hat die UNO in Syrien versagt. Das
       höchste UN-Gremium ist kaum noch glaubwürdig und das Vetorecht der
       ständigen fünf Mitglieder nicht mehr zu rechtfertigen. Es gibt
       internationale Spannungen mit den Atommächten Russland und China.
       
       Großbritannien hat sich mit dem Chaos-Brexit derweil selbst ins Abseits
       manövriert. Von Emmanuel Macrons [2][„Pariser Friedensforum“ im vergangenen
       Jahr], bei dem er 65 Staats- und Regierungschefs versammelte, um über eine
       Verbesserung der Global Governance zu sprechen, sind wenig Impulse
       ausgegangen. Die von Außenminister Heiko Maas initiierte Allianz für
       Multilateralismus muss erst noch Form annehmen und mit konkreten Anliegen
       verknüpft werden.
       
       Währenddessen beobachten Demokratieforscher den möglichen Beginn einer
       weltweiten Autokratisierungswelle. Erstmals seit 1940 soll es 2017 mehr
       Staaten gegeben haben, die im Hinblick auf Demokratisierung Rückschritte
       statt Fortschritte gemacht haben. Für die globale Kooperation verheißt eine
       Schwächung der Demokratie und ein anhaltender Aufstieg nationalistischer
       Führungsfiguren nichts Gutes.
       
       ## Politische Strukturen müssen sich wandeln
       
       Zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter Demokratie ohne Grenzen,
       fordern, dass das bevorstehende 75. Jubiläum der UNO im kommenden Jahr
       Anlass für eine Bilanz sein muss. Die Nationalstaaten und ihre
       zwischenstaatlichen Organisationen, in deren Zentrum die UNO steht, sind im
       Umgang mit den globalen Herausforderungen unserer Zeit überfordert.
       
       Es stellt sich die Frage, wie nach dem Völkerbund und den Vereinten
       Nationen eine Weltorganisation der dritten Generation gestaltet und
       etabliert werden kann, ohne dass die Politik wie in den vorherigen Fällen
       erst durch eine globale Katastrophe den nötigen Willen dazu aufbringt. Nur
       ein Wandel der globalen politischen Strukturen wird es ermöglichen, die
       großen Probleme unserer Zeit, allen voran den Klimawandel, in den Griff zu
       bekommen.
       
       Einen wichtigen Impuls liefert ein Blick zurück auf die Zeit nach dem
       Ersten Weltkrieg. Nach der Novemberrevolution von 1918 und der erzwungenen
       Abdankung von Wilhelm II. war Deutschland auf dem Weg zu einer Republik.
       Bei den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 galt
       erstmals ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht, und
       zwar auch für Frauen.
       
       An den Pariser Verhandlungen der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, die
       auch die Gründung des Völkerbundes umfassten, konnte die neue deutsche
       Regierung nicht direkt teilnehmen. Um die deutschen Vorstellungen dennoch
       zu verdeutlichen, verabschiedete das aus den Wahlen im Januar
       hervorgegangene Kabinett von Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann am
       23. April 1919, fünf Tage vor der Annahme einer Völkerbundssatzung durch
       die Friedenskonferenz in Versailles, einen eigenen Satzungsentwurf.
       
       ## 1919 wurde ein Weltparlament gefordert
       
       Der deutsche Entwurf für eine Völkerbundssatzung sah unter anderem einen
       Staatenkongress als Versammlung der Mitgliedsstaaten, einen ständigen
       Internationalen Gerichtshof sowie ein Sekretariat vor. Für Beschlüsse des
       Staatenkongresses waren in der Regel Zweidrittelmehrheiten festgeschrieben.
       
       Ein Einstimmigkeitsprinzip oder Vetorecht, wie es den UN-Sicherheitsrat
       noch heute lähmt, war nicht vorgesehen. Das herausstechendste Merkmal aber
       war die Einsetzung eines Weltparlaments, das sich zunächst aus Vertretern
       der einzelnen Parlamente der Mitgliedsstaaten zusammensetzen sollte.
       
       Die revolutionäre deutsche Regierung griff damit einen Vorschlag der
       damaligen Friedensbewegung auf. Dort stieß die Gestaltung des Völkerbundes
       als exklusive Veranstaltung der Regierungen, wie von den Alliierten
       geplant, nicht auf Gegenliebe. In Bern versammelten sich im März 1919 bei
       einer internationalen Konferenz über sechzig Friedensorganisationen aus 22
       Ländern.
       
       Sie forderten „ein von den Völkern gewähltes internationales Parlament“
       mit vollen legislativen Kompetenzen, wobei jedes Land je eine Million
       Einwohner ein Mitglied wählen solle. Letzteres war die Formel, die zusammen
       mit einer Höchstzahl von zehn Mitgliedern je Land auch im deutschen Entwurf
       Eingang fand.
       
       ## Regierungspolitik weniger fortschrittlich als damals
       
       Die Regelung war als ein Provisorium gedacht. Das erste Weltparlament
       sollte mit Zustimmung des Staatenkongresses selbst über die spätere
       Zusammensetzung befinden. Es wird berichtet, dass im Auswärtigen Amt auch
       andere Möglichkeiten erörtert worden seien, darunter Direktwahlen oder
       gleitende Skalen für die Sitzverteilung. Es habe sich aber durchgesetzt,
       die Regelung zunächst pragmatisch, einfach und übersichtlich zu halten,
       damit sie für die Bevölkerung verständlich bliebe.
       
       Die Zustimmung des Weltparlaments sollte unter anderem erforderlich sein
       für „die Aufstellung allgemein gültiger internationaler Rechtsnormen“. Der
       Entwurf stellte die Schaffung von Weltrecht durch eine demokratische
       Weltlegislative sowie eine Abkehr vom zwischenstaatlichen Prinzip und dem
       Dogma nationaler Souveränität in Aussicht. Es irritiert, dass die heutige
       Regierungspolitik in dieser Hinsicht weniger fortschrittlich ist als vor
       hundert Jahren. Mit einer demokratischen Weiterentwicklung der UNO scheint
       sich im Auswärtigen Amt keiner beschäftigen zu wollen.
       
       Nach Auffassung des Rechtswissenschaftlers Gottfried Knoll, der 1931 eine
       Analyse veröffentlichte, war der deutsche Vorschlag eines Weltparlaments
       ernst gemeint. Die Regierung habe sich von dem Weltparlament eine mäßigende
       Wirkung und „einen Hauch weltbürgerlichen Geistes“ im Völkerbund
       versprochen. Wenn der Völkerbund nur auf Staaten basiere, sei zu
       befürchten, dass es innerhalb seiner Organe weiterhin nur um nationale
       Machtpolitik gehe.
       
       Auch sei an eine vom Weltparlament ausgehende positive Rückwirkung auf das
       demokratisch-parlamentarische System der neuen deutschen Republik gedacht
       worden. Der damalige Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau soll
       gesagt haben, dass die deutsche Demokratie nicht sicher sein könne, „sofern
       und solange es kein gewisses Maß an Demokratie im Völkerbund“ gebe.
       
       ## Debatte dreht sich im Kreis
       
       Der Soziologe Rudolf Broda betonte 1920, dass sich die Abgeordneten eines
       Weltparlaments „in höherem Grade als Vertreter der Menschheitsgesamtheit
       oder auch als Mitglied einer über Landesgrenzen sich erstreckenden
       internationalen Partei“ empfinden würden denn als Vertreter ihres Landes.
       
       Die parlamentarische Geschichte des Deutschen Reiches habe gezeigt, wie die
       Abgeordneten des Reichstages sich als Vertreter des Gesamtvolkes verstanden
       und die Gegensätze zwischen den Ländern entschärft hätten. Im Weltparlament
       stünde nicht mehr Land gegen Land, sondern Idee gegen Idee. Die Gefahr
       zwischenstaatlicher Konflikte werde durch das Parlament reduziert.
       
       Die britische Delegation hatte die Idee einer Parlamentarierversammlung als
       Organ des Völkerbundes in die Versailler Verhandlungen eingebracht. Sie
       wurde von den anderen Regierungen jedoch abgelehnt. Die Zeit sei noch nicht
       reif. Regierungsvertreter seien repräsentativ genug für die Bevölkerung
       ihrer Herkunftsländer. Staaten sei es freigestellt, Parlamentarier als
       Delegierte zu entsenden. Die Entwicklung zu einem direkt gewählten
       Weltparlament sei unerwünscht.
       
       Die Debatte dreht sich im Kreis. Noch heute hantieren Regierungsvertreter
       mit solchen und ähnlichen Argumenten, wenn es um den [3][Vorschlag einer
       Parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen], kurz UNPA, geht.
       Das Modell ist der Weltparlamentsidee im deutschen Völkerbundsentwurf sehr
       ähnlich.
       
       ## Gremium könnte demokratische Kräfte stützen
       
       Die UNPA soll in einem ersten Schritt als beratendes Organ von der
       UN-Generalversammlung eingerichtet werden und sich dann weiterentwickeln.
       Die Sitzverteilung könnte auch hier gestaffelt werden. Nach Ansicht des
       Europäischen Parlaments soll das Gremium „den demokratischen Charakter, die
       demokratische Rechenschaftspflicht und die Transparenz der globalen
       Struktur- und Ordnungspolitik“ erhöhen. Das Panafrikanische Parlament will,
       dass eine UNPA globale Untersuchungsausschüsse einrichten kann und ihre
       Delegationen das Recht haben, an internationalen Verhandlungen
       teilzunehmen.
       
       Es geht auch um die anderen Wirkungen, die man sich seit jeher von einem
       parlamentarischen Weltgremium verspricht. Demokratische Kräfte,
       insbesondere von der Opposition, sollen international gestützt werden,
       indem ihre parlamentarischen Vertreter eine Stimme in einem UN-Gremium
       bekommen, unabhängig von der jeweiligen Regierung.
       
       Die Logik zwischenstaatlicher Konkurrenzbeziehungen soll durch
       transnationale Politik ersetzt werden, die sich an gemeinsamen Interessen
       ausrichtet und schließlich per Mehrheit entscheidet. Seit über zehn Jahren
       wirbt unsere internationale Kampagne für eine UNPA darum, die
       Globalisierung unter demokratische Kontrolle zu stellen. Dieses Anliegen
       ist aktueller denn je. Nur auf dieser Basis wird eine Weltorganisation der
       dritten Generation einen Fortschritt darstellen.
       
       Anlässlich des 70. Jubiläums der UNO erklärte der Bundestag vor vier
       Jahren, dass die Strukturen der UNO „an eine multilaterale Welt“ angepasst
       werden müssten. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, die Einrichtung
       einer UNPA zu prüfen. Sie sollte eine Pionierrolle einnehmen und das
       Anliegen bei der UNO vorantreiben. Der Völkerbundsentwurf von 1919
       prädestiniert sie dazu. Doch auf einen Prüfbericht des Auswärtigen Amtes
       wartet das Parlament noch heute. Damit daraus etwas wird, muss es wohl
       Chefsache des Ministers werden.
       
       22 Apr 2019
       
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