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       # taz.de -- Ex-CSU-Minister über Seehofers Manöver: „Alles Christliche verschwimmt“
       
       > Nächstenliebe sei eine Kategorien der Linken geworden, sagt Hans Maier,
       > langjähriger CSU-Minister und Strauß-Gefährte. Er geht mit seiner Partei
       > hart ins Gericht.
       
   IMG Bild: „Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, die hört man ja heute nur noch von der Linken“
       
       taz: Herr Maier, vor zwei Wochen haben Sie eine Mail an Ihre Parteifreunde
       in der CSU-Landesgruppe geschrieben. Sie begann ohne Gruß und mit den
       Worten: „Seid Ihr denn alle verrückt geworden?“ Sie sind ganz schön wütend,
       oder? 
       
       Hans Maier: Ja, das stimmt. Für mich war die Union zwischen
       Christdemokraten und Christsozialen immer ein zentraler Wert. Jetzt musste
       ich plötzlich befürchten, dass diese Tradition zerbricht. Deshalb hat mich
       der Streit der letzten Wochen ziemlich mitgenommen. Dabei ging es doch um
       eine Kleinigkeit. Das war reine Symbolpolitik.
       
       Ging es tatsächlich nur um die Details der sogenannten Sekundärmigration? 
       
       Natürlich nur vordergründig, dahinter stand die Flüchtlingsfrage in ihrer
       ganzen Ausprägung. Das Primäre aber scheint mir die alte Abneigung, ja der
       Hass zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel gewesen zu sein. Das geht
       weit zurück bis in Seehofers Zeit als Minister und Unionsfraktionsvize.
       
       Viele CSUler sagen, es sei [1][um Glaubwürdigkeit gegangen]. 
       
       Aber die Glaubwürdigkeit hängt doch mit der Erkennbarkeit, mit der
       Identität einer Partei zusammen. Wenn man sich christlich nennt und
       plötzlich verschwimmt alles Christliche, wo ist denn dann die
       Glaubwürdigkeit? Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, die hört man
       ja heute nur noch von der Linken.
       
       Und jetzt? 
       
       Jetzt muss sich die CSU überlegen, ob sie diesen Kurs fortsetzen will. Wenn
       Seehofer noch mal provozieren sollte, würde das sicher zu seinem
       politischen Ende führen.
       
       Die nächste Provokation deutet sich mit dem Brief an die EU-Kommission
       schon an. Wird er es wieder auf die Spitze treiben? 
       
       Ich weiß es nicht. Ich will es nicht hoffen, aber Seehofer ist in einem
       Maße unberechenbar geworden, das ist schon wirklich schlimm. Und dahinter
       scheint ein persönliches Trauma zu stecken. Politisch ist das nicht mehr zu
       erklären.
       
       Es scheint, als würde ganz Europa in dieses persönliche Trauma mit
       hineingezogen. 
       
       Zumindest hat der Streit für ein, zwei Wochen das ganze Regierungshandeln
       gelähmt. Gegenwärtig sind in Europa die noch nicht von Populisten
       beherrschten Regierungen in Gefahr, in die Minderheit zu geraten. Da
       richten sich die Blicke natürlich vor allem auf Frankreich und Deutschland,
       und wenn sich die CSU da in die Rolle einer Lega Sud begibt, dann bringt
       das auch das Gefüge der Großen Koalition ins Wanken.
       
       Brauchen wir die CSU denn als Volkspartei überhaupt noch? Hat nicht die
       Vorstellung Charme, dass Wähler in ganz Deutschland die Wahl hätten
       zwischen beiden Parteien? Schließlich scheint die Schnittmenge zwischen
       ihnen immer kleiner zu werden. 
       
       Dass CDU und CSU territorial aufeinander Rücksicht nehmen, die CDU also
       nicht in Bayern und die CSU nicht im übrigen Deutschland antritt, setzt
       natürlich voraus, dass ihre Programme und Ziele übereinstimmen. In dem
       Augenblick, wo die auseinanderfallen, entfällt auch diese Grundlage. Dann
       könnte die CDU, wie das Helmut Kohl nach dem Trennungsbeschluss von Kreuth
       schon vorhatte, auch in Bayern antreten. Und da hätten sie sicher gute
       Chancen – vor allem in Franken und in Schwaben, aber auch in München und
       anderen Teilen Altbayerns.
       
       Was Sie sich aber nicht wünschen? 
       
       Richtig. Die Volksparteien sind heute eine bedrohte Art, die muss man
       schützen. Man muss mal überlegen: Wenn Union und SPD selbst vereint keine
       Mehrheit mehr haben, was passiert denn dann? Dann löst sich alles in einer
       Vielzahl unterschiedlicher Gruppen auf – und die Demokratie gerät in
       Gefahr. „Bonn ist nicht Weimar“, hieß es in der Nachkriegszeit immer. Aber
       Berlin könnte dann Weimar sehr ähnlich werden.
       
       Momentan geben Ministerpräsident Markus Söder, Landesgruppenchef Alexander
       Dobrindt und der Vorsitzende [2][Horst Seehofer] in der Partei den Ton an.
       Hat sich der liberale Flügel in der Partei schon aufgegeben? 
       
       In Wahlkampfzeiten scheuen die Vertreter dieses Flügels natürlich eine
       offene Feldschlacht. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die liberale Mitte
       im Augenblick stumm ist. Aber sie äußert sich schon. Bei der Nachtsitzung
       von Vorstand und Landesgruppe am vorvergangenen Sonntag muss es sehr
       deutlichen Widerspruch gegeben haben.
       
       Seehofer soll diese Parteifreunde aber recht deutlich zurechtgewiesen
       haben. 
       
       Das stimmt, bei dem Treffen mit der CDU am nächsten Tag wurden Gerd Müller,
       Manfred Weber und andere dann sogar von Seehofer ausgeschlossen. Ich denke
       aber, dass wir von denen noch hören werden.
       
       Ob [3][Söder, Dobrindt] oder Seehofer – die berufen sich alle auf das Erbe
       von Franz Josef Strauß. Sie waren einer seiner Weggefährten: Würde Strauß
       in diesen Männern seine politischen Enkel sehen? 
       
       Nein, dafür wären sie ihm doch zu klein. Ich fürchte, er würde sie in
       seinem Hang zu drastischen Worten als „politische Pygmäen“ titulieren. Es
       gibt aber auch inhaltlich deutliche Unterschiede. Vor allem in der
       Europapolitik hätte Strauß völlig andere Akzente gesetzt. Ich bin ganz
       sicher, dass er da mehr bei Angela Merkel stünde als bei Horst Seehofer.
       Deshalb ist es unsinnig, wenn sich heute Seehofer und andere auf Strauß
       berufen.
       
       Am meisten ärgert mich ja an der derzeitigen Führungsriege diese
       Traditionsvergessenheit. Mit Franz Josef Strauß habe ich mich öfter
       gestritten, aber er war ein Mann, der ein breites Geschichtsbewusstsein
       hatte und der auch immer global gedacht hat. Bei Leuten wie Dobrindt habe
       ich dagegen das Gefühl einer Enge, einer Provinzialität. Historisch ist da
       überhaupt nichts da. Sonst hätte er sich auch nicht diesen mehr als
       problematischen Begriff der „konservativen Revolution“ zu eigen gemacht.
       
       Auch Vokabeln wie [4][„Asyltourismus“ und „Anti-Abschiebe-Industrie“] sind
       in Ihrer Partei derzeit en vogue. 
       
       Hier werden bewusst Begriffe gebildet, die ein neues Politikverständnis
       prägen sollen. Eine Partei ist auch erkennbar in ihrer Sprache. Wenn aber
       die CSU mit solchen Begriffen identifiziert wird, wo ist dann noch der
       Unterschied zu dem, was die AfD und andere Radikale von sich geben?
       
       Söder will der AfD auf diese Weise ganz offensichtlich das Wasser abgraben. 
       
       Dann unterliegt er einem Trugschluss. Zur AfD laufen die Wähler dann über,
       wenn kein Unterschied mehr zwischen den Äußerungen der CSU und der AfD
       besteht. Damit legt die CSU ihren Wählern ja gerade den Wechsel nahe. Daher
       müssen wir uns in der Sprache klar abgrenzen.
       
       Ihre Sympathien für Merkel scheinen größer als die für Ihre eigene
       Parteispitze. Als Kohl nach dem Trennungsbeschluss von Kreuth mit dem
       „Einmarsch“ in Bayern drohte, verdächtigte man Sie schon mal, in diesem
       Fall zur CDU überzulaufen. Wie wäre das heute? 
       
       Ich will bei der CSU bleiben, solange ich einen gewissen Einfluss habe. Ich
       würde ihr nur den Rücken kehren, wenn es keine Aussicht mehr gibt, dass die
       Partei zu ihren alten Werten zurückkehrt. Das sehe ich noch nicht.
       
       10 Jul 2018
       
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