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       # taz.de -- Experimentelle Punkmusik aus Japan: Immer im Flow
       
       > „Our Likeness“, ein Postpunk-Album der japanischen Künstlerin Phew, wird
       > wieder veröffentlicht. Es verbindet Subkulturen zwischen Japan und
       > Europa.
       
   IMG Bild: Kommt bald nach Deutschland: Künstlerin Phew
       
       Zum Interview kommt die Künstlerin zu spät – Phew hat sich in der
       verwunschenen Natur der Atlantikinsel Madeira beim Pilzesuchen verlaufen.
       Am Vorabend hatte die 63-jährige japanische Experimentalmusikerin einen
       eindrucksvollen Auftritt beim Madeiradig-Festival absolviert: Phews
       expressiver, teils improvisierter Gesang über zerhackten Synthieflächen
       blieb trotz aller Störgeräusche immer im Fluss.
       
       Angesichts der Verspätung erklärt sie etwas kokett, dass sie
       unprofessionell an Musik herangehe. Wäre auch komisch, würde sie sich
       jetzt, im Alter, noch ändern. Ein Anlass unseres Treffens ist die
       Wiederveröffentlichung ihres Albums „Our Likeness“. Das entstand 1992 im
       Kölner Studio des legendären Produzenten Conny Plank, unter Mitwirkung von
       Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit und dem NdW-Musiker Chrislo Haas,
       Gründungsmitglied DAF. Auf seine Initiative hin war das Projekt überhaupt
       entstanden.
       
       [1][Von früher zu erzählen, gar in Erinnerungen zu schwelgen, ist nicht
       unbedingt Phews Ding]. Dabei hält ihre Biografie zahlreiche Schmankerl
       bereit. Etwa, wie sie als 16-Jährige in Tokio ihr Erweckungserlebnis vor
       dem Fernseher hatte – als sie die Sex Pistols sah. Sie überzeugte ihre
       Eltern, sie für einen Sommer zum Englischlernen nach London zu schicken.
       Inspiriert von der Punk-Subkultur, in die sie dort eingetaucht war,
       gründete Phew 1978 in Tokio die Band Aunt Sally.
       
       [2][Ryuichi Sakamoto], damals Keyboarder des Elektropop-Trios Yellow Magic
       Orchestra, produzierte Phews Debütingle als Solistin. 1981 nahm sie dann
       das Album „Phew“ auf, für das ihr Label Mute die japanische Künstlerin auch
       schon [3][ins Studio von Conny Plank nahe Köln] geschickt hatte; neben Jaki
       Liebezeit am Schlagzeug gehörte auch [4][Can-Bassist Holger Czukay] zur
       Backingband – mit dem Ergebnis, dass Phews frühe Musik wie eine
       alternativer Abzweig der Can-Geschichte klingt.
       
       ## Jedes Detail entscheiden
       
       Es folgt eine umtriebige Solokarriere, mit vielen tollen Kooperationen.
       Seit an Seit mit Ekletikern wie dem New Yorker Produzenten und Bassisten
       Bill Laswell und Jim O’Rourke arbeitete sie, ebenso wie mit der japanischen
       Underground-Supergroup Novo Tono und Ana da Silva von den Londoner
       Raincoats. In den zehner Jahren entdeckte sie dann Homerecording für sich;
       auf dem ersten auf diese Weise produzierten Album „Light Sleep“ (2012)
       klingt sie stimmlich emotional wie selten.
       
       „Musik im Alleingang zu produzieren hat definitiv Vorteile. Ich kann selbst
       jedes Detail entscheiden. Solo eine Tournee zu bestreiten ist allerdings
       öde – immer allein essen gehen!“ Und schon poppt sie wieder auf, die
       Phew’sche Koketterie: „Ich war Dilettantin, habe aber immer mit Profis
       zusammengearbeitet.“ Als solchen erlebte sie auch Chrislo Haas.
       
       Der Multiinstrumentalist war 1981, bei den Aufnahmen zu ihrem Debüt,
       federführend. Bei einem Japanbesuch Ende der 1980er kontaktierte Haas die
       japanische Künstlerin: Ob Interesse an einer Zusammenarbeit bestünde? Er
       stellte den Kontakt zum Label Mute her und trommelte Mitmusiker zusammen;
       unter anderem spielte Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten auf
       „Our Likeness“ Gitarre.
       
       ## Chrislo Haas, ein Pionier der elektronischen Tanzmusik
       
       „An Chrislo denke ich oft – vor allem, wenn ich alleine zu Hause am
       Computer arbeite. Und frage mich dann, welche Art von Musik er heute machen
       würde, wäre er noch am Leben. Seine Musik klang immer eigenwillig und
       reichhaltig, obwohl er scheinbar minimalem Aufwand betrieb, ohne großen
       Schnickschnack.“
       
       Haas hatte auf dem Album „Die Kleinen und die Bösen“ (1980) von DAF
       (übrigens der ersten Veröffentlichung von Mute überhaupt) Bass und Saxofon
       gespielt. Nach seinem Ausstieg gründete er mit Beate Bartel Liaisons
       Dangereuses: Mit „Los Ninõs del Parque“ hatte das Duo 1982 einen Welthit,
       der zur Blaupause von Techno wurde. Haas gilt als Innovator und Pionier
       der die Entwicklung der elektronischen Tanzmusik. Leider starb er 2004 im
       Alter von 47 Jahren infolge seines übermäßigen Alkoholkonsums.
       
       Jenseits von der Begeisterung für ihre einstigen, weitgehend in
       Vergessenheit geratenen Mitstreiter – die Gegenwart ihres Musikschaffens
       interessiert Phew mehr. Sie lebt inzwischen am Rande der Metropole Tokio
       und schwört auf den Spirit der Independentszene. Dass es in Japan kaum
       Unterstützung für experimentelle Musiker:innen gibt, sieht sie eher
       positiv.
       
       Auch im fünften Jahrzehnt ihres Musikschaffens feiert sie den DIY-Ethos von
       Punk, ohne Ermüdungserscheinungen. Gerade hat sie ein Album mit der
       Berliner Allround-Künstlerin Danielle de Picciotto aufgenommen; auch mit
       Ana da Silva will sie demnächst wieder arbeiten.
       
       Es ist ein Gewinn, sich „Our Likeness“ zu Gemüte zu führen. Jeder Song
       steht für sich: der schleppende Groove von „Depth of the Forehead“, bei dem
       sie den schneidenden Drive der Gitarre mit dem Gesang bremst. Die
       klackerige Kakophonie von „Our Element“. Der luftige Überschwang des
       Titelsongs. Phew hat mit diesem Album etwas ganz Eigenes geschaffen – auch
       dank der Persönlichkeiten, die daran mitwirkten.
       
       20 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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