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       # taz.de -- Expertin zu Digitalisierung an Schulen: „Wie Staatsbesitz behandelt“
       
       > Die GEW stellt eine Befragung zu digitalem Unterricht vor. Viele
       > Lehrkräfte fühlen sich ungehört, sagt Vorstand Ilka Hoffmann.
       
   IMG Bild: Der Sprung ins kalte Wasser: Die Coronakrise macht digitalen Unterricht plötzlich unumgänglich
       
       taz: Frau Hoffmann, die GEW hat kurz vor den Schulschließungen Mitte März
       rund 17.000 Mitglieder zur digitalen Ausstattung an Schulen befragt. Was
       sind Ihre Ergebnisse? 
       
       Ilka Hoffmann: Im Kern zeigt unsere Befragung, dass viele Lehrkräfte die
       digitale Ausstattung an den Schulen als bescheiden bewerten. Und: Nicht mal
       jeder Fünfte hält die Aus- und Fortbildung in dem Bereich für ausreichend.
       Dennoch nutzt die große Mehrheit der Lehrkräfte digitale Medien für den
       Unterricht.
       
       Nach Ihrer Umfrage haben vor [1][Corona] 93 Prozent der Lehrer:innen
       mehrmals die Woche Laptop oder Smartphone im Unterricht eingesetzt. Kann
       man sich gar nicht vorstellen, bei den jüngsten Erfahrungen vieler
       Schüler:innen … 
       
       Das muss kein Widerspruch sein. Es kommt ja darauf an, wofür man ein Gerät
       einsetzt. Viele Lehrer:innen setzen seit Jahren Laptops oder Whiteboards zu
       Recherche- oder Demonstrationszwecken im Unterricht ein. Klar ist aber
       auch, wenn zum Beispiel ein Biolehrer zeigen will, wie ein Dompfaff
       aussieht und wie er singt, ist das etwas ganz anderes als das, was die
       Lehrkräfte seit Beginn des Fernunterrichts leisten müssen. Mit
       Lernplattformen waren zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich viele nicht vertraut.
       Jetzt kam der Sprung ins kalte Wasser. Nach wie vor fehlt aber an vielen
       Schulen ein medienpädagogisches Konzept.
       
       Sind kopierte Arbeitsblätter für den Fernunterricht nun also Indiz für die
       Medienskepsis einer Lehrkraft oder eher für die mangelnde Unterstützung
       durch Schule und Ministerium? 
       
       Es gibt medienskeptische Lehrkräfte, und manches an der Skepsis ist auch
       berechtigt. Es gibt zum Beispiel einen unglaublichen Druck von Seiten der
       Wirtschaft, Onlineprogramme an die Schulen zu bringen. Wir beobachten, dass
       die Politik in der Frage teilweise mehr den Wirtschaftsvertretern zuhört
       als den Lehrerverbänden. Bei der Digitalisierungsstrategie der
       Kultusministerkonferenz war das glücklicherweise anders. Wir wurden auch
       angehört.
       
       Apropos KMK: Vor zwei Wochen haben die Länder zusammen mit dem Bund
       zusätzliche 500 Millionen auf den Digitalpakt Schule gepackt, um möglichst
       schnell digitale Endgeräte für bedürftige Schüler:innen anzuschaffen. Da
       haben Sie kritisiert, wie das Geld verteilt wird. 
       
       Das stimmt. Wir haben uns gewünscht, dass das Geld nach einem
       Sozialschlüssel an die Schulen verteilt worden wäre und nicht den Ländern
       nach dem Königsteiner Schlüssel zugeteilt wird. Auch wenn solche
       Sozialdaten problematisch sind und die Schulen in gewisser Weise
       stigmatisieren können: Wir wollen, dass die Geräte wirklich dort ankommen,
       wo sie dringend benötigt werden und dass sie auch sinnvoll genutzt werden.
       Geräte allein reichen aber noch nicht. Die Erfahrung bei der Anschaffung
       von Whiteboards hat gezeigt, wie wichtig ein pädagogisches Konzept ist.
       Viele dieser teuren Geräte sind in Abstellkammern verstaubt.
       
       Angenommen, die Geräte landen tatsächlich bei denen, die sie am
       dringendsten benötigen. Kommen die Laptops jetzt, wo alle wieder über
       Regelunterricht reden, nicht ohnehin zu spät? 
       
       Es ist insgesamt alles zu spät gestartet, das 500-Millionen-Paket für die
       Leihgeräte, der Digitalpakt Schule und auch die ganze Medienbildung im
       Studium. Ich hab erst vor Kurzem wieder an einer Hochschule mit
       Lehramtsstudierenden gesprochen und bin erschrocken: Wie neue Medien
       didaktisch sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden sollen, kommt in ihrem
       Studium überhaupt nicht vor. Die Folgen verschärfen sich jetzt natürlich,
       vor allem beim Thema soziale Benachteiligung. Nicht nur wegen fehlender
       Geräte. Es gab auch Probleme bei der Erreichbarkeit mancher Familien und
       einer guten Unterstützung der Schüler auf Distanz. Die Coronakrise hat zu
       [2][großen sozialen Verwerfungen im Bildungsbetrieb] geführt.
       
       Das ist auch ein Grund, warum die Länder möglichst schnell zum
       Regelunterricht zurückkehren wollen. Was halten Sie von dem Beschluss
       einiger Länder, in der Grundschule auf Abstandsregeln verzichten zu wollen? 
       
       Ich bin da etwas skeptisch. Wir haben widerstreitende Forschungsergebnisse
       zur Ansteckungsgefahr durch Kinder. Es ist ein riesiger Feldversuch. Soll
       man an den Lehrern dann überprüfen, wie ansteckend die Kinder tatsächlich
       sind? So klingt das, was die Lehrkräfte gerade im Radio hören müssen.
       
       Knickt die Politik vor den Eltern ein? 
       
       Vor den Eltern und vor der Wirtschaft. Die Lehrkräfte sind in vielen
       Bundesländern Beamte, die zur Pflichttreue verpflichtet sind. Und das
       bringt die Lehrer dann auch auf: dass sie nicht als Menschen gesehen
       werden. Viele haben vielleicht selbst Vorerkrankungen oder einen Partner,
       der zur Risikogruppe gehört. Diese Gruppe fühlt sich schlicht nicht
       gesehen.
       
       In NRW hat für Aufregung gesorgt, dass auch Lehrer:innen über 60 oder mit
       Vorerkrankungen mündliche Abiturprüfungen abnehmen sollen. Gehen die
       Schulministerien fahrlässig mit ihrem Personal um? 
       
       Ja, aber das tun sie eigentlich schon immer. Manchmal hab ich das Gefühl,
       Lehrer werden wie Staatsbesitz behandelt. Die sind gut versorgt, man muss
       nur dafür sorgen, dass immer genügend davon da sind. Das Thema
       Gesundheitsschutz kommt zum Beispiel in den Ministerien kaum vor. Das sieht
       man auch an so mancher Schultoilette oder an anderem dringenden
       Sanierungsbedarf.
       
       Aber an den Schulen wurde jahrelang gespart, das fällt uns heute auf die
       Füße. Auch die Studienplätze haben wir jahrelang runtergefahren. Was uns
       als Gewerkschaft natürlich ärgert, dass man die Misere jetzt an den Lehrern
       auslässt. Jetzt heißt es: Die Lehrer wollen nicht arbeiten, die Lehrer
       setzen sich nicht ein, dass mein Kind auch in der Coronakrise viel lernt.
       Die Länder haben zu verantworten, dass die Schulen – personell, räumlich –
       nicht ausreichend ausgestattet sind.
       
       Wo sollen denn die fehlenden Lehrkräfte herkommen? 
       
       Der Personalmangel wird uns noch eine Weile beschäftigen, klar. Allein weil
       in ein paar Jahren wieder eine Pensionierungswelle ansteht. Was aber
       seltsam ist: Dass diejenigen, die jetzt ihr Studium beenden, nicht
       schneller und unkomplizierter zu arbeiten anfangen können. Eigentlich
       sollten sie ihre Abschlusszeugnisse schneller bekommen, um sich
       gleichberechtigt für den Vorbereitungsdienst in allen Ländern bewerben zu
       können. Das haben die Länder zumindest versprochen. Funktioniert hat es
       nicht überall. In manchen Bundesländern herrschen tatsächlich, was den
       Lehrermangel anbelangt, dramatische Zustände.
       
       In vielen Bundesländern sollen Förderschulen nicht realisierbare
       Hygieneregeln umsetzen. Was sagen Sie als Sonderpädagogin dazu? 
       
       Es ist ein moralisches Dilemma. An Förderschulen sind die Lerngruppen
       kleiner und die Beziehung zwischen Kind und Lehrern ist in der Regel enger.
       Gleichzeitig sind viele Kinder und Jugendlich körperlich nicht in der Lage,
       bestimmte Hygieneregeln einzuhalten. Die Lehrkräfte sind deshalb einerseits
       verunsichert. Abstand zu halten, ist kaum möglich. Das ist natürlich ein
       riesiges Problem. Denn vielfach haben die Kinder multiple Erkrankungen und
       gehören zur Risikogruppe. Andererseits sehen die Lehrer aber auch, dass die
       Familien überfordert sind, wenn diese Kinder nicht in die Schule oder in
       eine Betreuung gehen können. Aber die Politik hat für diese Kinder und ihre
       Lehrkräfte bis auf warme Worte selten etwas übrig.
       
       Warum nicht? 
       
       In Deutschland bekommt man manchmal den Eindruck, als seien nicht alle
       Kinder gleich viel wert. Die Politik betrachtet die Bildung vom Abitur
       aus. Das hat für sie einen Stellenwert. Kinder mit Lernproblemen und
       Unterstützungsbedarf werden allenfalls ab und zu in Sonntagsreden erwähnt.
       Für diese Gruppe von Lernenden ist es höchste Zeit für einen Krisengipfel.
       
       3 Jun 2020
       
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