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       # taz.de -- Falsche Argumente über Asylrecht: Die uralten Kamellen eines renommierten Historikers
       
       > CDU-Kanzlerkandidat Merz bezog sich im TV-Duell auf den Historiker
       > Heinrich Winkler. Doch dieser irrt, wenn er das Asylrecht im „Spiegel“
       > historisch beurteilt.
       
   IMG Bild: Ernst Reuter, Oberbürgermeister von Berlin, unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Bonn
       
       Heinrich August Winkler ist ein [1][verdienter Historiker.] Zur aktuellen
       Migrationsdebatte hat er allerdings kein Expertenwissen beizutragen.
       Insbesondere haben seine Ausführungen zur Entstehung des Grundrechts auf
       Asyl heute keinerlei praktische Relevanz mehr.
       
       Dennoch veröffentlichte der Spiegel am Wochenende [2][einen Gastbeitrag von
       Winkler] unter dem Titel „Die [3][deutsche Asyllegende]“. Darin
       argumentierte der Historiker, dass der Parlamentarische Rat bei der
       Schaffung des [4][Grundgesetzes] kein subjektives individuelles Asylrecht
       schaffen wollte, sondern nur ein institutionelles, vom Staat zu gewährendes
       Recht. In der heutigen Debatte werde etwas verteidigt, was eigentlich ganz
       anders gedacht war, so Winkler. Mit der eigentlichen Konzeption des
       Asylrechts wäre die von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz propagierte
       Zurückweisung aller Asylsuchenden an der Grenze durchaus möglich, so
       Winkler.
       
       Zunächst: Das Grundgesetz wird vom Bundesverfassungsgericht ausgelegt und
       nicht von Geschichtsprofessoren. Das Bundesverfassungsgericht hat aber das
       Asylrecht in ständiger Rechtsprechung als subjektives Grundrecht
       verstanden.
       
       Dass Winkler die Karlsruher Urteile als „eigenwillig und anfechtbar“
       bezeichnet, ist für einen Nichtjuristen bemerkenswert. Was Winkler wohl
       nicht weiß: Die historische Auslegung einer Grundgesetznorm ist nur eine
       von vier parallel anzuwendenden Auslegungsmethoden, neben Wortlaut,
       Systematik sowie Sinn und Zweck.
       
       Mit zunehmendem Abstand wird die historische Auslegung unwichtiger. Deshalb
       lag Karlsruhe nicht falsch, als es zu anderen Ergebnissen kam als Winkler.
       
       Die Kontroverse über das deutsche Grundrecht auf Asyl ist aber auch schon
       sehr lange überholt. Der heute 86-jährige Winkler schlägt hier Schlachten
       vergangener Jahrzehnte.
       
       Bereits 1993, vor mehr als 30 Jahren, wurde das deutsche Grundrecht auf
       Asyl nach einer jahrelangen Hetzkampagne der CDU/CSU weitgehend
       abgeschafft.
       
       Das Asyl-Grundrecht wurde damals nicht, wie Winkler meint, um
       „Detailbestimmungen“ ergänzt, sondern fast völlig entleert.
       
       Das Grundrecht gilt nicht mehr für Flüchtlinge, die Deutschland über einen
       sicheren Drittstaat erreichen. Da Deutschland von EU-Staaten und der
       Schweiz umgeben ist, gilt das Grundrecht auf Asyl für 99 Prozent der
       Flüchtlinge nicht mehr.
       
       Winkler hat recht, dass es heute immer noch Politiker:innen gibt, die
       sich in der Auseinandersetzung mit Friedrich Merz auf das Asyl-Grundrecht
       berufen. Leider gehört auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) dazu. Um das Argument
       von Scholz ins Leere laufen zu lassen, braucht Merz aber nicht die
       historische Hilfe von Winkler, es genügt ein Verweis auf Artikel 16a Absatz
       2 des Grundgesetzes. Dort ist die faktische Irrelevanz des Grundrechts
       heute festgeschrieben. Um es deutlich zu sagen: Wer heute noch mit dem
       Grundrecht auf Asyl argumentiert, verschafft Merz und der AfD einfache
       argumentative Erfolge. Bei Sozialdemokraten wie Scholz ist das besonders
       zynisch.
       
       Schließlich hat die SPD 1993 der CDU/CSU bei der faktischen Abschaffung des
       Asylrechts zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit verholfen. Die
       Zurückweisung aller Asylsuchenden an der deutschen Grenze verstößt also
       nicht gegen das Grundgesetz, aber gegen EU-Recht. Die Europäische Union
       verfügt längst über ein eigenes harmonisiertes Asylsystem. Auch der
       Individualanspruch auf Asyl beruht heutzutage auf EU-Recht, das im
       deutschen Asylgesetz umgesetzt wurde.
       
       Ab 2026 wird es eine direkt geltende EU-Verordnung geben. Für die
       Auseinandersetzung mit dem EU-Asylrecht ist Winklers Hinweis auf die
       Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes völlig irrelevant. Es geht hier um
       neues Recht auf einer höheren, vorrangigen Ebene. Nun erwartet niemand von
       einem 86-jährigen Historiker, dass er sich mit dem EU-Asylrecht auskennt.
       Aber vom Spiegel könnte man doch so viel Fürsorge für den eigenen Autor
       erwarten, dass er darauf verzichtet, einen so peinlich veralteten Text
       abzudrucken.
       
       10 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kommentar-Ehrung-Historiker-Winkler/!5287750
   DIR [2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/migration-grundrecht-auf-asyl-als-gegenargument-zur-cdu-aber-stimmt-das-a-a87aac1a-7f34-45db-83da-fb0d78ade06f
   DIR [3] /Interne-Asyldebatte-der-Gruenen/!6063893
   DIR [4] /75-Jahre-Grundgesetz/!6009175
       
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