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       # taz.de -- FDP-Mitgliederbefragung zur Ampel: Macht und Misere
       
       > Bis zum 1. Januar stimmen FDP-Mitglieder darüber ab, ob die Partei in der
       > Regierung bleibt. Wie gefährlich ist das, für die Ampel und für die
       > Partei?
       
   IMG Bild: Christian Lindner unterschreibt am 7. Dezember 2021 den Koalitionsvertrag der Ampel. Ahnte er da, auf was er sich einlässt?
       
       Berlin taz | Es gibt diesen Moment, da steht Christian Lindner noch nicht
       im Rampenlicht. Er sitzt in der ersten Stuhlreihe im Publikum. Auf der
       Bühne spricht Hermann Otto Solms, 83 Jahre alt, Ehrenvorsitzender der
       Partei. Solms sagt: „Ich wünsche mir zum dritten Mal ein zweistelliges
       Ergebnis bei der deutschen Bundestagswahl.“ Im Publikum, in dem sich Mitte
       Dezember viele ältere Jahrgänge in schicken Anzügen tummeln, wird
       geklatscht. In diesem Prachtsaal in der Berlin-Brandenburgischen Akademie
       der Wissenschaften, beim Jubiläumsabend der parteinahen
       Friedrich-Naumann-Stiftung zum 75-jährigen Bestehen der FDP, glaubt niemand
       an den Niedergang der Partei. Oder will nicht dran glauben.
       
       Auch Christian Lindner nicht. Lindner nickt zu Solms Worten. Ganz so, als
       gäbe es keine miesen Umfragewerte. Oder die Mitgliederbefragung, bei der
       rund 76.000 Mitglieder bis zum 1. Januar 2024 darüber abstimmen können, ob
       die FDP in der Ampel bleiben oder doch lieber die Regierung sprengen soll.
       Seitdem sich die Liberalen auf das Bundesexperiment Ampel eingelassen
       haben, verlieren sie eine Landtagswahl nach der anderen: Zuletzt flogen sie
       [1][im Oktober in Bayern aus dem Landtag], selbst im Stammland Hessen
       schafften sie den Einzug nur ganz knapp. Nun rumort es an der Basis.
       
       1948 wurde die FDP im hessischen Heppenheim gegründet. Seither hat diese
       kleine Partei, die meist nur einstellige Wahlergebnisse erzielt, die
       Politik der Bundesrepublik in unterschiedlichen Konstellationen mitgeprägt.
       Sehr oft gemeinsam mit der Union, 1969 bis 1983 in einer sozial-liberalen
       Koalition, und seit 2021 erstmals mit SPD und Grünen.
       
       Doch das Bündnis mit zwei linken Parteien wird für einige Liberale immer
       mehr zur Zumutung. Ende Oktober warfen 26 FDP-Mitglieder der Parteiführung
       in einem Brandbrief namens „Weckruf Freiheit“ vor, die FDP verbiege sich in
       der Regierung „bis zur Unkenntlichkeit“. Fast zeitgleich startete Anfang
       November die Kasseler Initiative „Ampel beenden“, die eine
       Mitgliederbefragung anstrengte.
       
       Doch vom Aufruhr ist beim Parteijubiläum wenig zu spüren. Als Lindner die
       Bühne betritt, hat er nur wenige Stunden zuvor mit Kanzler Olaf Scholz und
       Vizekanzler Robert Habeck die [2][Einigung im Haushaltsstreit] verkündet:
       Die Schuldenbremse gilt für 2024. Wie es die FDP wollte. Eine
       Beruhigungspille fürs liberale Gemüt. Zu sehen ist ein etwas übermüdeter,
       aber zufriedener Finanzminister und Parteivorsitzender. Nicht immer sind
       diese Rollen so leicht zu vereinbaren.
       
       Lindner hält eine Rede über Erfolge seit der Parteigründung: Das stetige
       Verteidigen der sozialen Marktwirtschaft. Die gesellschaftliche Entlüftung
       während der sozialliberalen Koalition. Bis ins Heute, zum russischen
       Angriffskrieg, bei dem es die Demokratie zu verteidigen gilt. Während
       seiner Rede fragt Lindner immer wieder: „Mission accomplished?“ Mission
       erfüllt? Die Antwort lautet immer nein. Diese FDP, dieser Bundesvorsitzende
       hat noch was vor. Er sei stolz, Vorsitzender einer Traditionspartei zu
       sein, sagt er. Die Begeisterung schwingt im Saal mit.
       
       Auch als Lindner längst verschwunden ist, wird an den Stehtischen zwischen
       Wein und Häppchen weiter geschwärmt. Der Groll richtet sich nicht gegen den
       Parteichef, sondern gegen die Grünen. „Der Feind sitzt in der Regierung“,
       sagt eine Frau, ein Basismitglied aus dem ländlichen Niedersachsen. Die
       Grünen würden einem vorschreiben, wie man zu leben und zu essen habe. Sie
       ruinierten die Wirtschaft, den Wohlstand des Landes. Wie 1933, meint sie.
       Wie Hitler vor der Machtergreifung. Ob sie wohl für oder gegen die Ampel
       stimmt? Dafür, versichert sie: Man dürfe sich nicht vor der Verantwortung
       drücken.
       
       ## Das Schlimmste zu verhindern reicht nicht
       
       Doch so sehen das nicht alle. Der Initiator der Mitgliederbefragung,
       FDP-Politiker Matthias Nölke aus Kassel, formulierte es [3][gegenüber der
       Bild so: „Besser wir opfern die Koalition als unser Land.“] Nur das
       Schlimmste verhindern, ist den Ampelrebellen nicht genug. Sie wollen,
       zusammengefasst: mehr Atomkraft, weniger Migration, kein Heizungsgesetz,
       weniger Steuerbelastung und vor allem: Abstand von den Grünen.
       
       Wie die Befragung ausgeht, ist schwer abzuschätzen. Das Ergebnis ist nicht
       bindend. Aber es ist eine Bewährungsprobe für die Partei. Das Szenario
       Neuwahlen hängt wie ein Damokles-Schwert über der Republik. Die Nervosität
       in der Fraktion lässt sich auch daran ablesen, dass selbst die
       Krawallmacher vom Dienst – Parteivize Wolfgang Kubicki, der wahnsinnig gern
       gegen die Grünen und den Wirtschaftsminister wettert („Da kann sich der
       Robert gehackt legen“), oder Frank Schäffler („Die Ampel hängt wie ein
       Mühlstein um unseren Hals und zieht uns immer weiter in den Abgrund“) –
       gerade auftreten wie zahme Kätzchen und für den Verbleib in der Ampel
       werben. Dabei war es Schäffler, der 2011 einen [4][parteiinternen
       Mitgliederentscheid gegen den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM]
       initiierte – eine Zerreißprobe für die FDP.
       
       Heute steht die FDP-Fraktion aber erstaunlich geschlossen da. Das liegt zum
       einen daran, dass die FDP bei einem Bruch mit der Koalition und Neuwahlen
       wenig zu gewinnen hätte. Zum anderen folgt das aus 2013, aus dem Jahr, als
       die FDP aus dem Bundestag flog, was vielen in der Partei als Trauma gilt.
       Zwei Lehren wurden aus 2013 gezogen: Öffentlich streiten tut der Partei
       nicht gut. Und wer Macht haben will, muss machtvolle Posten besetzen. Heute
       ist Christian Lindner im Dazwischen. Als Finanzminister steht er im Zenit
       seiner Macht. Als Parteivorsitzender wird er infrage gestellt – und mit
       seinen eigenen Worten konfrontiert.
       
       Mitte Dezember schreibt der Unternehmer und frühere FDP-Landeschef in
       Bayern, Albert Duin, einen Brief an Lindner. „Nie war Deine Aussage, ‚es
       ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren‘, passender als in
       diesen Tagen“, steht darin. Es sind Lindners Worte, als er [5][2017 die
       Verhandlungen zur Jamaika-Koalition] platzen ließ. Den Brief
       veröffentlichte Duin auch auf der rechtspopulistischen Plattform „Tichys
       Einblick“, für die er gelegentlich schreibt. Duin ist nun Sprecher für den
       Weckruf Freiheit.
       
       ## Wo endet liberal-konservativ?
       
       Doch prominente Ampel-Gegner bleiben rar gesät. Meist sind es Menschen, die
       in einem Spannungsverhältnis zur FDP-Spitze stehen. Es ist zum Beispiel der
       [6][Thüringer FDP-Spitzenkandidat Thomas Kemmerich], der gegenüber [7][dem
       Spiegel begrüßte, dass die Basis „mutiger und lauter“ wird.] Kemmerich
       wurde überregional bekannt, als er sich 2020 mit den Stimmen der AfD zum
       Ministerpräsidenten wählen ließ. Er trat kurze Zeit später wieder zurück.
       Aber auch für die kommende Landtagswahl im September hat die Bundespartei
       ihm jegliche Unterstützung entzogen.
       
       Daneben gibt es noch Gerhard Papke, ein ehemaliger Freund und politischer
       Weggefährte von Christian Lindner. Die beiden kennen sich aus
       Nordrhein-Westfalen, wo Papke von 2005 bis 2012 Vorsitzender der
       FDP-Fraktion, danach Vizepräsident des Landtags war. Als Lindner 2013
       Bundesvorsitzender der FDP wurde und Papke ihn zu einem national-liberalen
       Kurs bewegen wollte, kam es zum Bruch zwischen den beiden. Seit 2019 ist
       Papke Präsident der deutsch-ungarischen Gesellschaft und [8][Bewunderer von
       Viktor Orbán].
       
       Kemmerich und Papke zeigen beispielhaft, dass es bei der Befragung
       vielleicht nicht nur darum geht, mit wem es sich besser regieren lässt:
       Union, SPD oder Grüne. Es geht auch um einen Richtungskampf in der FDP. Und
       zwar: Wie weit das Verständnis von Liberalität jenseits des
       Wirtschaftsliberalen reicht. Und ab welchem Punkt das Konservativ-Liberale
       ins Rechte kippt.
       
       Tino Josef Ritter ist einer der 26 Erstunterzeichner des „Weckrufs
       Freiheit“. Schon auf dem [9][vergangenen FDP-Parteitag im Juli 2023] befand
       er als Delegierter, das nächste Bündnis dürfe „auf keinem Fall eine linke
       oder grüne Beteiligung haben“. Auf den ersten Blick wirkt Ritter wie ein
       klassischer Wirtschaftsliberaler, der gegen staatliche Überregulierung
       eintritt. Doch er wettert auch gegen Ampel-Vorhaben, die im
       FDP-Wahlprogramm standen. So kommentierte er [10][das geplante
       Selbstbestimmungsgesetz] mit den Worten: „Kein Schwanz hat etwas in einer
       Frauensauna zu suchen.“
       
       Äußerungen auf der Plattform X belegen einen Rechtsdrall. Am 8. Dezember
       2023 schreibt er: „Und warum predigen uns gerade mehrheitlich Migranten in
       den Medien, wie wir uns zu verhalten haben (…). Menschen, deren Ahnen nicht
       ihr Blut gaben, damit wir Europäer in Freiheit und Wohlstand leben,
       erklären uns penetrant, wie wir zu denken haben.“ Ritter sieht zudem eine
       Koalition mit der AfD nicht als Gefahr, sondern als „Chance der
       konservativen und liberalen Parteien, endlich wieder bürgerlich-liberale
       Politik für die Interessen unserer Republik“ zu machen. Das schreibt er im
       November 2023. Es brauche eine Brandmauer gegen Grün und Links.
       
       ## Wie Fundis und Realos?
       
       Für den FDP-Bundestagsabgeordneten [11][Pascal Kober] hat die
       Mitgliederbefragung aber nichts „mit rechts oder links“ zu tun. Kemmerich
       etwa habe Kober selbst zwei Jahre im Bundestag erlebt. „Er ist nicht
       AfD-nah, er ist wirtschaftsliberal und gesellschaftspolitisch etwas
       konservativer.“ In der Mitgliederbefragung stecke vielmehr der „Wunsch nach
       Politik ohne Kompromisse, wie früher in der Auseinandersetzung zwischen
       Fundis und Realos bei den Grünen.“
       
       Es gehe um eine Grundsatzfrage: „Kompromisslos die reine Lehre und damit
       für immer in der Opposition – oder kompromissbereit regieren und Teile des
       Programms umsetzen zu können.“ Kober selbst hat für die Ampel gestimmt und
       plädiert für Gelassenheit. Trotz aller Kompromisse sei „doch erkennbar, für
       was wir stehen“. Der Haushaltskompromiss habe die FDP gestärkt. Diesen Kurs
       sollte die Partei „souverän und sachbezogen weiterverfolgen“.
       
       Gelegentlich begegnet Kober auch dem Frust der Basis. Bislang habe er aber
       alle Ausstiegswilligen überzeugen können, dazubleiben. Bei der Frage nach
       einer Prognose wird Kober dennoch zögerlich. Die FDP habe „einen hohen
       Anteil an Unterstützern, die ihre Partei in der Regierung haben wollen“,
       sagt er. Dennoch sei natürlich die Abstimmungsbeteiligung entscheidend.
       
       Ausgang ungewiss.
       
       29 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /FDP-bei-Landtagswahlen-Bayern-und-Hessen/!5965644
   DIR [2] /Einigung-im-Haushaltsstreit/!5976249
   DIR [3] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/fdp-streit-ueber-ampel-aus-besser-wir-opfern-die-koalition-als-unser-land-86487336.bild.html
   DIR [4] /FDP-stimmt-ueber-Eurorettung-ab/!5105536
   DIR [5] /Kommentar-FDP-und-Jamaika-Koalition/!5459111
   DIR [6] /Die-FDP-in-der-Bundesregierung/!5935571
   DIR [7] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fdp-thomas-kemmerich-nennt-weckruf-liste-gegen-ampel-mutiges-zeichen-a-197d702a-86c4-47c9-ba5d-07d87c42080b
   DIR [8] /Rechtsruck-in-Ungarn/!5869725
   DIR [9] /Christian-Lindner-beim-FDP-Parteitag/!5929469
   DIR [10] /Selbstbestimmungsgesetz-im-Bundestag/!5973044
   DIR [11] /Interview-mit-Opferbeauftragten-Kober/!5840732
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jasmin Kalarickal
       
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