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       # taz.de -- Ex-Schulsenator Zöllner im Interview: „Die Schulreform war kein Fehler“
       
       > Die Hauptschule war „eine separierende Katastrophe“, sagt Ex-Schulsenator
       > Jürgen Zöllner, der diese Schulform vor 10 Jahren in Berlin abgeschafft
       > hat.
       
   IMG Bild: Original nur mit Fliege: Der ehemalige Bildungssenator Jürgen Zöllner, hier auf einem Bild von 2008
       
       taz: Herr Zöllner, reizt es Sie manchmal, die Stelle als Bildungssenator in
       Berlin wieder anzutreten? 
       
       Jürgen Zöllner: Nein. Wenn Schluss ist, ist Schluss. Deshalb äußere ich
       mich auch nicht mehr politisch zu aktuellen Angelegenheiten, außer zum
       Wissenschaftsbetrieb.
       
       Würden Sie nicht manchmal noch gerne …? 
       
       Einmal hat’s kurz gezuckt: Unter der aktuellen Koalition auf Bundesebene
       hätte die große Chance bestanden, eines der zentralen Probleme des
       deutschen Bildungssystems zu lösen.
       
       Sie meinen den Föderalismus? 
       
       Nein! Ich schätze [1][den Föderalismus] grundsätzlich. Positive
       Veränderungen in der Bildungspolitik sind stets von einem Bundesland
       ausgegangen. Die Ganztagsschule zum Beispiel starteten wir damals in
       Rheinland-Pfalz. Das Problem ist aber, dass es zwar einen Wettbewerb gibt,
       aber keine gemeinsame Messlatte, die auch kontrolliert wird. Das hätte man
       bei der Grundgesetzänderung zur Regelung der Zusammenarbeit von Bund und
       Ländern nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Bildung
       anpacken sollen. Man hätte gemeinsame Bildungsstandards und deren Kontrolle
       vereinbaren können, ohne die Bildungshoheit der Länder aufzuheben. So hätte
       man beim Vergleich der Ergebnisse dann auch feststellen können, ob man mit
       dem bayerischen Ansatz besser fährt, mit dem Berliner oder dem hessischen.
       
       Berlin hat vor zehn Jahren – Sie waren damals Bildungssenator – mit der
       Schulstrukturreform versucht, ein integratives Schulsystem zu schaffen, das
       zu mehr Chancengleichheit, mehr höheren Schulabschlüssen und weniger
       Abbrüchen führt. Zehn Jahre später wissen wir, dass diese Ziele verfehlt
       wurden. War das damals alles Murks? 
       
       Nein, ich habe damals zwar auch Fehler gemacht. Aber die
       Schulstrukturreform zählt gewiss nicht dazu. Als ich 2006 nach Berlin kam,
       war mir schnell klar, dass dieses Schulsystem strukturell Schüler*innen
       abhängt.
       
       Warum? 
       
       Die Hauptschulen mit nur zehn Prozent der Schüler*innen waren eine
       separierende Katastrophe. Ich habe aber nie geglaubt, dass die
       Schulstrukturreform allein die Schule in Berlin besser macht. Sie war aber
       die Voraussetzung dafür, dass man gute Bildungspolitik machen kann.
       Pisa-Forscher Jürgen Baumert nannte sie das Fundament und eine
       „Meisterleistung“. In diesem Sinn war die Reform eine der großen Sachen,
       die in Berlin gelungen sind.
       
       Und wie macht man die? 
       
       Der Erfolg von Schule ist abhängig von der Qualität des Unterrichts und der
       Motivation der Lehrer*innen. Das ist der Kernpunkt, das wissen wir nicht
       erst seit der Hattie-Studie (wegweisende Studie zu Bedingungen für
       Lernerfolg von 2009, d. Red.). Schulstruktur allein sorgt nicht für
       Chancengleichheit. Die Unterrichtsqualität entscheidet, und sie fußt auf
       guter Lehrerausbildung, wirklicher Professionalität der Lehrkräfte und
       breiter gesellschaftlicher Wertschätzung ihrer Arbeit.
       
       Die Sekundarschulen ohne Oberstufen sind doch die neuen Hauptschulen. 
       
       Das Problem der Sekundarschulen ohne Oberstufe habe ich seinerzeit gesehen
       und deshalb gesagt, dass diese Schulen verbindliche Vereinbarungen mit
       berufsbildenden Schulen oder Gymnasien eingehen sollen, um auch eine
       Oberstufe anbieten zu können. Ich weiß nicht, ob man das mit dem nötigen
       Nachdruck verfolgt hat. Die Schulstruktur in Berlin ist aber heute kein
       Thema, über das noch gestritten wird.
       
       Wäre es besser gewesen, der Linken zu folgen und die Gymnasien gleich ganz
       abzuschaffen? Mit der Option, alle Sekundarschulen mit Oberstufen
       ausstatten zu können 
       
       Auf keinen Fall. Der Erhalt der Gymnasien ist konstitutiv, nicht zuletzt
       auch für den Schulfrieden, wenn der Elternwille kein Lippenbekenntnis sein
       soll. Es gibt Eltern, die ihre Kinder erfolgreicher in einer homogeneren
       Lerngruppe sehen.
       
       Aber es war das Ziel der Strukturreform, diese Homogenität aufzulösen. 
       
       Ich halte nichts von Zwangsbeglückung. Ich habe sozialdemokratische
       Bildungspolitik stets so verstanden, dass es das Wichtigste ist, möglichst
       alle optimal zu fördern. Die Sekundarschulen bekommen mehr Mittel, um
       besondere Förderung anzubieten. Ich muss [2][den Lernschwächeren mehr
       Hilfe] zukommen lassen, aber ich werde die Gesellschaft nur voranbringen,
       wenn diejenigen, die besonders begabt sind, eben auch gefördert und nicht
       gebremst werden. Und wenn das in einer homogenen Gruppe besser möglich ist,
       dann muss es diese geben.
       
       Ist es in homogenen Gruppen leichter möglich? 
       
       Wir haben kein separierendes Schulsystem, sondern ein Kernangebot: die
       Grundschule als Primarschule und die Sekundarschule als weiterführende
       Schule. Und dann gibt es zusätzlich das Gymnasium als zweite Säule,
       teilweise grundständig (ab Klasse 5 statt ab Klasse 7, d. Red.) und mit
       Schnellläufern. Dass es auch Sekundarschulen gibt, die Spitzenförderung
       machen, ist ja kein Widerspruch, das ist doch optimal. Aber auch diese
       differenzieren intern. Denn Ungleiches gleich zu behandeln ist nicht
       Gerechtigkeit. Wir würden unsere Nationalmannschaften auch nicht so
       zusammensetzen, dass sie die Qualifikation unserer gesamten Bevölkerung im
       sportlichen Können widerspiegeln.
       
       Warum werden dann die Bildungserfolge nicht besser? 
       
       Ich habe im Anschluss an die Strukturreform ein Qualitätspaket mit über 30
       Punkten erarbeiten lassen und auch begonnen, das umzusetzen. Da ging es
       etwa um Anerkennungskultur, Transparenz, Unterstützung für Lehrkräfte und
       Schulen. Ich habe zum Beispiel eine bessere Lehrkräfteausstattung für
       Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern eingeführt, deren Familien Hartz
       IV bekommen. Wir sehen aber, dass Schulen unter sehr ähnlichen
       Voraussetzungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Hier müssen
       wir die Ursachen transparent machen und den Schulen nachdrücklich helfen,
       besser zu werden.
       
       Helfen mehr Lehrkräfte? 
       
       Manchmal hilft das leider auch nicht. Man muss genau analysieren, was die
       eine Schule anders macht als die andere. Hat die Schulaufsicht nicht
       gesehen, dass der Schulleiter nicht führt oder das Kollegium kein Team ist,
       dass Kollegen*innen nicht wissen wollen, was in der Parallelklasse besser
       gemacht wird? Jeder und jede von diesen ist verantwortlich.
       
       Der Fachkräftemangel ist eine Scheindebatte? 
       
       Die reine Ausstattungsdiskussion ist ein Trugschluss. Es gibt kein
       Bundesland, das mehr Geld pro Schüler ausgibt als Berlin. Die Ausstattung
       mancher Schulen in Berlin mit einer schwierigen Schülerschaft liegt bei 200
       Prozent: Sie haben doppelt so viele Lehrerstunden, wie sie laut
       Stundentafel unterrichten müssen. Und trotzdem fällt immens Unterricht aus.
       Wie kann das sein? Wovon ist man da überfordert? Fehlt es an Aus- und
       Weiterbildung der Lehrkräfte, an Motivation oder an der Offenheit, sich
       auch nur mal auszutauschen, warum es bei dem einen besser läuft als bei dem
       anderen? Schule braucht motivierte pädagogische Profis, die
       methodisch-didaktisch guten Unterricht geben – weil sie ein echtes
       Interesse am Schulerfolg der ihnen anvertrauten Kinder haben.
       
       Mittlerweile sind die Schulen froh, wenn sie überhaupt Lehrer bekommen. Auf
       deren Qualifikation können sie gar nicht mehr schauen. 
       
       Das ist sicher ein Problem. Das explosionsartige Bevölkerungswachstum der
       Stadt hat ja erst so um 2012 begonnen. Trotzdem haben wir vorher schon die
       Zahl der Referendarstellen spürbar erhöht, weil ich gesehen habe, dass da
       etwas kommt. Wir haben in den bayerischen Studienseminaren um
       Absolvent*innen geworben. Jetzt ist der Lehrermangel ein bundesweites
       Problem, da hilft das auch nicht mehr. Dazu kommt die Frage der
       Verbeamtung, einer der großen Fehler, die ich gemacht habe.
       
       Inwiefern? 
       
       Ich wollte es, und hätte gegenüber dem damaligen Finanzsenator Nußbaum und
       Klaus Wowereit lauter und öffentlich darauf bestehen müssen, dass wir
       Lehrkräfte wieder verbeamten. Dass Berlin das nicht tut, erschwert die
       heutige Situation.
       
       Was sagen Sie zu den Quereinsteigern? 
       
       Das ist zumindest berufswissenschaftlich nicht ideal, aber auch eine
       Chance, denn viele bringen Erfahrungen aus anderen Lebenswelten in die
       Schule ein. Wir sind heute [3][auf die Quereinsteiger angewiesen]. Alle,
       die sich wirklich anstrengen, müssen das Gefühl haben, dass das auch
       wertgeschätzt wird. Und die anderen müssen ertragen, dass nach einer
       Ursache gesucht und dann unterstützt und entwickelt wird.
       
       28 May 2020
       
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