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       # taz.de -- Explosion in Beirut: Das verfluchte Schiff
       
       > Nach der Detonation in Libanons Hauptstadt Beirut lässt sich der Weg von
       > 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat zunehmend nachvollziehen. Risiken waren
       > bekannt.
       
   IMG Bild: Bessere Tage: die „Rhosus“, 2010, vor Istanbul
       
       Berlin/Kiew taz | Eine gigantische Menge hochexplosiven Materials lagerte
       jahrelang in einer Millionenmetropole – und die Behörden wussten Bescheid,
       ohne tätig zu werden. Nach der verheerenden Detonation in Libanons
       Hauptstadt Beirut lässt sich mit zunehmender Genauigkeit ein verstörendes
       Bild zeichnen: von verantwortungslosen Behörden, hungernden Seeleuten und
       einem mittlerweile versunkenen Schiff namens „Rhosus“, das die 2.750 Tonnen
       Ammoniumnitrat nach Beirut brachte, die aller Wahrscheinlichkeit nach die
       [1][Explosion vom Dienstag] verursachten.
       
       „Eigentlich hätte das Schiff nie in Beirut ankommen sollen“, sagt Swetlana
       Fabrikant gegenüber der taz. Rund 1.500 Kilometer vom Libanon entfernt, im
       ukrainischen Odessa, leitet Fabrikant die [2][Stiftung Assol], die sich für
       die Interessen von Seeleuten und ArbeitsmigrantInnen einsetzt. Vor Jahren,
       als die Tragödie von Beirut ihren Anfang nahm, hatte Fabrikant für die
       vorwiegend ukrainischen Seeleute der „Rhosus“ gekämpft.
       
       Übereinstimmenden Angaben von Fabrikant und Juristen einer Anwaltskanzlei
       zufolge, die mit dem Fall befasst war, machte sich die „Rhosus“ im Herbst
       2013 auf den Weg von Georgien nach Mosambik. Dort wartete eine Firma, die
       kommerzielle Sprengstoffe herstellt, auf das Ammoniumnitrat, wie die New
       York Times am Mittwoch [3][berichtete]. Der Schiffseigner, der Russe Igor
       Grechushkin aus Chabarowsk, hatte das Schiff erst ein Jahr zuvor gekauft.
       „Die,Rhosus' war sehr alt, aber sie fuhr noch“, erinnert sich Fabrikant.
       
       Allerdings sollte sie nie in Mosambik ankommen. Die „Rhosus“ „ist in Beirut
       gestrandet“, heißt es in einem auf Juli 2014 datierten Eintrag auf der
       [4][Webseite des Unternehmens Fleetmon], das Positionsdaten und Bewegungen
       von Schiffen beobachtet. „Mit Ammoniumnitrat beladenes Schiff war für ein
       anderes Land bestimmt. Der Grund, warum sie Beirut anlief, ist unklar,
       möglicherweise für Lieferungen oder aufgrund mechanischer Probleme.“ In
       Beirut endete die Fahrt. Für immer.
       
       Für Teile der Besatzung aber begann ein Drama. Als die Seeleute 2013 das
       Schiff bestiegen, hatte sie niemand über schwere Mängel in Kenntnis
       gesetzt, berichtet Fabrikant. Auch dass die Vorgänger-Crew vom Eigner
       keinen Lohn erhalten hatte, sei ihnen nicht bekannt gewesen. „In Libanon
       wollten sie zunächst notwendige Reparaturen vornehmen lassen.“
       
       ## Hungernde Matrosen
       
       Doch in Beirut habe die Mannschaft erkannt, dass Grechushkin
       zahlungsunfähig war und sich für sein Schiff nicht mehr zuständig fühlte.
       Fabrikants Schilderung deckt sich mit dem Fleetmonbericht, dem zufolge
       sowohl der Schiffseigner als auch der Besitzer des Ammoniumnitrats das
       Schiff mitsamt Ladung aufgegeben hatten.
       
       Für Teile der Crew war die Reise damit noch nicht beendet. „Die meisten
       Besatzungsmitglieder außer dem Kapitän und vier Besatzungsmitgliedern
       wurden repatriiert“, das heißt in die Heimat zurückgeführt, [5][schrieben]
       zwei JuristInnen des Anwalts-Netzwerks [6][shiparrested.com], die noch 2015
       mit dem Fall befasst waren.
       
       Die libanesischen Behörden hätten den verbliebenen Seeleuten erklärt, sie
       dürften das Schiff erst verlassen, wenn angefallene Liegegebühren beglichen
       seien, sagt Fabrikant. Die Seeleute saßen fest, fühlten sich wie „Geiseln“,
       wie Boris Prokoschew, russische Kapitän der „Rhosus“, es [7][ausdrückte].
       
       Fotos der Seeleute mit Plakaten wie „Libanesen, lasst uns nach Hause“
       gingen 2014 [8][durch die ukrainische Presse]. Im April 2014 [9][ging]
       Kapitän Prokoschew an die Öffentlichkeit: „Die Mannschaft hungert. Am 4.
       April haben wir für zwei Wochen Lebensmittel bekommen. Jetzt ist schon der
       25. April und wir haben noch keine neue Essensrationen bekommen.“ Im Sommer
       schließlich konnten die Seeleute ihre Heimreise antreten.
       
       ## Das verlassene Schiff
       
       Der auf Schifffahrt spezialisierte [10][Journalist Mikhail Voytenko], Autor
       des Fleetmonberichts, hingegen vermutete damals für die Festsetzung der
       Crew einen anderen Grund als angefallene Liegegebühren: „Die Hafenbehörden
       möchten nicht mit verlassenen Schiffen zurückgelassen werden, die mit
       gefährlicher Fracht und Sprengstoff beladen sind.“
       
       Dass mit der Ladung der „Rhosus“ nicht zu scherzen war, ist also nicht erst
       seit der Katastrophe vom Dienstag bekannt. Auch die Juristen von
       shiparrested.com schrieben bereits 2015: „Aufgrund der Risiken, die mit dem
       Zurückhalten des Ammoniumnitrats an Bord verbunden sind, haben die
       Hafenbehörden die Ladung in die Lager des Hafens abgeladen“ –
       wahrscheinlich direkt in Hangar 12.
       
       Auch Aussagen des Chefs der libanesischen Zollbehörde, Badri Daher, weisen
       darauf hin, dass die Gefahr in weiten Kreisen bekannt war. Zollmitarbeiter
       hätten mindestens sechs Schreiben verfasst und [11][explizit vor der Ladung
       gewarnt, berichtet unter anderem der Nachrichtensender Al Jazeera].
       
       Den Recherchen zufolge schlug der Zoll drei Optionen vor: das
       Ammoniumnitrat exportieren, es der libanesischen Armee übergeben oder es an
       ein Privatunternehmen verkaufen.
       
       Eine Antwort aber blieb aus, bis es zu spät war. [12][Recherchen des
       Investigativ-Netzwerks Bellingcat zufolge] brach am Dienstag zunächst in
       einer Lagerhalle, offenbar dem Hangar 12, ein Feuer aus. In lokalen Medien
       war als Ursache von Schweißarbeiten die Rede, was bislang aber nicht
       bestätigt ist. Es folgten mehrere kleine Explosionen und schließlich eine
       Detonation, wie sie die Mittelmeerstadt selbst im libanesischen Bürgerkrieg
       noch nicht erlebt hat.
       
       ## Ist die Hisbollah im Spiel?
       
       Präsident Michel Aoun hat Aufklärung versprochen, doch die Fragen, die sich
       stellen, gehen ans Mark des libanesischen Staates: War aufseiten der
       Behörden tatsächlich nur Verantwortungslosigkeit im Spiel? Oder gab es
       finanzielle Interessen? Hatte möglicherweise die Hisbollah Interesse an dem
       Material? Die Miliz, die im Libanon als politische Partei auch an der
       Regierung beteiligt ist, hatte nach israelischen Informationen
       Ammoniumnitrat auch in Deutschland gelagert, wie die Times of Israel im Mai
       berichtete. Der 4. August 2020 könnte den Libanon noch über Jahre hinweg
       beschäftigen.
       
       Und die „Rhosus“, die letztendlich ohne Ammoniumnitrat weiter vor Beirut
       ankerte? „Das Schiff gibt es nicht mehr“, sagt Swetlana Fabrikant. Es sei
       vor einigen Jahren vor der Küste Beiruts versunken.
       
       6 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-Explosion-in-Beirut/!5700273
   DIR [2] http://assol-fund.at.ua
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2020/08/05/world/middleeast/beirut-explosion-ship.html
   DIR [4] https://www.fleetmon.com/maritime-news/2014/4194/crew-kept-hostages-floating-bomb-mv-rhosus-beirut/
   DIR [5] https://shiparrested.com/wp-content/uploads/2016/02/The-Arrest-News-11th-issue.pdf
   DIR [6] https://shiparrested.com
   DIR [7] https://odessitua.com/news/31021-prosim-kto-mozhet-pomogite-vytaschite-nas-iz-etogo-plena.html
   DIR [8] https://odessitua.com/news/30153-nashi-moryaki-prosyat-spasti-ih-iz-plena.html
   DIR [9] http://assol-fund.at.ua/news/sos_vernut_morjakov_domoj/2014-04-25-2466
   DIR [10] https://twitter.com/maritime_bullet?lang=de
   DIR [11] https://www.aljazeera.com/news/2020/08/officials-knew-danger-beirut-port-years-200805032416684.html
   DIR [12] https://www.bellingcat.com/news/mena/2020/08/04/what-just-blew-up-in-beirut/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
   DIR Jannis Hagmann
       
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