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       # taz.de -- Feministische Autorin Alba de Céspedes: Ein Heft für sich allein
       
       > Die italienisch-kubanischen Autorin Alba de Céspedes war eine sehr
       > erfolgreiche Autorin und Widerstandskämpferin. Nun wird ihr Werk neu
       > entdeckt.
       
   IMG Bild: Alba de Cespedes (1911-1997), Schriftstellerin, Journalistin und Verlegerin
       
       Die kleinen, alltäglichen Nichtigkeiten wahrzunehmen“, lässt die
       italienisch-kubanische Autorin Alba de Céspedes die Protagonistin ihres
       Romans in ein heimlich erstandenes Notizheft notieren, „heißt vielleicht,
       der Bedeutung des Lebens auf den Grund zu gehen.“
       
       Wem nun, wie der Verfasserin dieses Textes, der Name Alba de Céspedes,
       zunächst kein Begriff ist, sollte das keinesfalls als Nichtigkeit abtun,
       sondern besser die Prozesse und Entscheidungsträger hinter Kanonbildungen
       hinterfragen. Etwa jene Gatekeeper in den Literaturbetrieben, die dafür
       sorgten, dass de Céspedes erster Roman aufgrund seiner zu selbstbestimmten
       Frauenfiguren der Zensur zum Opfer fiel. Und jene, die dafür verantwortlich
       sind, dass eine Schriftstellerin, eine Radio- und Fernsehjournalistin, die
       Gründerin einer erfolgreichen Kultur- und Literaturzeitschrift (Mercurio),
       die im aktiven Widerstand war, die Prosa, Lyrik und Theatertexte verfasste
       und deren Romane internationale Bestseller waren, schließlich in
       Vergessenheit geraten konnte.
       
       Dem derzeitigen Trend der Wiederentdeckung von Autorinnen, die ein
       jahrzehntelang männlich dominierter Literaturbetrieb rasch und bedenkenlos
       verworfen hat, ist es zu verdanken, dass de Céspedes italienischer Verlag
       Mondadori eine Neuauflage des Gesamtwerks der Autorin in Auftrag gegeben
       hat. Bei Mondadori ist auch „Das verbotene Notizbuch“ im Jahr 1952
       erstmalig erschienen.
       
       Es liegt nun in einer bemerkenswerten deutsche Neuübersetzung von Verena
       von Koskull im Insel Verlag vor. Übersetzerin von Koskull gelingt es, die
       formelhafte Sprache, die sich zwischen Valeria und ihrem Ehemann über die
       Jahre entwickelt hat, ebenso wie die figurative Doppeldeutigkeit der
       Tagebucheinträge eindrücklich ins Deutsche zu bringen.
       
       ## Roman in Tagebuchform
       
       „Das verbotene Notizbuch“, in Tagebuchform geschrieben, beginnt mit dem
       Eintrag der Ich-Erzählerin Valeria, als sie sich im Rom der Nachkriegsjahre
       durch den Kauf eines Notizbuchs, etwas Eigenes zugesteht. Und das sie vor
       Mann und Kindern verbirgt, was Schuldgefühle bei ihr schürt: „Obwohl unser
       Innenleben uns allen das Teuerste ist, müssen wir ständig so tun, als seien
       wir uns seiner kaum bewusst, als lebten wir es mit fühlloser
       Standfestigkeit.“
       
       Mit dem Kauf des Notizbuchs setzt Valeria einen Bekenntnisprozess in Gang,
       der nicht zuletzt sie selbst erschrickt. „Ich hatte nie eigene Ideen;
       bisher habe ich mich immer auf eine als Kind erlernte Moral gestützt, oder
       auf das, was mein Mann sagte.“ Zuvor hatte sie ein bescheidenes,
       unscheinbares Leben als Hausfrau und Mutter geführt. Schreibend entblößt
       sie nun die klaffende Distanz, „zwischen dem, was wir uns vorgenommen, und
       dem, was wir getan haben, zwischen dem, was wir sein wollten, und dem, was
       tatsächlich aus uns geworden ist“.
       
       In atmosphärisch dichten Schilderungen, denen de Céspedes die
       Unmittelbarkeit, Anspannung und Rastlosigkeit ihrer protokollierenden
       Protagonistin einschreibt, begreifen die Leser*innen den Zwiespalt
       zwischen jener traditionellen Frau, die zu sein Valeria erzogen wurde, und
       der – nach wie vor – lebendigen jungen Frau voller Sehnsüchte und Wünsche,
       die sich zwischen den Zeilen offenbart. „Man muss so tun, als wäre man nur
       Vater und Mutter“, heißt es an einer Stelle.
       
       „Es kann nicht sein, dass in meinem Alter bereits alles vorbei ist“, an
       anderer. Zusehends erwehrt sich die Protagonistin gegen den Gedanken, alt
       zu sein, oder ohne eigenen [1][Anspruch auf persönliche Bedürfnisse,
       Intimität, Privatsphäre und Individualität]. Immer wieder bemerkt sie
       gleichsam einer Selbstvergewisserung: „Ich bin erst dreiundvierzig.“
       
       ## Die „Mamma“
       
       Ihre Familie indes nimmt Valeria ausschließlich in ihrer Funktion als
       Hausfrau und Mutter wahr. Ihr Mann beginnt, sie – zunächst scherzhaft, bald
       gewohnheitsmäßig – „mamma“ zu nennen. Bei der Vorstellung, seine Frau
       könnte Tagebuch führen, muss er unwillkürlich lachen. „Und was würdest du
       hineinschreiben, Mama?“
       
       Selbst das letzte Stück Individualität, der Vorname, scheint verloren. Auf
       Valerias Frage, ob sie als Eltern kein [2][Recht auf Geheimnisse] hätten,
       antwortet ihr Mann Michele: „Welche Geheimnisse sollten wir in unserem
       Alter denn noch haben?“
       
       Im Romanverlauf stellt sich gleichwohl heraus, dass es einiges gibt, das
       Michele und Valeria voreinander verheimlichen. Zu groß ist die Scham,
       aufrichtig miteinander zu sprechen. Sich preiszugeben, als die Personen,
       die nachts auf den Seiten eines schwarzen Notizhefts oder in den heimlich
       verfassten Theaterstücken ihres Mannes durchscheinen.
       
       Das Notizbuch wird zu einem Offenbarungsraum, in dem die Protagonistin ihre
       heimliche Sehnsucht, noch immer Valeria zu sein, ausleben kann. Außerhalb
       der papiernen Grenzen ist sämtliche Intimität abhanden gekommen. „Man denkt
       nicht mehr daran“ – und denkt man doch daran, dann mit anderen Menschen.
       
       ## Literatur als Schutzraum
       
       „Bis zu dem Tag war mein Erinnerungsvermögen schwach, vielleicht aus einem
       Schutzinstinkt.“ Je mehr Valeria sich und ihre Umwelt schreibend festhält,
       desto kraftvoller keimt in ihr die Lust, den alltäglichen Weg zu verlassen,
       fremden Menschen zu begegnen, zügellos zu lachen. Das Heft, ein
       literarischer Raum für sich allein, zieht sie an und stößt sie zugleich ab.
       „Zurzeit sperre ich es in die Schublade, in der ich meine
       Kindheitserinnerungen und Micheles Briefe aufbewahre, eine Schublade, die
       nie jemand öffnet.“
       
       Doch im Gegensatz zu Virginia Woolf gelingt es Valeria nicht, den „Engel im
       Haus“ zu töten, um im Außenraum aufzubegehren, sich aus der
       Unabänderlichkeit des Schicksals zu befreien. Von all den ungewaschenen
       Töpfe, unzubereiteten Suppen, ungemachten Betten, um sich in häuslicher
       Unordnung gehen zu lassen, die Jugend zurückzuerobern. Der Mut zu sich
       selbst, die Aussicht auf eine Liebesreise mit dem Chef bleiben allesamt in
       der Fantasie: „Nicht wahr Guido, du weißt schon, dass wir niemals fahren
       werden? […] Wir wären auch dort im Gefängnis […] hinter Gittern, die wir
       nicht niederreißen können, weil sie nicht um uns, sondern in uns sind.“
       
       „Ihr habt immer geglaubt, ich könnte Wunder vollbringen, ohne euch
       klarzumachen, dass es keine Wunder, sondern Mühen waren.“ Die
       Ich-Erzählerin versagt sich, das statische Bild, das ihre Familie von ihr
       hegt, durch ein lebendiges zu ersetzen. Sie bleibt bewegungslos, Emblem
       einer Übergangszeit. [3][Hin- und hergerissen zwischen den alten
       (verlässlichen) Traditionen] ihrer Mutter und dem Wunsch nach Veränderung
       ihrer eigenen jüngeren Generation.
       
       15 Jan 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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