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       # taz.de -- Ex-Präsident Hollande über den Krieg: „Die Ukraine hat das erste Wort“
       
       > Frankreichs Ex-Präsident Hollande handelte mit Putin ein Friedensabkommen
       > für den Krieg im Donbass aus. Ein Gespräch zu möglichen Wegen aus dem
       > Krieg.
       
   IMG Bild: „Das Minsker Abkommen ist eine gute Grundlage“, sagt François Hollande
       
       wochentaz: Herr Hollande, zwischen 2012 und 2017 haben Sie zusammen mit der
       ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsch-französische
       Achse gebildet und einen Eindruck der Einheit und guten Zusammenarbeitet
       vermittelt. Vermissen Sie seit 2017 diesen harmonischen Ton zwischen Paris
       und Berlin? 
       
       François Hollande: Jede Periode bringt unterschiedliche Persönlichkeiten
       und Themen mit sich, und manchmal braucht es Zeit, um sich aufeinander
       einzustimmen. Mit Frau Merkel beschäftigten wir uns mit der Krise der
       Eurozone, dann tobte seit 2014 der Krieg in der Ostukraine, und schließlich
       hatten wir die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Heute, angesichts der
       intensiven Dimension, die der Krieg seit einem Jahr vor den Toren Europa
       angenommen hat, müssen [1][die deutsch-französischen Beziehungen] sowohl
       auf politischer, militärischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene neu
       definiert werden.
       
       Paris und Berlin haben unterschiedliche Vorstellungen von
       Verteidigungspolitik: Für Deutschland ist die atlantische Verbindung mit
       den USA vorrangig, während Frankreich den Fokus auf die strategische
       Autonomie setzt – ein Begriff, der von unseren Verbündeten nicht unbedingt
       gut verstanden wird. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Frankreich nicht die
       gleiche Haushaltslage wie Deutschland, ein Land, das gerade eine heikle
       Umstellung seiner Industrie vor sich hat, um sich von seiner langjährigen
       Abhängigkeit vom russischen Gas zu lösen. Nur wenn Deutschland und
       Frankreich die dynamischsten Kompromisse finden, wird Europa Fortschritte
       machen können. Harmonische deutsch-französische Beziehungen sind notwendig,
       um die anderen EU-Länder zusammenzubringen. Wenn wir uns einig sind, kann
       ein Kompromiss von allen mitgetragen werden.
       
       Zwischen 2012 und 2017 haben Sie gemeinsam mit Merkel die
       EU-Russland-Politik geprägt, indem Sie sich mit Wladimir Putin im
       Normandie-Format-Treffen an einen Tisch setzten, um einen Frieden für die
       Ostukraine auszuhandeln. War es ein Fehler, sich zu diesem Zeitpunkt für
       die Diplomatie zu entscheiden? 
       
       In den Jahren 2014/2015 war die Lösung zwangsläufig diplomatisch. Die
       Ukrainer waren militärisch nicht in der Lage, die von Russland bewaffneten
       Separatisten zurückzudrängen. Parallel war die Halbinsel Krim 2014
       unrechtmäßig annektiert worden. Also musste man einen Weg finden, Putin zu
       Verhandlungen zu bringen – was er schließlich akzeptiert hat.
       
       Erstens, weil er zu diesem Zeitpunkt auf der Weltbühne nicht isoliert sein
       wollte. Zweitens, weil er darauf bedacht war, [2][Präsident Baschar
       al-Assad in Syrien weiter zu unterstützen]. Drittens, weil er den Konflikt
       in der Ukraine einfrieren wollte. Das Minsker Abkommen sicherte die
       territoriale Integrität der Ukraine und gewährte den östlichen Regionen
       weitgehende Autonomie, die Dezentralisierung des Landes sollte in eine neue
       Verfassung aufgenommen werden. Putin hat nichts getan, um das Abkommen zu
       fördern, einige politische Gruppen in der Ukraine haben diesen Kompromiss
       ebenfalls nicht befürwortet. Ich finde es jedoch falsch zu glauben, dass
       Putin die Ukraine angegriffen hat, weil Minsk II nicht funktioniert hat.
       Nein, mit seinem Angriffskrieg glaubt er die gesamte Ukraine annektieren zu
       können.
       
       Warum stand die Krim bei den Verhandlungen nicht auf der Tagesordnung? 
       
       Die Krim wurde nicht in das Minsker Abkommen aufgenommen, weil diese Frage
       später auf internationaler Ebene behandelt werden sollte – nicht nur
       zwischen Merkel, Petro Poroschenko (damaliger Präsident der Ukraine, Anm.
       d. Red.), Putin und mir. [3][Minsk II hingegen war für die Ukrainer
       akzeptabel], weil Russland Bereitschaft signalisierte, sich hinter eine
       vereinbarte Kontaktlinie zurückzuziehen. Im Gegenzug gestand Kyjiw den
       russischsprachigen Gebieten eine weitgehende Autonomie zu. Deswegen ist das
       Minsker Abkommen auch heute noch eine geeignete Grundlage für zukünftige
       Verhandlungen.
       
       Könnten Sie sich vorstellen, die Gespräche im Normandie-Format wieder
       aufzunehmen? 
       
       Dies hängt von den Ukrainern ab: Die Ukraine hat das erste Wort bei der
       Wahl des diplomatischen Partners, mit dem sie den Krieg beenden wollen. Es
       ist noch zu früh, um zu sagen, ob dies ein Treffen auf internationaler oder
       nur auf europäischer Ebene wäre. Bei den Verhandlungen müssen für Kyjiw
       aber Sicherheitsgarantien herauskommen.
       
       Internationale Partner, wie China mit dem jüngsten Friedensplan, oder die
       Türkei, die den Gefangenenaustausch und den Getreidedeal mit der UNO
       ausgehandelt hat, bieten sich bereits als mögliche Vermittler an … 
       
       China ist der wichtigste Verbündete Russlands, daher sehe ich nicht, wie
       Peking [4][an einen Tisch kommen sollte], um eine ausgewogene politische
       Lösung zu fördern. Die Türkei ist Russlands „größter Feind“. Recep Tayyip
       Erdoğan spielt mal die Konfliktkarte, mal die Komplizenschaftkarte mit
       Putin, je nachdem, wie es ihm passt. Mal heiß, mal kalt. Zu gegebener Zeit
       sollte man einen Vermittler finden, den Wolodimir Selenski akzeptiert.
       
       In Ihrem neuesten Buch „Bouleversments. Pour comprendre la nouvelle donne
       mondiale“ („Umbrüche. Die neue Weltlage verstehen“) erinnern Sie sich an
       ein Gespräch mit Wladimir Putin in Paris, ein Tag nach Ihrer Wahl 2012. Als
       besonders „aufschlussreich“ beschreiben Sie den Moment, als Putin
       Nato-Raketenabwehrsysteme in Mittel- und Osteuropa als eine Bedrohung für
       Russland bezeichnete. Er wollte schriftliche Garantien haben. Hätte die
       Nato etwas anders machen sollen? 
       
       Nein. Putin hat damit einfach eine klare Ansage gemacht: Darin spiegelte
       sich die Haltung eines Angreifers, um mögliche zukünftige Angriffe zu
       rechtfertigen. Egal welche Garantien man ihm gegeben hätten, diese hätten
       niemals ausgereicht. Der Beweis dafür: [5][Frankreich und Deutschland haben
       2008 dagegen gestimmt], dass die Ukraine der Nato beitritt. Warum? Das wäre
       ein Vorwand für einen sofortigen russischen Angriff gewesen. Wir haben der
       Ukraine diesen Status nicht gegeben, doch dann hat Putin einfach gesagt,
       dass er von Nazis umgeben sei. Und der Angriff begann.
       
       Sie schreiben auch, dass Putin einer lang geplanten Strategie folgt und
       erhebliche Risiken eingeht. Sie beschreiben ihn als einen Lügner, jemanden,
       der etwas verschleiert. Was will er? 
       
       Putin will die ehemalige Sowjetunion wiederherstellen. Das war sein erstes
       Ziel beim Überfall am 24. Februar 2022. Allerdings weiß er heute, dass er
       das nicht mit Gewalt erreichen kann. Sein zweites Ziel ist es, so viele
       Gebiete in der Ukraine wie möglich zu besetzen, um sie dann zu annektieren
       – entsprechende Gesetze liegen dem Parlament bereits vor. Daher ist es
       dringend notwendig, der Ukraine Waffen zu liefern und sie zu unterstützen,
       damit die russische Armee so weit wie möglich zurückgedrängt wird.
       
       2014/15 gab es keine derartige Diskussionen über Waffenlieferungen … 
       
       2014/2015 war Russland nicht direkt am Konflikt beteiligt – reine Fiktion.
       Russland rüstet die ukrainischen Separatisten mit Waffen aus. Heute ist
       Putin der Aggressor und seine Armee bombardiert die wichtigsten
       ukrainischen Städte. Seit 2014 tobt der Krieg hauptsächlich im Donbass.
       Erst 2022 wurden Kyjiw und andere Großstädte beschossen.
       
       In Deutschland militarisiert sich der politische Diskurs. Dabei spielen
       auch die USA eine Rolle. 
       
       Zweifellos. Zunächst verfolgte US-Präsident Joe Biden die Politik seines
       Vorgängers Donald Trump. Für Trump waren die USA innerhalb der Nato am
       meisten gefordert, während die Europäer sich nur zögerlich an den
       Verteidigungsanstrengungen beteiligten. Biden hingegen hat ein
       vertrauensvolleres Verhältnis zu den Europäern und eine offenere Haltung
       gegenüber der atlantischen Allianz. Er ist dabei, den USA wieder eine
       wichtige Rolle zuzuweisen – in Europa, aber auch im pazifischen Raum.
       
       Der Rückzug der USA 2021 aus Afghanistan hat ihm zweifellos die Augen
       geöffnet. Es war Biden sehr wichtig, ein erneutes US-Engagement in der Welt
       zu zeigen. Die Nato ist der große Nutznießer des russischen Überfalls:
       [6][Finnland und Schweden werden der Nato beitreten], und alle
       Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland mit den – zusätzlichen – 100
       Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, haben ihre
       Verteidigungsausgaben deutlich erhöht. Berlin hat aber auch seine Position
       in Bezug auf seine Strategie erheblich verändert.
       
       Auch die Außenhandels- und Energiepolitik Berlins hat sich verändert. Es
       heißt, das Land sei gegenüber Russland blind gewesen. 
       
       Europa pflegte eine Illusion, nicht nur gegenüber Russland, sondern auch
       gegenüber China – nämlich zu glauben, dass gute Handelsbeziehungen
       zwangsläufig den Frieden fördern würde. Einige glaubten sogar, selbst die
       autoritärsten Regime dank des wirtschaftlichen Austauschs zu politischen
       Zugeständnissen bewegen zu können. Das ist nicht der Fall. Die nationalen
       Prioritäten und imperialen Ziele bleiben bestehen.
       
       Auf deutscher Seite, und manchmal auch auf französischer Seite, herrschte
       die Idee vor, dass Putins Russland auf Gewalt verzichten würde, wenn man
       mit ihm spräche. Aber das war ein Fehler. Was wir daraus lernen: Europa
       kann nicht nur ein wirtschaftliches, kommerzielles und politisches
       Konstrukt sein. Wir brauchen auch die militärische Komponente: Die
       Verteidigungsdimension muss in die Europäische Union integriert werden.
       
       Jetzt drängt die Ukraine stärker denn je in die Nato. Dafür muss doch
       zuerst Frieden geschlossen werden … 
       
       Wenn die Ukraine Mitglied der Nato gewesen wäre, wären wir jetzt
       verpflichtet gewesen, nicht nur Waffen zu liefern, sondern auch mit Truppen
       einzugreifen. Die Vernunft gebietet es also, zuerst Frieden zu schaffen und
       dann der Ukraine Sicherheitsgarantien zu geben. Aber das muss nicht
       unbedingt durch eine Nato-Mitgliedschaft geschehen.
       
       Zur [7][Sicherheitskonferenz vom 17. bis zum 19. Februar] war Russlands
       Außenminister Sergei Lawrow nicht eingeladen. Eine gute Idee? 2022 lag die
       Einladung vor, jedoch war es Lawrow, der nicht kam. 
       
       Wenn wir über unsere eigene Sicherheit sprechen wollen, ist es schwierig,
       das Land einzuladen, das sie bedroht. Solange Krieg herrscht, kann Moskau
       nicht in die Gestaltung der Weltordnung und kollektive Sicherheitsgarantien
       einbezogen werden.
       
       24 Feb 2023
       
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