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       # taz.de -- Faszinosum Reality-TV: Mehr als nur Abschalten
       
       > Warum gucken Menschen sogenannte Trash-Formate? Um eigene Kränkungen und
       > die Zumutungen des Lebens kurz zu vergessen.
       
   IMG Bild: Temptation Island: Calvin genießt die Aufmerksamkeit der Frauen – was seine Freundin wohl dazu sagt?
       
       Wer schaut sich diesen Scheiß überhaupt an? Die Antwort lautet: ziemlich
       viele Menschen in Deutschland. Vergangenes Wochenende waren es laut
       quotenmeter.de [1][1,59 Millionen Menschen] ab drei Jahren, die „Temptation
       Island VIP“ auf RTL geschaut haben, ein Marktanteil von 16,3 Prozent. Zum
       Vergleich: Der „Tatort“, Inbegriff des deutschen Wochenendausklangs mit
       quasireligiösem Kultcharakter, kam letzte Woche auf einen [2][Marktanteil
       von 21,6 Prozent].
       
       Was allgemeine Beliebtheit angeht, ist der Unterschied zwischen
       bildungsbürgerlichem Krimi und dem als Unterschichtenfernsehen verschrienen
       „Trash-TV“ überschaubar. Ohnehin scheint die Annahme mehr als zweifelhaft,
       dass es vor allem Arme und Ungebildete sind, die sich Müll-Formate
       reinziehen.
       
       Trash-TV-Expertin [3][Anja Rützel verweist in ihrem Buch „Trash TV. 100
       Seiten“] auf das [4][Beispiel „Dschungelcamp“] und eine
       Zuschauer:innenanalyse von 2015, die ergeben hat, dass jede:r dritte
       Zuschauer:in ein Abitur hat, jede:r vierte Akademiker:in ist. Auch wenn sie
       das Format als „Sonderfall“ der „restjährig Trash-Desinteressierten“
       bezeichnet – „Doch wenn es schon mal Schund sein darf, dann wenigstens der
       beste Schund“ –, sind diese Zahlen, wenn auch nicht repräsentativ, doch
       mindestens interessant.
       
       ## Banalität, die gut tut
       
       „Temptation Island VIP“ ist im Grunde die dritte Staffel von „Temptation
       Island“, diesmal aber mit sogenannten Promis: Vier Paare werden auf eine
       Insel geladen, wo sie ihre Liebe testen wollen. Dabei bewohnen die Männer
       und Frauen jeweils getrennte Domizile mit 12 hotten Singles des anderen
       Geschlechts, die zwei Wochen lang versuchen, sie zu verführen.
       
       Abends sitzen die vergebenen Männer und Frauen dann mit einer streng
       dreinschauenden Moderatorin am Lagerfeuer und bekommen häppchenweise
       Grenzüberschreitungen ihrer Partner:innen auf dem Bildschirm geliefert.
       Wenn krasse Sachen passiert sind, dann fließen auch mal Tränen, und dann
       folgt eventuell auch Rache. Am Ende bleiben die Paare zusammen. Oder sie
       trennen sich.
       
       Das Ganze eignet sich sicherlich zum abendlichen „Abschalten“, oder die
       Banalität des Angeschauten wird im Gegensatz zur anstrengenden Komplexität
       der Welt als erleichternd erlebt.
       
       Es werden zudem gesellschaftliche Normen verhandelt: Wie haben Männer und
       Frauen (nicht) zu sein? Wie hat eine Partnerschaft (nicht) auszusehen? Lust
       verschafft beim Schauen bestimmt auch die Möglichkeit, verdrängte, weil
       tabuisierte Triebregungen – nicht nur sexuelle, sondern auch aggressive und
       unsoziale – ein Stück weit auszuleben.
       
       ## Es geht nicht um das Gesagte
       
       Laut Ulrike Prokop, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und
       psychoanalytische Kulturtheoretikerin, geht es jedenfalls weniger um das
       Gesagte. Im Sammelband „Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow,
       Fantasy-Rollenspiele“ aus dem Jahr 2006 analysiert sie das [5][Format „Big
       Brother“] – und vertritt die These, dass es „um die faszinierende
       Betrachtung von Mustern der Selbstdarstellung“ gehe, um „sinnliche,
       nonverbale Inszenierung“. Zwischen der Rede und dem Seherlebnis klaffe eine
       Differenz. Die Rede, also auch die moralische Debatte unter
       Zuschauer:innen, diene dabei als „Vorwand für die Augenlust“.
       
       Und woher kommt die Faszination für das, worüber nicht gesprochen wird? Von
       der Identifikation mit den perfekten Körpern und ihren Inszenierungen, die
       uns „das Schreckliche hinter dem Schleier“ kurzzeitig vergessen ließen, so
       Prokop.
       
       Gemeint sind die eigene Unvollkommenheit und die erlebten Zumutungen des
       Lebens. Weil die Erinnerung an diese aber prompt wieder einkehre, falle die
       Wut auf die Charakterschwächen der Figuren, die sich dann doch auch zeigen,
       umso härter aus.
       
       Man schaut Trash-TV also auch, weil man sich schlecht selbst dissen kann.
       
       24 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.quotenmeter.de/n/122053/das-sommerhaus-bleibt-in-fahrt
   DIR [2] http://www.quotenmeter.de/n/122054/primetime-check-sonntag-18-oktober-2020
   DIR [3] /Buch-ueber-Trash-Fernsehen/!5397769/
   DIR [4] /Politik-und-das-Dschungelcamp/!5376781/
   DIR [5] /Corona-Infos-bei-Big-Brother/!5672246/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
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