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       # taz.de -- Evolutionsforscher über seinen Knochenfund: "Eine neue Menschenform"
       
       > Der Leipziger Wissenschaftler Johannes Krause überraschte mit einer
       > besonderen Entdeckung die Weltöffentlichkeit. Muss die Geschichte der
       > Menschheit neu geschrieben werden?
       
   IMG Bild: Das Forschercamp im Altai-Gebirge, im Süden Sibiriens. Hier in der Denisova-Höhle fanden die Forscher das kleine Knochenstück.
       
       taz: Herr Krause, die Aufregung um ein winziges Stück Knochen und um Sie
       war groß in den vergangenen Tagen. Warum ist der Fund so spektakulär? 
       
       Johannes Krause: Die Fingerkuppe stammt aus einer Höhle im sibirischen
       Altai-Gebirge und ist zwischen 30.000 und 48.000 Jahre alt. Ich dachte
       ursprünglich, es handelt sich um einen Knochen eines Neandertalers. Nach
       vielen Tests stellte ich jedoch fest, dass er einer neuen Menschenform
       zuzuordnen ist. Als wir mit dem Ergebnis an die Öffentlichkeit gingen,
       schlug der Fund natürlich ein wie eine Bombe. Selbst fünf Tage später bekam
       ich immer noch etwa 20 Anfragen für Interviews am Tag. Es sollen
       TV-Dokumentationen gedreht werden; Ruhe für meine eigentliche Arbeit finde
       ich nur schwer.
       
       Was können Sie von dem alten Knochen erfahren? 
       
       Er gehört zu einem Urmenschen. Der heutige moderne Mensch und der
       Neandertaler stammen beide vom Homo erectus ab. Alle drei Gruppen wanderten
       von ihrem Ursprung Afrika aus und verteilten sich in der Welt; zuerst der
       Homo erectus vor zwei Millionen Jahren, dann der Neandertaler vor 500.000
       Jahren und schließlich der moderne Mensch vor 40.000 Jahren. Ich habe eine
       vierte Linie entdeckt, die vor etwa einer Million Jahre nach Asien
       auswanderte und sich folglich von der Linie des modernen Menschen
       abspaltete.
       
       Gibt es Erkenntnisse, die sich auf den heutigen Menschen beziehen? 
       
       Uns interessiert nun nicht, wie diese Menschenform aussah, ob sie rote oder
       schwarze Haare besaß. Mein Institut will erforschen, auf welchem
       evolutionären Erfolg der moderne Mensch beruht. Dazu müssen wir die DNA des
       modernen Menschen mit denen seiner Vorfahren abgleichen, also mit der des
       Neandertalers und des Schimpansen. Im Fall des Knochens aus der sibirischen
       Denisova-Höhle gibt es starke Abweichungen.
       
       Wie beschreiben Sie den Moment, als Ihnen bewusst wurde, was da unter Ihrem
       Mikroskop lag? 
       
       Es war ein krasses Gefühl, ich besaß unheimliche Zweifel. Dann führte ich
       stundenlange Tests durch, weil ich natürlich dachte, dass meine Hypothese
       nicht zutreffen würde. Zum Glück hatte ich so viel gut erhaltene DNA, dass
       ich alle anderen möglichen Szenarien ausschließen konnte. Der Mensch war
       weder krank, noch stimmte etwas an meiner Methode nicht. Meine
       Forschungsgruppe bestätigte mir das. Mein Chef, Svante Pääbo, wollte mir
       zuerst nicht glauben. Er war zu dem Zeitpunkt auf einer Konferenz in den
       USA. Erst als er sich Tage später von meinen Ergebnissen überzeugte, war
       die Sensation perfekt.
       
       Erstmals wurde eine neue Menschenform nicht anhand von Fossilien, sondern
       mittels einer Erbgut-Analyse entdeckt. Wie genau funktioniert die Methode
       eigentlich? 
       
       Aus dem genetischen Material fischen wir DNA, also den genetischen Code,
       aus den Mitochondrien der Zellen. Dieses Verfahren hat unser Institut
       speziell für die Untersuchung menschlicher Codes wie dem des Neandertalers
       entwickelt. Ich konnte also auf ein bestimmtes Vorwissen zurückgreifen. Die
       unterschiedlichen DNA-Sequenzen spiegeln das verwandtschaftliche Verhältnis
       zwischen modernem Mensch, Neandertaler und der neuen Menschenform wieder.
       Legt man die DNA-Codes übereinander, wird deutlich, dass zwischen neuer
       Menschenform und dem modernen Menschen zweimal mehr Unterschiede bestehen
       als zwischen ihm und dem Neandertaler. Es handelt sich also mit Sicherheit
       um eine neue Form.
       
       Es gibt Wissenschaftler, die Ihre Methode des Mitochondrien-DNA-Nachweises
       anzweifeln. Was können Sie denen entgegnen? 
       
       Die schiere Existenz dieser andersartigen DNA, ganz gleich ob sie vom Mann
       oder einer Frau stammt, ist der Beweis für eine neue Menschenform. Es ist
       aber richtig, dass ich anhand der Mitochondrien-DNA nicht feststellen kann,
       ob der gesamte Knochen von einer anderen Art des Menschen stammt.
       
       Welche Nachweise müssen Sie noch erbringen? 
       
       Wir überprüfen derzeit, ob die Zellkern-DNA mit der der Mitochondrien
       übereinstimmt. In menschlichen Zellen gibt es bis zu 1.000 Kopien der
       Mitochondrien-DNA, von der Kern-DNA existieren nur zwei Abbilder pro Zelle.
       Deshalb ist der Vergleich sehr langwierig. Wenn sie schließlich
       übereinstimmen, dann ist das aber der endgültige Beweis. Anderenfalls ist
       die Entdeckung trotzdem spannend. Dann könnte es bedeuten, dass sich zwei
       verschiedene Menschenarten miteinander fortgepflanzt haben. Auch das
       konnten wir bisher nicht nachweisen.
       
       Der Knochen stammt aus einer Urzeit-Höhle, ein Expeditionstrupp fand ihn,
       grub ihn aus - das klingt alles ein bisschen nach den Indiana-Jones-Filmen.
       Müssen wir die Geschichte der Menschheit neu schreiben? 
       
       Nein, das müssen wir nicht. Das Bild der Menschheit wird lediglich
       komplexer und interessanter. Ich glaube, niemand erwartet, dass die
       menschliche Evolution einfach ist.
       
       Sie sagen, die Denisova-Höhle in Sibirien sei ein besonderer Fundort,
       warum? 
       
       Dort fanden russische Archäologen viele Steinwerkzeuge aus der Zeit der
       Neandertaler. Sie waren es auch, die uns die Fingerkuppe zuschickten.
       Besonders spannend ist nun, dass diese Funde aus derselben Schicht stammen
       wie die Fingerkuppe. Das kann bedeuten, dass der neue Denisova-Mensch
       ebenfalls Kunsthandwerk fertigte. Es ist aber nur eine von vielen
       Vermutungen und sie ist bisher so zutreffend, wie wenn man heute in Ägypten
       eine Pyramide öffnen und eine Mumie mit einer Coca-Cola-Büchse entdecken
       würde. Dann würde auch niemand sofort sagen, die Pharaonen hätten die Cola
       erfunden. Zweifel sind nach wie vor berechtigt.
       
       Was können wir mit Sicherheit von der neuen Menschenform lernen? 
       
       Einerseits wissen wir, dass mehrere Menschenformen an einem Platz lebten.
       Trifft meine Annahme zu, dann wissen wir auch, dass es noch eine vierte
       Auswanderungswelle vor tausenden Jahren aus Afrika gab.
       
       Was sind nun Ihre nächsten Schritte? 
       
       Bis zum Ende des Jahres wollen wir das Genom des neuen Menschen
       entschlüsseln. Bisher wissen wir, dass es sich um eine Frau handelt. In der
       sibirischen Höhle suchen wir trotzdem nach weiteren Knochen, die unseren
       Fund bestätigen können. Zudem werfen wir ein Auge nach China. Dort gibt es
       zwei Fossilien, die ganz anders aussehen als Neandertaler und moderner
       Mensch. Auch sie könnten unsere Vermutung bestätigen. Wir bauen dort gerade
       ein Institut auf.
       
       Sie werden die Entschlüsselung des Genoms nicht mit bis zu dessen Ende
       begleiten. Warum? 
       
       Ich bin jung und habe trotzdem schon viel in dieser Fachrichtung erreicht.
       Die neue Menschenform, 25 wissenschaftliche Publikationen - ich bin ein
       bisschen verwöhnt und möchte wieder etwas Neues anfangen. Deshalb werde ich
       ab August höchstwahrscheinlich eine Professur an einer süddeutschen
       Universität antreten. Es fehlt nur noch die Unterschrift.
       
       Wenn Sie der Vater dieser neuen Menschenform sind, welchen Namen wollen sie
       ihm dann zum Abschied geben? 
       
       (lacht) Bestimmt nicht Homo krausensis. So eitel bin ich dann doch nicht.
       Ich bin dafür, ihn Denisova-Mensch zu nennen, nach seinem Fundort. So hat
       man es auch beim Neandertaler gemacht. Letztlich ist das aber eine
       wissenschaftliche Nebensächlichkeit.
       
       8 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Pittelkow
       
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