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       # taz.de -- Ex-Hartz-IV-Empfängerin über Karriere: „Soziale Herkunft sieht man nicht“
       
       > Natalya Nepomnyashcha hat ein Netzwerk für Menschen aus finanzschwachen
       > Familien gegründet. Ein Gespräch über soziale Scham.
       
   IMG Bild: Auf einem Bild kann man soziale Herkunft nicht sehen, sagt Natalya Nepomnyashcha, deshalb müsse man sie anders sichtbar machen – durch Daten
       
       Ein Café in Berlin-Friedrichshain an einem Montag, 13 Uhr. Natalya
       Nepomnyashcha kommt aus dem Homeoffice. Als der Kellner den Kaffee bringt,
       bestellt sie gleich noch einen. Sie erzählt viel in Anekdoten, wägt ihre
       Antworten aber sorgfältig ab. Nach dem Gespräch muss sie sofort los, zum
       nächsten Termin. 
       
       wochentaz: Frau Nepomnyashcha, Sie haben Karriere gemacht – Sie arbeiten
       für eine bekannte Unternehmensberatung und haben ein eigenes
       Social-Start-up gegründet. Wenn Ihnen das jemand vor zehn Jahren prophezeit
       hätte, was hätten Sie gesagt?
       
       Natalya Nepomnyashcha: Ich hätte es schlicht nicht geglaubt. Ich hätte
       demjenigen gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei 0,1 Prozent liegt.
       
       Als Jugendliche lebten Sie in Augsburg mit Ihren Eltern von Hartz IV. Sie
       haben einmal gesagt, Sie empfanden damals eine „tiefe soziale Scham“.
       Können Sie dafür ein Beispiel geben? 
       
       Wenn ich Klamotten einkaufen war, und eben nicht bei Woolworth oder Kik,
       sondern bei Pimkie oder Orsay, also in Läden, in die man als Jugendliche
       halt gegangen ist. Ich habe mich dann geschämt. Ich dachte, wenn meine
       Schulkameradinnen mich sehen, denken die: ‚Was maßt die sich an, dass sie
       solche Modemarken tragen kann?‘ Ich hatte das Gefühl, zu meinem Stand
       gehört es, in billigere Läden zu gehen.
       
       Können Sie das Gefühl näher beschreiben? 
       
       Es war die Angst, gesehen zu werden. Angst, etwas Falsches zu machen oder
       zu sagen. Etwas, das sich für jemanden aus meiner sozialen Schicht nicht
       gehört. Und dafür dann ausgelacht zu werden.
       
       Wo kam dieses Gefühl her? 
       
       Meine Familie stammt aus Kiew. Meine Eltern waren typische Sowjetkinder.
       Sie fühlten sich in einem System wohl, in dem der Staat alles für sie
       macht, ihnen alles vorschreibt. Als die Sowjetunion zerfiel, verloren sie
       ihre Jobs und fanden sich in dem neuen System überhaupt nicht zurecht. Sie
       wurden immer verschlossener. Wenn wir unter Leuten waren, haben sie kaum
       etwas gesagt. Es war, als ob sie sich dafür schämten, überhaupt da zu sein.
       So etwas überträgt sich; besonders wenn man, wie ich, ein Einzelkind ist.
       
       Ihre Familie war in der Ukraine sehr arm. 
       
       Ja. Alle Klamotten, die ich trug, waren gebraucht. Ich werde nie meinen
       zehnten Geburtstag vergessen: Die Mutter einer Freundin schenkte mir einen
       neuen roten Rollkragenpullover und eine schwarze Leggins. Ich war
       unheimlich stolz.
       
       Als Sie elf waren, kamen Sie und Ihre Familie als Kontingentflüchtlinge
       nach Augsburg. Was waren damals Ihre ersten Eindrücke? 
       
       Wir haben zunächst in einem Wohnheim in einer Gegend voller
       Einfamilienhäuser gelebt. Da war alles sauber, gediegen, ordentlich. So,
       wie ich mir Deutschland vorgestellt hatte. Dann sind wir in eine eigene
       Wohnung gezogen, nach Augsburg-Oberhausen. Eine Ghetto-Gegend. Da gab es
       eine große Straße, auf der einen Seite lebten Menschen aus der ehemaligen
       Sowjetunion, auf der anderen Menschen mit türkischen Wurzeln. Viele
       Familien lebten von Hartz IV. Es gab nichts, was man unternehmen konnte,
       keine Cafés oder dergleichen. Es war hoffnungslos, trist.
       
       Und Ihre Schulzeit? 
       
       Die war nicht schön, zumindest zu Beginn. Ich war es aus Kiew gewöhnt, gute
       Noten zu schreiben. Und dann war ich plötzlich irgendwo, wo ich nichts
       verstand. Ich kam in eine Übergangsklasse, mit Kindern aus verschiedenen
       Ländern, die ebenfalls frisch eingewandert waren. Was mir rückblickend
       gefehlt hat, waren Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, die in der
       Muttersprache mit den Kindern sprechen. Meine ersten Freunde waren Jungs
       und Mädchen, die Russisch sprachen und schon länger im Land waren.
       
       Konnten Ihre Eltern Ihnen Halt geben? 
       
       Wenn ich ehrlich bin, nein. Meine Eltern konnten kein Deutsch. Ich habe
       damals schnell die Sprache gelernt, musste für sie dolmetschen. Bei
       Terminen hat man dann oft zu mir gesagt: „Frag deine Eltern, warum sie kein
       Deutsch sprechen.“ Für ein Kind ist das eine schwierige Situation. Meine
       Eltern haben mir Liebe gegeben. Aber keinen Halt. Es ist aber auch schwer,
       Halt zu geben, wenn man selbst keinen hat. Meine Eltern haben nie wieder
       Arbeit gefunden. Ich glaube, dass sie seit den Neunzigern keine glücklichen
       Menschen sind.
       
       Dann wollten Sie aufs Gymnasium, bekamen aber nur eine Empfehlung für die
       Realschule. 
       
       Eines Montags wurde uns in der Schule überraschend mitgeteilt, dass wir
       jetzt getestet werden und dann entschieden wird, auf was für eine Schule
       wir kommen. Es wurden Sachen abgefragt, die wir nie behandelt hatten.
       Vieles wusste ich nicht, also hieß es: Für das Gymnasium bist du nicht gut
       genug.
       
       Wie haben Ihre Eltern reagiert? 
       
       Wenn meine Eltern ein besseres Verständnis davon gehabt hätten, wie das
       Schulsystem funktioniert, hätten sie etwas machen können. Bei diesen
       Empfehlungen ist es meist so, dass Akademiker-Eltern nach oben korrigieren.
       Das heißt, wenn ihr Kind eine Realschul-Empfehlung bekommt, geben sie es
       trotzdem auf ein Gymnasium. Nicht-Akademiker-Eltern hingegen akzeptieren
       die Empfehlung oder korrigieren nach unten – weil sie denken, dass sie
       ihrem Kind nicht helfen können. Von den Eltern hängt sehr viel ab in so
       einer Situation. Ich wurde damals ziemlich allein gelassen.
       
       Sie sind dann zur Realschule gegangen, hatten gute Noten. Nach der neunten
       Klasse haben Sie sich persönlich bei einem Augsburger Gymnasium
       vorgestellt. 
       
       Ja, es hatte den Ruf, dass man da einfach raufkommt. Ich bin zum Konrektor
       gegangen, habe gesagt, dass ich später gern studieren und nach den
       Sommerferien auf das Gymnasium gehen würde.
       
       Wie hat er reagiert? 
       
       Er hat mich ausgelacht, hat gesagt, dass ich da nicht hingehöre. Dass es
       schon einen Sinn gehabt hat, dass ich auf die Realschule gekommen bin.
       
       Das ist hart. 
       
       Es hat sich in die Reihe negativer Erfahrungen eingefügt. Ich dachte: Okay,
       ich bin halt nur zweite Klasse, ich gehöre da nicht hin. Die ganze
       Tragweite wurde mir erst später klar. Ich habe die Realschule dann mit 1,0
       abgeschlossen und eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin gemacht.
       
       Nach der Ansage des Konrektors haben Sie sich Abi und Studium nicht mehr
       zugetraut? 
       
       Ich wollte vor allem Sicherheit. Ich hatte enorme Angst vor der
       Arbeitslosigkeit und davor, ohne irgendetwas dazustehen. Ich hatte ja kein
       Sicherheitsnetz. Ich dachte, wenn etwas passiert und ich dringend einen Job
       brauche, dann habe ich einen Berufsabschluss und kann sofort anfangen zu
       arbeiten. Diese Angst vor dem Ruin sitzt wahnsinnig tief. Das geht vielen
       Menschen aus finanzschwachen Familien so.
       
       Wie müsste das Schulsystem verändert werden, damit sozialer Aufstieg besser
       gelingt? 
       
       Die Aufteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist das Problem. Es
       ist nicht gut, Kinder auf Schultypen zu verteilen. Es verbaut ihnen
       Chancen, steckt sie in Schubladen, aus denen sie nicht herauskommen. Was
       wir brauchen, sind Gemeinschaftsschulen. Schulen, in denen sie gemeinsam
       lernen und individuell gefördert werden.
       
       Sie haben diesen Einwand schon oft gehört: Wie soll eine individuelle
       Förderung finanziell und personell funktionieren, vor allem im Hinblick auf
       den Lehrkräftemangel? 
       
       Das ist doch kein Argument. Wenn man ein Problem hat, muss man es angehen.
       Dass die Finanzierung schwierig ist, liegt auch daran, dass es ein
       Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern gibt. Der Bund verfügt über die
       Finanzen, kann sie aber nicht in Personal stecken. Die Länder sind zwar
       zuständig, sagen aber, ihnen fehle das Geld. Es ist absurd, dass das auf
       dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. 
       
       Sie selbst haben dann über einen Umweg in Großbritannien studiert. 
       
       Ja, ich hatte noch eine zweite Ausbildung zur Dolmetscherin in München
       gemacht. Die Universität in Großbritannien hat diese als Bachelor
       akzeptiert. Ich konnte also meinen Master machen. Ich habe Internationale
       Beziehungen studiert.
       
       Zurück in Deutschland haben Sie 80 Bewerbungen geschrieben – alle
       erfolglos. 
       
       Mich hat das auch überrascht. Ich dachte, mit einem Auslandsstudium und
       fünf Sprachen – ich spreche Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Englisch und
       Spanisch – würde ich was finden. Dann wurde mir klar: Mir fehlen Netzwerke
       und relevante Praktika. Die Menschen, mit denen ich um die Stellen
       konkurrierte, stammten oft aus wohlbehüteten Verhältnissen. Sie hatten an
       Elite-Unis studiert, früh Praktika im Auswärtigen Amt, im Bundestag oder
       bei großen Unternehmen gemacht. Da konnte ich nicht mithalten.
       
       Glauben Sie, dass auch Ihre Herkunft ein Grund für die Absagen war? 
       
       Der Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens sagte mir mit der Begründung
       ab, dass Kunden meinen Nachnamen nicht aussprechen können würden. Dass
       meine Herkunft auch sonst zu Absagen geführt hat, kann ich nicht belegen.
       Überraschen würde es mich nicht. Studien belegen, dass Menschen mit
       ausländisch klingenden Nachnamen seltener zu Vorstellungsgesprächen
       eingeladen werden.
       
       Was haben Sie dann getan? 
       
       Ich habe angefangen zu netzwerken. Ich wollte im Bereich Außenpolitik tätig
       sein. Also habe ich Events besucht, bin in Vereine eingetreten. Ich habe
       mich bei der Jungen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Junge
       DGAP) engagiert. Die Leute, die da waren, konnten sich alle sehr gut
       ausdrücken, haben eine totale Selbstverständlichkeit ausgestrahlt. Ich habe
       mich erst mal gar nicht getraut, irgendwas zu sagen.
       
       Soziale Scham? 
       
       Ja. Bei den ersten Sitzungen saß ich minutenlang einfach nur da. Diese
       Leute waren oft Referendar:innen, die Jura studiert hatten. Ich hatte
       wahnsinnig Respekt vor denen. Mit welcher Selbstverständlichkeit die gesagt
       haben: „Komm, wir organisieren ein Event und laden die und die Person dazu
       ein.“ Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um auch mal einen Namen
       zu nennen.
       
       Und welcher Name war das? 
       
       Gregor Gysi war einer der ersten, die ich vorgeschlagen habe. Und es hat
       geklappt. Ich war megaaufgeregt, wir haben die Events ja selbst moderiert.
       Aber Gysi war ein sehr angenehmer Gast. Danach habe ich mir gesagt:
       Natalya, dass du das geschafft hast, ohne dich zu verzetteln, Respekt.
       
       Sind Sie stolz darauf, trotz aller Widrigkeiten so weit gekommen zu sein? 
       
       Ja. Ich habe es mir aber auch hart erarbeitet. Vielleicht habe ich auch ein
       bisschen Glück gehabt. Wobei ich an das Glück der Tüchtigen glaube. Wenn
       man superhart kämpft, hat man irgendwann auch Glück.
       
       Kann man erkennen, aus welcher Schicht jemand kommt? 
       
       Soziale Herkunft ist etwas, das man auf den ersten Blick nicht sieht. Man
       spürt sie eher, oftmals unbewusst. Die Art und Weise, wie sich jemand den
       Mund zuhält oder die Nase putzt, kann ein Hinweis sein. Aber es ist nie
       ganz eindeutig und von Land zu Land verschieden.
       
       Woran erkennen Personaler die Herkunft im Lebenslauf? 
       
       Wenn jemand neben dem Studium bei McDonald’s gearbeitet hat, ist es nicht
       unwahrscheinlich, dass die Person aus einem nichtakademischen Haushalt
       kommt. Dasselbe, wenn jemand gar keine Auslandserfahrung hat oder an einer
       Fachhochschule war.
       
       2016 haben Sie das [1][„Netzwerk Chancen“] für junge Menschen aus
       nichtakademischen und finanzschwachen Familien gegründet. Um anderen, denen
       es ähnlich geht wie Ihnen früher, beim Aufstieg zu helfen? 
       
       Ja. Ziel war es, dass diese Menschen es einfacher haben als ich. Und das
       nicht nur beim Berufseinstieg, sondern auch danach, wenn sie bereits in
       einem Unternehmen sind.
       
       Sie bringen diese Menschen unter anderem mit Mitarbeitenden von Firmen und
       Organisationen zusammen. 
       
       Die jungen Menschen, die sich bei unserem Netzwerk melden, befinden sich an
       unterschiedlichen Stellen im Leben. Manche machen eine Ausbildung, andere
       studieren oder sind seit Jahren berufstätig, nicht alle sind auf
       Arbeitssuche. Das ist oft das größte Missverständnis: Die Leute denken,
       dass diejenigen, die sich unserem Netzwerk anschließen, arbeitslos sind.
       Dass es ihnen richtig schlecht geht. Dabei sind 90 Prozent von ihnen
       Akademiker:innen, sie kommen nur eben aus nichtakademischen Familien. Sie
       können sich oft gut ausdrücken, haben gute Noten. Vielen fehlen schlicht
       die Kontakte und das Know-how, um beruflich weiterzukommen.
       
       Man kann in Ihrem Netzwerk an Workshops für professionelles Auftreten
       teilnehmen. Gleichzeitig sprechen Sie von dieser tiefsitzenden Scham. Wie
       wandelbar ist ein Mensch? 
       
       Wandel ist ein zu krasses Wort, darum geht es nicht. Wir wollen, dass die
       Menschen erkennen, wo ihre Stärken liegen, und darauf aufbauend ihren
       Aufstieg planen. Man kann sich viel antrainieren; man kann lernen,
       strategisch zu netzwerken, richtig auf andere Menschen zuzugehen. Je länger
       man sich in einer neuen sozialen Schicht bewegt, desto mehr nimmt man deren
       Verhaltensweisen an.
       
       Gab es in Ihrer eigenen Biografie Momente, in denen Sie dachten: Bis
       hierhin und nicht weiter, wenn ich diese Eigenschaft annehme, dann bin das
       nicht mehr ich? 
       
       Ich mag keinen Alkohol, er schmeckt mir nicht. Ich war einmal bei einem
       gehobenen Abendessen, bei dem zu jedem Gang ein anderer Wein serviert
       wurde. Danach habe ich mir gesagt: Das hast du nur mitgemacht, weil du
       dazugehören wolltest. Inzwischen trinke ich gar keinen Alkohol mehr und
       sage das auch. Bei einem anderen Abendessen fingen Bekannte an, übers
       Golfen zu reden. Ich habe gesagt, dass ich aufgrund meiner sozialen
       Herkunft nicht mitreden kann. Das konnten sie nicht verstehen, dass das
       etwas Kulturelles ist. Dass Menschen, die in einfachen Verhältnissen
       aufwachsen, kein Golf spielen. Ich möchte mich da nicht anpassen und finde
       es legitim zu sagen, dass das Thema exkludierend ist.
       
       Was muss sich, abgesehen von den Schulen, strukturell ändern, damit es mehr
       soziale Diversität in der deutschen Arbeitswelt gibt? 
       
       Wir brauchen gute frühkindliche Förderung und eine ordentliche
       Berufsberatung – eine, die nicht primär auf den Schulabschluss und auf
       Noten, sondern auf Stärken und Interessen eines Menschen blickt. Dann muss
       das Bafög erhöht werden, Vollzeitpraktika müssen mindestens vierstellig
       vergütet werden, sonst können sich das nur junge Menschen aus wohlhabenden
       Familien leisten. Außerdem muss soziale Herkunft als Kategorie ins
       [2][Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)] aufgenommen werden. Es gibt
       Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft, wenn mitunter auch unbewusst.
       Es ist wichtig, das aufzuzeigen.
       
       Das müsste dann aber definiert und nachgewiesen werden. 
       
       Hier Diskriminierung nachzuweisen kann mühsam sein, das stimmt. Das ist
       aber Sache von Jurist:innen. Oft ist es eine Einzelfallentscheidung. Wenn
       jemand befördert wurde und jemand anderes nicht, muss man schauen, ob die
       sonstigen Rahmenbedingungen beider Kandidat:innen gleich sind.
       
       Ist die Arbeitswelt in den letzten Jahren nicht schon diverser geworden? 
       
       Ja. Als wir mit unserem Netzwerk angefangen haben, hat in Deutschland
       niemand über soziale Diversität geredet. Inzwischen wurde soziale Herkunft
       in die [3][Charta der Vielfalt], eine Selbstverpflichtungserklärung
       verschiedener Unternehmen, aufgenommen. Seitdem wird darüber diskutiert.
       Aber das ist noch nicht das Ende der Reise. Unternehmen müssen sich konkret
       fragen: Wo und wie rekrutiere ich Menschen? Was für Netzwerke biete ich an?
       Wie stelle ich insbesondere in elitären Branchen wie der Finanzwelt sicher,
       dass nicht nur Menschen aus wohlbehüteten Verhältnissen weiterkommen?
       
       Dazu braucht es mehr Daten zur sozialen Herkunft. 
       
       Ja. Ich verstehe, dass diese Daten sensibel sind. Aber anonymisiert könnte
       man sie abfragen. Solange man keine Daten zur sozialen Herkunft hat, gibt
       es keine Transparenz. Und die ist wichtig. Wenn auf einem Unternehmensfoto
       nur weiße Männer zu sehen sind, keine Frauen oder nichtweiße Menschen, wird
       das zu Recht kritisiert. Soziale Herkunft aber kann man auf einem Bild
       nicht sehen. Man muss sie anders sichtbar machen. Weil sonst kein
       Handlungsdruck entsteht. Das ist das Ziel von „Netzwerk Chancen“: Ich will
       soziale Diversität bis ganz oben, bis in die Chefetagen.
       
       Sie haben den Aufstieg geschafft. Mussten Sie dafür etwas zurücklassen? 
       
       Das Deutlichste ist die Entfremdung von den Eltern. Man hat keine
       gemeinsamen Themen mehr. Meine Eltern verstehen nicht, was eine
       Unternehmensberatung macht. Sie verstehen ganz rudimentär, dass ich eine
       Organisation habe, die junge Menschen unterstützt. Aber Workshops,
       Coachings – das ist alles zu abstrakt für sie.
       
       Macht Sie das traurig? 
       
       Ich habe es akzeptiert. Traurig war ich, als ich noch zur Schule gegangen
       bin. Da habe ich ihnen schon gesagt: „Wollt ihr nicht wenigstens versuchen,
       Arbeit zu finden?“ Aber es hat nichts gebracht. Also habe ich das Thema
       ausgeklammert. Mit 17 bin ich ausgezogen. Heute sehe ich meine Eltern
       einmal im Jahr, wir telefonieren alle zwei Wochen. Meist reden wir über das
       Wetter oder darüber, welche Serien man geschaut hat.
       
       Gibt es neben einer sozialen Scham auch eine Scham des sozialen Aufstiegs? 
       
       Bei mir nicht. Dazu habe ich zu wenig Kontakt in meine alte Welt.
       
       6 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.netzwerk-chancen.de/
   DIR [2] https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/AGG/agg_gleichbehandlungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile
   DIR [3] https://www.charta-der-vielfalt.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sascha Lübbe
       
       ## TAGS
       
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