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       # taz.de -- Faul oder nicht faul, das ist die Frage: Fachkräftemangel? Geil!
       
       > Arbeitnehmer:innen sind so mächtig wie nie zuvor. Dank des
       > Geburtenknicks werden sie zum raren Gut, das ungeniert Forderungen
       > stellen kann.
       
   IMG Bild: Günstige Zeiten für Forderungen
       
       Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Fachkräftemangels.
       Alle Mächte der Bundesrepublik haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen
       dies Gespenst verbündet, der Kanzler und der [1][Arbeitgeberverband],
       Finanzminister Lindner und Vizekanzler Habeck. Alle wollen ihn bekämpfen.
       Weil Menschen fehlen, die die Arbeit erledigen: in der Pflege, der
       Solarindustrie, an Schulen. Weil die Wirtschaft leidet und damit die
       Gesellschaft.
       
       Tatsächlich aber ist der viel beschworene Arbeitskräftemangel Anlass für
       ein befreites Tänzchen der arbeitenden Klasse am 1. Mai. Denn nie war es
       leichter als heute, Forderungen, Wünsche, Utopien der Arbeitenden
       durchzusetzen. Ganz einfach, weil sie Mangelware sind und es über
       Jahrzehnte bleiben werden.
       
       Der Grund dafür: [2][der demografische Wandel.] Wenn über den debattiert
       wird, geht es häufig um die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre, die
       jetzt in Rente gehen. Übersehen wird dabei die Entwicklung am unteren Ende
       der [3][Bevölkerungspyramide]: der dramatische Einbruch der Geburten in
       Deutschland seit der Wiedervereinigung. Zuerst zu spüren bekamen den die
       Ausbildungsbetriebe gegen Ende der nuller Jahre. Da wurde plötzlich
       vielfach geklagt, dass die Jugend zu dumm sei, dass sich keine geeigneten
       Azubis mehr finden ließen.
       
       Das Problem aber waren weniger der Bildungsstand als die Masse der
       Jugendlichen. [4][2005 lebten in Deutschland noch fast 6 Millionen]
       Menschen zwischen 15 und 20 Jahren. 2011 waren es weniger als 5 Millionen –
       ein Rückgang um mehr als 15 Prozent. Seither hat sich die Zahl auf diesem
       Niveau eingependelt. Und die neuesten Geburtenzahlen zeigen, dass sich
       daran in Zukunft nichts ändern wird.
       
       ## Plötzlich haben Azubis die Wahl
       
       Kein Wunder, dass die Betriebe sich schwertaten, ihre Lehrstellen zu
       besetzen. Kein Wunder aber auch, dass immer mehr junge Leute ihre
       Ausbildung abbrachen. Denn wenn ein Ausbildungsplatz keine Mangelware mehr
       ist und die Nachfragenden plötzlich die Wahl haben, dann lassen sie sich
       nicht mehr jeden Mist gefallen. Und ziehen weiter, wenn der Meister nichts
       zu bieten hat als Mist ohne Lohn. Lehrjahre sind keine Herrenjahren? Mir
       doch egal! Mittlerweile sind die Nachwendejahrgänge schon Anfang 30. Ihre
       Macht durch Mangel hat fast alle Branchen erreicht.
       
       Auch das Stöhnen der Gastronomie, die nach der Coronapandemie nicht mehr
       ausreichend Personal findet, lässt sich so erklären. Nicht weil alle
       fluchtartig die Branche verlassen haben, sondern weil Kellnern für manche
       junge Leute ein Lebensabschnitt ist. Mit über 30 ziehen sie weiter, in
       besser bezahlte, familienkompatiblere Jobs. Wenn dann weniger junge Leute
       nachrücken, stehen Kneipenbesitzer allein hinterm Tresen.
       
       Mit anderen Worten: Das größte Problem für die Arbeitgeber:innen ist
       weniger der Fachkräftemangel, es ist ein Mangel an Menschen. Damit
       verbunden ist ein nicht zu unterschätzender Rollenwechsel: vom Arbeitgeber,
       was ja gewollt großzügig klingt, zum Arbeitskräftesuchenden, was der
       aktuellen Verzweiflung in einigen Branchen gerechter würde. Diese
       Verzweiflung ist längst zum Faustpfand für die Werktätigen geworden.
       
       ## Lehrer:innen wollen nicht zur 1. Stunde kommen
       
       Das sieht man nicht nur an den Tarifabschlüssen, die die Gewerkschaften
       zuletzt [5][bei der Bahn] und [6][der Lufthansa] durchsetzen konnten. Bei
       denen geht es längst nicht mehr nur ums Geld, sondern eben auch um
       Arbeitszeiten. Um Teilzeit- oder Schichtmodelle, die sich nicht nur nach
       den Bedürfnissen der Betriebe, sondern auch nach den Lebensumständen der
       Mitarbeiter:innen richten. Das setzt Maßstäbe. Schulleiter:innen
       berichten verwundert über junge Kolleg:innen, die gern unterrichten wollen,
       aber nie zur ersten Stunde. Das passt zwar nicht zur Struktur einer Schule
       mit Beamtenmentalität. Aber wer die händeringend gesuchten
       Nachwuchslehrer:innen halten will, muss sich schon was einfallen
       lassen.
       
       Noch stöhnen die Arbeitgeber:innen aller mögliche Branchen über
       [7][die Ansprüche der jungen Generationen]. Aber Fakt ist: Die sind gar
       nicht neu oder übertrieben oder dreister als bei ihren angeblich so
       arbeitsamen Vorgänger:innen. Sie haben mittlerweile aber die Möglichkeit,
       davon zu träumen. Und sie haben die Macht, diese einzufordern. Es geht ganz
       praktisch um den alten linken Spontispruch: Her mit dem schönen Leben!
       
       Eine Firma, die das ihren Mitarbeiter:innen nicht bieten kann, muss
       sich nicht wundern, wenn die jungen Leute weiterziehen. Kluge
       Arbeitgeber:innen bauen daher längst vor und investieren – in ihr
       Personal. Denn jede Kolleg:in, die nicht abwandert, ist ein Gewinn.
       
       ## Für Mitarbeiterwohnungen wird Werbung gemacht
       
       Den Möglichkeiten, Fachkräfte nicht ersetzen zu müssen, sind nahezu keine
       Grenzen gesetzt. Da gibt es Firmen, die ihre Angestellten [8][mit wirklich
       gut schmeckendem Essen] begeistern. Da gibt es Kliniken, die ihren
       Pflegekräften garantieren, [9][dass sie in allen Schulferien und
       Brückentagen frei haben]. Das macht die Dienstplanung nicht gerade einfach.
       Aber für Eltern mit Schulkindern ist es ein Traum, für den viele auch auf
       Einkommen verzichten. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis
       Arbeitgeber erkennen, womit sie Kolleg:innen wirklich an den Betrieb
       binden können: Mitarbeiterwohnungen! In [10][einschlägigen] [11][Portalen]
       [12][wird] schon kräftig Werbung gemacht.
       
       Eine Firma, die vor allem in Großstädten mit völlig aus dem Ruder
       gelaufenen Wohnungsmarkt neben dem Job auch eine Unterkunft bieten kann,
       liegt ganz weit vorn. Es muss ja nicht gleich der Bau ganzer Siedlungen
       sein, [13][wie ihn arbeiternehmerpflegende Industrielle noch vor 100 Jahren
       betrieben]. Aber ein paar Wohnungen sollte ein zeitgemäßer Betrieb schon im
       Portfolio haben. Und machen wir uns nichts vor: Viele Arbeitgeber werden
       die Gewinne der vergangenen Jahre ohnehin in Immobilien investiert haben.
       Jetzt bekommen sie die Chance, dieses Kapital auf ganz neue Weise zu
       nutzen. Denn es dürfte nicht wundern, wenn kluge Gewerkschaften beim
       nächsten Arbeitskampf das Recht auf Wohnen einfordern.
       
       1 May 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://arbeitgeber.de/fachkraeftemangel-wird-immer-groessere-herausforderung-fuer-unternehmen/
   DIR [2] /Demografie-Rente-und-Fachkraeftemangel/!5874453
   DIR [3] https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2024&a=20,68&g
   DIR [4] https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/#!y=2005&a=15,21&v=2&g
   DIR [5] /Tarifeinigung-GDL-und-Deutsche-Bahn/!5997825
   DIR [6] /Tarifabschluss-bei-der-Lufthansa/!6002197
   DIR [7] /Wandel-der-Arbeitswelt/!5984100
   DIR [8] /Kantine/!v=44afcac2-94aa-43cd-bc80-69fee4341dc4/
   DIR [9] https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neues-arbeitsmodell-dortmunder-klinikum-100.html
   DIR [10] https://www.engelvoelkers.com/de-de/hannovercommercial/blog/comeback-der-mitarbeiterwohnung/
   DIR [11] https://www.mitarbeiterwohnung.berlin/warum-mitarbeiterwohnungen
   DIR [12] https://www.iwd.de/artikel/renaissance-der-mitarbeiterwohnungen-612774/
   DIR [13] https://industriekultur.berlin/ort/schwartzkopff-siedlung/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gereon Asmuth
       
       ## TAGS
       
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