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       # taz.de -- ExpertInnen über Inklusion: „Warum soll das nicht gehen?“
       
       > Erneut wird die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft.
       > Leander Palleit und Britta Schlegel vom Deutschen Institut für
       > Menschenrechte üben Kritik.
       
   IMG Bild: Wenn es schon mal Grund zum Jubeln gibt: Fans bei den Special Olympics World Games 2023 in Berlin
       
       wochentaz: Frau Schlegel, Herr Palleit, werden die Rechte eines Kindes, das
       heute mit einer Behinderung geboren wird, besser gewahrt als vor 15 Jahren? 
       
       Leander Palleit: Ganz pauschal ja, aber der Unterschied ist relativ gering.
       Es passiert durchaus, dass Kinder, die heute mit Behinderung geboren
       werden, die gleichen schlechten Erfahrungen machen wie vor 15 Jahren.
       
       Was ist dann aus dem großen Paradigmenwechsel geworden, den die
       Unterzeichnung der [1][UN-Behindertenrechtskonvention] einläuten sollte? 
       
       Palleit: Bis 2016 ist relativ viel passiert und danach relativ wenig. Der
       Begriff Inklusion taucht zwar überall auf – inklusive Gesellschaft,
       inklusiver Sport. Aber wenn man genau hinsieht, dann steckt da oft wenig
       Inklusion drin. Ein Wandel in der Rhetorik reicht nicht.
       
       Diese Konvention ist rechtlich bindend. Wieso sitzen wir überhaupt hier, 14
       Jahre nach Inkrafttreten, und sagen, dass es mit der Umsetzung gewaltig
       hapert? 
       
       Palleit: Weil es erst ein paar Jahre gedauert hat, bis sich überhaupt
       rumgesprochen hatte, dass sie bindend ist, und zwar komplett und auch für
       die Länder und die Kommunen. Als es sich dann rumgesprochen hatte, kam die
       Zeit der großen Abers: Wir haben die Ressourcen nicht, wir brauchen noch
       Zeit, da hängen so viele Sachen dran.
       
       Britta Schlegel: Am schlimmsten ist, wenn die Konvention als solche infrage
       gestellt wird. Personen, die keine Menschenrechtsexpert*innen sind,
       nehmen sich heraus, die Konvention umzuinterpretieren. Dann ist das
       [2][Förderschulsystem] plötzlich bereits ein inklusives System, weil die
       Kinder dort ja überhaupt beschult werden.
       
       Sowohl von Eltern als auch von Lehrer*innen kommt immer wieder das
       Argument, die Bedingungen an den Förderschulen in Deutschland seien für
       bestimmte Kinder geeigneter. 
       
       Schlegel: Fakt ist, dass diese Eltern im Moment nur ein Scheinwahlrecht
       haben. In den meisten Fällen, vor allem im ländlichen Raum, gibt es
       überhaupt keine wohnortnahen inklusiven Regelschulen. Dazu kommt, dass die
       Kinder in die Förderschulen mit dem Fahrdienst gebracht werden und die
       Therapien in der Schule stattfinden. Bei einem Regelschulbesuch müssen
       Eltern das alles in der Regel selbst organisieren. Was ist das für ein
       Wahlrecht? Und selbst in den sogenannten inklusiven Schulen ist es noch
       viel zu oft so, dass bei Problemen die Kinder infrage gestellt werden: zu
       laut, zu schwierig, eine Zumutung für die Klasse. Das Kind passt dann
       nicht. Obwohl es in Wirklichkeit Aufgabe der Schule ist, zum Kind zu
       passen.
       
       Das ist im Grunde doch eine Katze-Schwanz-Diskussion: Solange wir keine
       inklusive Gesellschaft haben, brauchen wir Schutzräume wie Förderschulen,
       Wohnstätten, Werkstätten. Aber solange wir diese Sondersysteme
       aufrechterhalten, kriegen wir keine inklusive Gesellschaft … 
       
       Palleit: Diesen Teufelskreis haben wir unter anderem, weil
       Strukturveränderungen wie gemeinsamer Unterricht unter schlechten
       Voraussetzungen umgesetzt werden. Mit diesen schlechten Erfahrungen im
       Rücken wird dann der bisherige Zustand als bessere Alternative dargestellt.
       
       Gibt es eine Ermüdung in Sachen Inklusion? 
       
       Schlegel: Nicht grundsätzlich. Befragungen zeigen, dass die Bereitschaft
       zur Inklusion im Allgemeinen hoch ist. Aber dem stehen große
       Beharrungskräfte der Institutionen gegenüber. In den bestehenden Wohn-,
       Arbeits- und Lernsystemen steckt ja auch jede Menge Geld.
       
       Und dann gibt es immer wieder die Fälle, in denen andere Normen – wie der
       Denkmalschutz – das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe ausstechen. Dann
       kann die historische Veranstaltungsstätte oder das Schulgebäude eben nicht
       barrierefrei umgebaut werden. 
       
       Palleit: Das ist rechtlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Es ist total
       eindeutig, dass es andersrum sein muss. Wir haben hier ein Menschenrecht,
       das den Stellenwert eines Grundrechts hat. Das scheint in Behörden und
       Gerichten noch nicht überall angekommen zu sein. Viel zu häufig muss das
       Bundesverfassungsgericht entscheiden. Oft sind diese vermeintlichen
       Normkollisionen aber auch nur Scheinkonflikte, die von denen
       heraufbeschworen werden, die nicht die Energie aufwenden wollen, beides
       zusammenzudenken.
       
       Da sind andere Länder weiter? 
       
       Schlegel: Auf jeden Fall. In den USA sind Tankstellen auf der Autobahn
       barrierefreier als bei uns Hotels in der Hauptstadt.
       
       Palleit: … und in Irland hat jedes noch so historische Pub eine
       barrierefreie Toilette. Das haben die schon vor zehn Jahren gesetzlich
       verankert. Warum soll das in Deutschland nicht gehen? Was ist das für eine
       seltsame Regulierungsangst, was für ein Begriff von Freiheit?
       
       Es gibt die sehr grundsätzliche Kritik, dass die
       UN-Behindertenrechtskonvention nicht umsetzbar ist innerhalb der
       Verwertungslogik des kapitalistischen Systems, in dem wir nun einmal leben. 
       
       Palleit: Wir haben hier immer noch den Effekt, dass Gewinne privatisiert
       und Kosten überwiegend vergesellschaftet werden. Grundsätzlich würde ich
       aber sagen: Die Behindertenrechtskonvention ist ein Ausdruck dessen, was
       wir in Deutschland unter Gerechtigkeit verstehen wollen, sonst hätten wir
       sie nicht unterzeichnet. Und wenn einer Verwirklichung dieser Konvention
       Verwertungslogiken entgegenstehen, dann haben wir ein Problem mit den
       Verwertungslogiken und dem Leistungsgedanken. Vielleicht fehlt uns an
       manchen Stellen noch die Fantasie, aber natürlich ist eine Umsetzung der
       Konvention im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft möglich.
       
       Wer genau muss den Druck aufbauen, damit sich wirklich etwas ändert? 
       
       Palleit: Wir alle.
       
       Schlegel: Die Politik ist natürlich die Impulsgeberin, aber Inklusion ist
       eine gesellschaftliche Aufgabe. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann eine
       inklusive Schule für alle. Wenn Kinder von Anfang an gemeinsam leben und
       lernen, und jeder Mensch kennt Menschen mit Behinderung schon von Kindheit
       an, dann würde man sich doch fragen, wo tauchen sie dann ab, wo sind sie
       denn auf einmal nach der Schule? Dann kann man sie nicht einfach in einer
       besonderen Wohnform oder in der Werkstatt abseits von der restlichen
       Gesellschaft betreuen.
       
       Die inklusive Schule als gesellschaftlicher Gamechanger? 
       
       Schlegel: Ja, das kann die Initialzündung sein. Einer der Gründe, warum
       uns Erwachsenen die Fantasie für inklusive Lösungen fehlt, sind doch die
       fehlenden Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen. Das Resultat sind
       Berührungsängste und der schnelle Glaube an die Notwendigkeit von separaten
       Schutzräumen.
       
       Palleit: Und wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass die, die sich mal
       nach vorne wagen, nicht gleich bei ein bisschen Gegenwind den Mut
       verlieren. Ein Beispiel: 2016 hat Schleswig-Holstein das Wahlgesetz
       geändert und alle Wahlunterlagen in leichter Sprache aufgelegt, für alle.
       Die Landtagswahl wurde durchgeführt, der Landtag ist unfallfrei gewählt
       worden und durch die ganze Legislaturperiode gekommen. Die Demokratie ist
       nicht zusammengebrochen. Aber es gab Menschen, die sich durch die
       Wahlunterlagen in ihrem Intellekt beleidigt fühlten. Es gab Proteste von
       nichtbehinderten Menschen. Und was macht die Landesregierung? Sie dreht das
       Ganze zurück. Da wünsche ich mir doch etwas mehr Standhaftigkeit.
       
       Inklusion ist nicht nur ein Menschenrecht, die Umsetzung wird auch immer
       mit dem Nutzen für alle gerechtfertigt. 
       
       Schlegel: Wir verwenden beide Argumentationen gleichzeitig. Mir fällt kein
       Bereich ein, wo die Inklusion nicht auch im Sinne der Mehrheitsgesellschaft
       ist. Eine diversere Gesellschaft ist immer eine freiere, respektvollere und
       tolerantere Gesellschaft.
       
       Das würden bestimmt nicht alle Menschen unterschreiben. Ist das Erstarken
       rechter Kräfte auch ein möglicher Grund für die Stagnation der Umsetzung
       der UN-Behindertenrechtskonvention? 
       
       Palleit: In Teilen der Gesellschaft setzt sich mehr oder weniger verdeckt
       das Narrativ fest, dass die Grundrechte der Mehrheitsgesellschaft mehr wert
       sind als die Grundrechte der Minderheiten. Ich erinnere an [3][die
       Triagedebatte]. Das ist ganz gefährlich, denn diese Unterscheidung gibt es
       ja gerade nicht in den Grundrechten.
       
       Jetzt brauchen wir aber noch ein Beispiel, wo in den letzten Jahren
       wirklich was geschafft wurde. 
       
       Palleit: Der barrierefreie Notruf ist ein gutes Beispiel. Der Deutsche
       Gehörlosen-Bund hat massiv dafür gekämpft, und 2015 gab es nach der letzten
       Staatenprüfung eine ausdrückliche Forderung aus Genf. Und jetzt haben die
       Länder tatsächlich gemeinsam die Nora-App aufgesetzt, die übrigens nicht
       nur von Menschen mit eingeschränkten Hör- und Sprechfähigkeiten genutzt
       wird. Sondern auch von Frauen, die sich zum Beispiel verfolgt fühlen.
       
       Gehen Sie davon aus, dass Deutschland in der kommenden Woche wieder eins
       auf den Deckel kriegt in der Staatenprüfung durch die UN? 
       
       Schlegel: Auf jeden Fall.
       
       27 Aug 2023
       
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