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       # taz.de -- Eurovision Song Contest: Nicht „ruhig und lieb“ gewinnt
       
       > Die italienische Hardrockband „Måneskin“ triumphiert beim 65. Eurovision
       > Song Contest in Rotterdam. Der deutsche Kandidat Jendrik wird Vorletzter.
       
   IMG Bild: Sie haben dem ESC ein paar ungewöhnte Töne hinzugefügt: die italienische Hardrock-Band Måneskin
       
       Das muss ein Schock gewesen sein, eine starke Kränkung kultureller
       Gewissheiten für Abermillionen von Fans klassischer
       Eurovisionsunterhaltung: Eine italienische Hardrock-Band, die sich Måneskin
       (Dänisch für: Mondschein) nennt, gewinnt den 65. Eurovision Song Contest am
       Samstagabend in der Rotterdamer Ahoj-Arena.
       
       Zweite wurde die Französin Barbara Pravi mit „Voilà“, ihre Vorstellung kam
       einer künstlerisch makellosen Darbietung in frankofoner Chanson-Tradition
       gleich. Dritter wurde Gjon Muharremaj mit „Tout l’univers“, ein kunstvolles
       Lied jenseits der Hitparadentauglichkeit – prima performt von diesem
       Schweizer aus postalbanischer Familie.
       
       Die Band aus Italien, die am Samstagvormittag erfahren hatte, aufgrund der
       Message ihres Songs „Zitti e buoni“ (zu Deutsch: „Ruhig und lieb“), eines
       Protestlieds gegen die Beliebigkeit der Satten und Arrivierten und gegen
       die Verachtung von Außenseitern, von einer internationalen Fachjury aus
       Textdichtern und Musikproduzenten zum ESC-Act mit den wichtigsten Lyrics
       gewählt worden zu sein, erhielt am Ende 524 Punkte.
       
       Frankreich bekam 499, die Schweiz 432, Island mit dem Nerd-Pop-Song „10
       Years“ von Daði og Gagnamagnið 378, die Ukraine mit einer
       Folkelektrotrancenummer von Go-A 364, Finnland ebenfalls für eine
       Hardrockgeschichte von Blind Channel 301, Maltas Destiny für ihr
       feministisches Empowermentdancefloording 255, Litauen für „Discotheque“ von
       The Roop 220 und [1][Russland mit Manischa und ihrem frauenbewegten Fanal
       mit dem Titel „Russian Woman“] 204 Punkte. Alle Resultate, auch zur
       Untermauerung von Verschwörungstheorien nach jedem weltanschaulichen
       Belieben unter:
       [2][https://eurovision.tv/event/rotterdam-2021/grand-final].
       
       Der deutsche Kandidat Jendrik, ein Sänger und Musicalist, der aus einem
       durch interne Jurys bestimmten Verfahren ermittelt wurde, performte das in
       jeder Hinsicht überfröhliche Lied „I Don’t Feel Hate“, das sich als
       ultraoptimistisches Bekenntnis gegen „Hater“ und die Feinde einer
       multidiversen Gesellschaft als allzu überfrachtet erwies. Mit drei (!)
       Punkten im Gepäck muss der Deutsche sich auf den Heimweg machen, zwei aus
       Österreich, einer aus Rumänien – beide von den dortigen Jurys, also den
       Musikprofis.
       
       Beim Televoting fuhr Jendrik eine vollständige Missernte ein – kein
       einziger Punkt aus irgendeinem Land durch das Publikum. Er kam auf Platz
       25, wurde damit Vorletzter. Den allerletzten Rang fuhr James Newman ein –
       er bekam gar keinen Punkt: eine Havarie aus dem früheren Kernzentrum des
       Pop, dem Vereinigten Königreich, einst beim ESC so erfolgreich wie kein
       anderes Land.
       
       ## Vier Stunden vergingen wie 10 Minuten
       
       Für die Show nahmen sich die niederländischen TV-Organisator*innen vier
       Stunden Zeit – und diese fühlten sich an wie zehn Minuten. Und das lag
       nicht allein am zügigen Flow der Show-Musts selbst: Einlauf aller
       Teilnehmenden nach olympischem Prinzip, kurze Moderationen, die 26 Acts des
       Finales, die Punkteauszählung und ihre Präsentation Land für Land,
       insgesamt 39, inklusive aller Länder, die bereits in den Semifinals in der
       Woche davor ihre Grenzen aufgezeigt bekamen.
       
       Was diesen 65. ESC besonders machte? Dass er in einer Fülle von Liedern
       moderne Themen aufgriff, [3][solche vor allem, die
       Rechtspopulist*innen nicht passen], also Diversity, das, was die
       Rechten unter „Gendergaga“ verstehen, Frauenpower, Antirassismus,
       Postkoloniales – und viele Zitate aus der Welt der Herkunft, der familiären
       vor allem.
       
       Die Veranstaltung wirkte über die meisten Minuten wie das Gegenteil des
       ESC-Universums, das es noch vor 50 Jahren gab: Männer in Anzügen, Frauen in
       Abendkleidern – und nix an Ambivalenz. An keiner Stelle gab es Scherzchen
       auf Minderheitenkosten, alle waren wahnsinnig freundlich und zugleich
       ungehetzt. Fast ein europäisches Lehrbuch in puncto Achtsamkeit und
       Respekt.
       
       Es war Italiens dritter Sieg beim ESC seit 1956, zuletzt gewann 1990 Toto
       Cutugno mit „Insieme: 1990“. 1964 konnte Gigliola Cinquetti mit „Non ho
       l’età“ den Wettbewerb erstmals nach Italien holen. „Zitti e buoni“ war der
       zweite siegreiche Hardrocktitel nach „Hard Rock Hallelujah“ von der
       finnischen Band Lordi aus dem Jahr 2006. Erstmals seit 1995, als die
       Norweger von Secret Garden mit „Nocturne“ gewinnen konnten, lagen auf den
       ersten drei ESC-Plätzen keine Lieder, die auf Englisch vorgetragen wurden –
       vor 26 Jahren war es jedoch noch vorgeschrieben, dass die Musiker*innen
       in einer der Amtssprachen ihres Landes zu singen hatten. Seit 1999 kann
       jeder Act sich das Idiom selbst aussuchen – meist war und ist es Englisch.
       
       Die Band Måneskin, deren Mitglieder sich ausdrücklich als moderne
       Italiener*innen verstehen, gewann mit dem nunmehrigen ESC-Siegeslied
       Anfang März auch schon das Festival von San Remo – ebenfalls mit deutlichem
       Televotingschub.
       
       Unangenehm fiel in der ARD-Show nach dem Finale in Rotterdam nur auf, wie
       leicht miesepetrig und beleidigt sowohl Barbara Schöneberger als
       Moderatorin als auch die Fachjuroren Janin Ullmann und Matthias Arfmann mit
       dem italienischen Sieg umgingen. Keine Gratulation ob der überwältigenden
       Zustimmung für die Hardrocker gerade seitens des Televoting aus 38 Ländern
       (Italien durfte ja nicht für sich selbst stimmen).
       
       Die ins NDR-Studio geladenen Aftershowgäste Sarah Connor und Jan Delay,
       beide made in Germany, waren ohnehin fehl am Platz: Wozu brauchte man ihre
       Lieder, reichte der Stoff aus Rotterdam nicht? Obendrein wirkten sie wie
       Jendriks ESC-Beitrag – fade und belanglos. Deutscher Pop des Mainstream ist
       womöglich, so hörte es sich an, nur dies: provinziell.
       
       ## „Ich nehme keine Drogen“
       
       Dass auch ein krawalliger Act, der auf gewisse Weise als eine Variante von
       Franz-Josef Degenhardts „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ empfunden
       werden kann, Erfolg hat und nicht nur verranzt-käseiigeliger
       Pseudo-Ironie-Schmunzelei wie einst die von Stefan Raab und Guildo Horn,
       das ist, jedenfalls in öffentlich-rechtlicher Hinsicht, kein
       satisfaktionsfähiger Gedanke.
       
       Während Jendrik nach der Show freundlich in die TV-Kameras der ARD zu
       Protokoll gab, leider ein wenig betrunken zu sein, vielleicht schon von
       woker Mate, also nichts wirklich Sinnvolles zu sagen vermöge, kursierten
       Gerüchte, wie die italienische Zeitung Repubblica notierte, dass
       Måneskin-Frontmann Damiano während der Show harte Sachen geschnupft habe
       und also disqualifiziert gehöre.
       
       Das wurde umgehend dementiert: „Ich nehme keine Drogen. Sagen Sie nicht so
       etwas. Kein Kokain.“ Repubblica erkannte noch dies: „Letztendlich ist das
       Jury-Votum viel weniger sinnvoll als das Televoting, das deutlich weniger
       traditionelle Stücke belohnt als die ‚Qualitäts‘-Jurys“ – die hatten
       nämlich Italien nur auf Platz fünf gevotet. Und: „Als nach sehr gespanntem
       Warten Måneskin gewann, war es eine wahre Explosion. Europa stimmte für
       ihre Musik, ihre Energie, ihre Stärke. Es ist eine große Zufriedenheit, es
       ist ein neues Italien, ein junges, elektrisches und rockiges Italien.“
       
       Die ARD erreichte mit dem ESC wie immer eine überdurchschnittlich hohe
       Zuschauermenge: 7,7 Millionen guckten bis weit nach Mitternacht zu.
       
       23 May 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Russlands-ESC-Kandidatin-Manizha/!5767785
   DIR [2] https://eurovision.tv/event/rotterdam-2021/grand-final
   DIR [3] /Homophobe-Politik-in-Osteuropa/!5763321
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
       ## TAGS
       
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