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       # taz.de -- Feiern in der DDR: Schwofend den Diktatoren trotzen
       
       > Der Zwang zum Opportunismus machte in der DDR auch kreativ. Wie gut die
       > Menschen feiern konnten, zeigt die Kunstsammlung „Der große Schwof“.
       
   IMG Bild: „Babsi und Schäfer tanzen“, aus der Serie „Bittersüss im Wartesaal“, Berlin 1980-84 (Ausschnitt)
       
       Spätestens seit Gründung der Universität „Salana“ 1558 steht das
       thüringische Jena für akademischen Geist und Aufklärung. Seine vierzig
       DDR-Jahre werden meist mit renitenten Bürgerrechtlerkreisen in Verbindung
       gebracht. Der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland
       Jahn und sein sächsischer Kollege und Schriftsteller Lutz Rathenow dürften
       die bekanntesten sein. Nun aber überrascht die Kunstsammlung dieser geistig
       beweglichen Stadt mit einer Fotoausstellung, die das richtige Leben im
       falschen dokumentiert: „Der große Schwof“.
       
       Solch gesellige Selbstorganisation von unten konnte es aus westlicher Sicht
       in der „Ostzone“ eigentlich nicht gegeben haben, weil die SED vermeintlich
       auf alle Lebensbereiche durchgriff. Zeitzeugen aber wissen um das
       Paradoxon, dass der damalige Zwang zum Opportunismus in besonderer Weise
       kreative Energien stimuliert.
       
       Ein erster Blick auf die mehr als 300 Bilder von 31 Fotografinnen und
       Fotografen ist ein großes Erinnerungsfest für all jene, die vor allem die
       1980er Jahre erlebt und gestaltet haben. Wilde Jugendzeiten eben, oft bis
       hinauf ins Seniorenalter reichend. Anders als heute avancierte jeder Fest-
       und Feierteilnehmer in der Gartensparte, der Boheme oder in der kirchlichen
       Nische auch zum Mitgestalter, zum Laienstar, zum Volkskünstler.
       Incentive-Agenturen oder professionelle Event-Anmache teilten das Ereignis
       noch nicht in aktive Produzenten und konsumierendes Publikum.
       
       Die Ausstellung vermeidet jeden Ost-Trotz. „Wir besaßen zwar wenig, aber
       verstanden zu leben“ – dieser verbale Trost hielt ja auch nicht lange nach
       1990 vor. Das Vorwort zum 1,7 Kilogramm schweren Katalog bedient sogar
       stellenweise das heutige Master Narrative, wenn darin das Feiern als
       „Ventil aufgestauter Energien“ beschrieben wird, die dem „Diktat von
       Meinungen, Redeverboten, Diskreditierungen“ entsprangen. Richtig, aber im
       „Schwof“ brach sich ebenso pure Lebensfreude Bahn. Die wenigsten verstanden
       die wilde Feierei als tätigen Widerstand.
       
       Stolz und melancholisch 
       
       Mit solcher Ambivalenz fasziniert schon das schwarz-weiße Titelfoto des
       Katalogeinbandes. Die jüngste Teilnehmerin eines Leipziger Tanzturniers
       blickt ebenso stolz wie melancholisch in eine unbestimmbare Richtung. Sie
       würde auch in eine der legendären [1][Ausreisepartys vom Prenzlauer Berg]
       passen. Flucht aus einem repressiven Staat und deftiger Abschied von
       vertrauten Menschen zugleich.
       
       Erasmus Schröter experimentierte 1981 unter anderem bei diesem Porträt mit
       der Infrarotfotografie, also der unbemerkten Beobachtung anderer in der
       Dunkelheit. „Diese Art der Fotografie ist heute nicht mehr denkbar“,
       kommentiert Kurator Erik Stephan von der Kunstsammlung Jena. Allein schon
       das eifersüchtige Wachen über Persönlichkeitsrechte würde solche Bilder
       verhindern. Ähnliches gilt für die unbefangene Freizügigkeit vieler Fotos,
       sei es bei Partys im Freundeskreis oder bei offiziellen Veranstaltungen.
       Barbara Mahler steuert eine ganze Serie „Striptease im Osten“ bei.
       
       Ausstellungskuratorin Petra Göllnitz hat bewusst exklusive, ja
       anarchistische Klubs, Szenen und Bildungsbürgerkreise mit weniger
       subversiver Alltagskultur gemischt. Dorffeste der 1950er Jahre bilden eine
       Kategorie für sich, Hochzeiten, die Dorfdisco. Das „Dreckschweinfest
       Mansfelder Land“ zu Pfingsten gibt es bis heute.
       
       Feinschmecker kommen bei ironischen Beobachtungen am Rande
       staatsoffizieller Anlässe wie dem 1. Mai, dem „Roten Oktober“ oder bei
       Sportfesten auf ihre Kosten. Misswahlen oder Modenschauen wie „Chic,
       Charmant, Dauerhaft“ hatten ihre Unschuld noch nicht verloren.
       
       Ideenstrotzender Klamauk 
       
       Überhaupt blühten Parodie und ideenstrotzender intelligenter Klamauk. Einen
       legendären Ruf genoss beispielsweise der Fasching der Dresdner
       Kunsthochschule, schon in Farbe von Werner Lieberknecht dokumentiert. Das
       war damals ähnlich ungewöhnlich wie die Großveranstaltungsbilder von Jens
       Rötzsch. Denn typisch für die DDR-Fotografie erscheint die Transformation
       bunter Inhalte ins Schwarz-Weiße, auch [2][die Erfurter Punks von Gabriele
       Stötzer]. Solche technischen und stilistischen Experimente und
       Entwicklungen dokumentiert diese Schau ebenfalls.
       
       Man verlässt sie mit dem exklusiven Gefühl, dabei gewesen zu sein, und mit
       einer Anfrage an die Erlebnis- und Begeisterungsfähigkeit heute. Wer sich
       über damalige pralle Sünden erhaben fühlen möchte, kann [3][Harald
       Hauswalds] Serie „Sex und Saufen“ zum Zeugnis nehmen.
       
       29 Aug 2023
       
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