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       # taz.de -- Femizide in Deutschland: Blinder Fleck der Gesetzgebung
       
       > Jede Woche sterben in Deutschland drei Frauen durch Partner oder
       > Ex-Partner. Die Linksfraktion im Bundestag fordert entschiedeneres
       > Vorgehen.
       
   IMG Bild: Der Lockdown hat vieles verschlimmert: Protest gegen Gewalt an Frauen im Mai
       
       Das Paar war lange verheiratet, beide waren Ende 50. Sie lebten in einer
       Kleinstadt im Norden Brandenburgs, die Kinder waren längst aus dem Haus.
       „Die waren berufstätig, bürgerlich, alles total normal“, sagt die Berliner
       Rechtsanwältin Christina Clemm. Clemm vertrat eines der erwachsenen Kinder
       bei dem Prozess vor dem Schwurgericht des Landkreises, nachdem die Ehefrau
       tot in ihrem Bett aufgefunden worden war. Ihr Mann hatte sie erwürgt.
       
       Der Fall, sagt Clemm, sei ihr im Gedächtnis geblieben, auch wenn er ein
       paar Jahre her ist: Weil er typisch ist für das, was passiert, wenn ein
       Mann eine Frau tötet. „Es ging in dem Verfahren unglaublich viel darum,
       dass sich die Frau ein wenig aus der Beziehung emanzipiert hatte, also zum
       Beispiel mal allein verreisen wollte“, sagt Clemm. „Und darum, wie sehr er
       sich dadurch erniedrigt fühlte.“
       
       Der Mann weinte viel während des Prozesses. Er gab an, im Affekt gehandelt
       zu haben: In einer Auseinandersetzung habe er sich nicht anders zu helfen
       gewusst, als dass sie endlich mal ruhig sein solle. Clemm bezweifelt die
       Affekttat bis heute, „denn die Auffindesituation im Bett sprach dagegen“.
       Das Gericht aber kam zu der Überzeugung, dass der Täter eine lang
       anhaltende schwierige Situation ausgehalten habe, in der er fürchtete, er
       könne seine Frau verlieren.
       
       Die angestaute Verzweiflung habe sich in der Tat entladen. Der Täter wurde
       nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt. Zudem wurde die
       Strafe wegen des Affekts zu viereinhalb Jahren Haft gemildert. „Für eine
       vollendete Tötung ist das sehr wenig“, sagt Clemm. „Aber das kommt im
       Bereich der Partnerschaftsgewalt häufig vor.“
       
       ## Erschreckende Zahlen
       
       Die Tat, die Clemm beschreibt, ist ein Femizid: Es ist die Tötung einer
       Frau im Kontext geschlechtsbezogener Gewalt. Im deutschen Strafrecht gebe
       es für dieses Phänomen kaum Bewusstsein, so Clemm. Auch die Präsidentin des
       Deutschen Juristinnenbunds, Maria Wersig, kritisiert: „Der Verhinderung,
       Verfolgung und Sanktionierung der Tötung von Frauen aufgrund ihres
       Geschlechts wird hierzulande wenig Priorität eingeräumt.“
       
       Das mag auch daran liegen, dass sich die Bundesregierung bislang dagegen
       sträubt, das Problem für Deutschland überhaupt anzuerkennen, wie Alex
       Wischnewski von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sagt, die gerade [1][die
       Broschüre „Femizide in Deutschland“] herausgegeben hat. Auf zwei Kleine
       Anfragen der Linksfraktion in den vergangenen beiden Jahren wand sich die
       Regierung heraus. Auf eine Anfrage der taz listet das
       Bundesfrauenministerium zwar Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen auf,
       bestätigt aber, dass über die Anzahl sogenannter Femizide keine Aussage
       getroffen werden könne.
       
       Und bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik im Bereich
       Partnerschaftsgewalt vergangene Woche verwendeten weder Frauenministerin
       Franziska Giffey (SPD) noch der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA),
       Holger Münch, den Begriff.
       
       Das BKA registrierte 2019 142.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt in
       Deutschland, mehr als 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Während
       Männer vor allem außerhalb von Partnerschaft Gefahr laufen, von anderen
       getötet zu werden, ist für Frauen die Beziehung am gefährlichsten: 117
       Frauen starben in dem Jahr durch Partner oder Ex-Partner. Viele befürchten,
       dass sich die Situation durch Corona verschärft.
       
       ## Was hinter den Taten steht, bleibt im Dunkeln
       
       Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Cornelia
       Möhring, fordert nun von der Bundesregierung, Femizide in Deutschland zu
       untersuchen, zu benennen und zu verhindern. In den Medien würden
       Tötungsdelikte an Frauen als „Eifersuchtsdramen“ oder „Beziehungstaten“
       verharmlost, sagt Möhring, die im Vorfeld des Internationalen Tags gegen
       Gewalt gegen Frauen Ende November mit ihrer Fraktion am Donnerstag einen
       Antrag im Plenum einbringen will. „Aber all diese Tötungen passieren im
       Kontext einer Abwertung und Unterdrückung von Frauen.“
       
       Neben der Anerkennung des Begriffs soll eine Beobachtungsstelle „Femicide
       Watch“ eingerichtet werden, fordert Möhring, die jegliche Tötung, jeden
       tödlichen Unfall und vermeintlichen Suizid einer Frau in Deutschland
       erfassen und zu den Ursachen von Femiziden forschen soll.
       
       Die Datenlage ist dünn. Aus der Forschung ist bislang vor allem klar, dass
       kritische Situationen für Frauen insbesondere Trennungen, Schwangerschaften
       oder eigene berufliche Erfolge sind. Es gebe eine strukturelle Dimension
       der Taten, die durch die fehlende Begrifflichkeit verschleiert werde, sagt
       Rechtsanwältin Clemm; verhandelt würden all diese Fälle, als seien es
       überraschende Einzelfälle. Oft gebe es Verständnis für den Täter, seine
       schwierige Beziehung und die Angst davor, dass sein Lebensentwurf
       scheitere.
       
       Dieses Verständnis lässt sich auch darauf zurückführen, dass der
       Bundesgerichtshof immer wieder und zuletzt 2019 entschied, dass bei einer
       Tötung kein niedriger Beweggrund vorliegt, wenn „die Trennung von dem
       Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was
       er eigentlich nicht verlieren will“. Wie im Fall, der im Norden
       Brandenburgs verhandelt wurde, wäre aber ein solcher niedriger Beweggrund
       ausschlaggebend, um den Täter nicht nur wegen Totschlags, sondern wegen
       Mordes zu verurteilen.
       
       Die Perspektive des Bundesgerichtshofs sei zutiefst patriarchal, sagt
       Clemm. Wenn ein Mann verzweifelt sei, sei das nachvollziehbar. Jemanden
       deshalb aber zu töten, mache einen „absoluten Besitzanspruch“ deutlich.
       Nicht einmal Fälle, in denen eine Frau jahrelang misshandelt und
       schließlich getötet wird, würden unbedingt als Tötung, geschweige denn als
       Mord geahndet, sagt Clemm. Häufig würden sie nur als Körperverletzung mit
       Todesfolge verurteilt. Der Täter, heiße es dann, habe seine Frau „nur“
       misshandeln wollen und keineswegs vorsätzlich umgebracht. Und aufgrund der
       vorher erlebten Gewalt hätte die Frau doch damit rechnen müssen, dass ein
       Angriff auf sie zukomme.
       
       „Ganz generell wird bei Partnerschaftsgewalt die Schuld oft dem Opfer
       zugeschoben“, sagt Clemm. „Die Frage ist dann, warum die Frau die Beziehung
       nicht schon lange beendet hat.“ Nötig wäre jedoch ganz im Gegenteil zu
       fragen, warum der Täter beim ersten Mal, als er zuschlug, nicht sofort
       einen Therapieplatz gesucht und die Frau verlassen habe, um sie zu
       schützen.
       
       Femizide machen nur einen kleinen Teil im Bereich der Partnerschaftsgewalt
       aus, bei der viele andere Taten – 115.000 Frauen waren im Jahr 2019
       betroffen – nicht zum Äußersten führen: Die, bei denen Frauen erst im
       Krankenhaus wieder aufwachen. Oder die, bei denen der Täter in letzter
       Sekunde doch noch aufhört, die Frau zu strangulieren. „Erst, wenn wir
       sagen, hier gibt es ein echtes Problem“, sagt Clemm, „wird sichtbar, welche
       Muster darunterliegen.“
       
       Clemm, Möhring und der Juristinnenbund fordern eine Neuinterpretation des
       geltenden Rechts. In einem Policy Paper von Anfang November schreibt der
       Juristinnenbund: Die niedrigen Beweggründe dürften bei der Tötung nicht
       mehr allein deshalb infrage gestellt werden, weil sich das Opfer vom Täter
       getrennt hat. Das folge aus den Wertungen der Istanbul-Konvention, dem
       völkerrechtlich bindenden Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von
       Gewalt gegen Frauen.
       
       Es sei das Recht jedes Menschen, darüber zu entscheiden, mit wem er oder
       sie eine Partnerschaft eingeht oder aufrechterhält, so der Juristinnenbund.
       Eine intime Beziehung zwischen Täter und Opfer dürfe nicht strafmildernd
       berücksichtigt werden, sondern könne bei Tötungsdelikten im Gegenteil zur
       Einordnung in die Fallgruppe der „niedrigen Beweggründe“ führen.
       Staatsanwält:innen und Richter:innen müssten verpflichtend zum Thema
       geschlechtsspezifische Gewalt fortgebildet werden. Aber im Vordergrund all
       dessen müsse vor allem eines stehen: Prävention.
       
       „Es mag widersprüchlich klingen – aber ich halte nicht viel von
       lebenslangen oder hohen Freiheitsstrafen“, sagt Clemm. „Worum es mir geht,
       ist ein Bewusstsein für geschlechtsspezifische Gewalt und eine Veränderung
       des Systems dahinter.“ Verständnis für andere Geschlechterrollen schaffen,
       schon in Kitas und Schulen. Beratungsangebote fördern, das Netz der viel zu
       wenigen Frauenhäuser ausbauen. Und das Tabu brechen, das das Sprechen über
       Gewalt im partnerschaftlichen Bereich umgibt.
       
       Für die Angehörigen der Opfer, die Clemm vertritt, sind die Prozesse, die
       gegen die Täter geführt werden, oft ambivalent. „Da ist ja nicht nur eine
       tote Mutter, sondern der Täter ist meistens gleichzeitig ihr Vater. Das
       macht die ganze Familie kaputt.“ Für viele sei wichtig zu verstehen, wie es
       so weit kommen konnte. Aber auch dann bleibe die Situation oft
       unbegreiflich. „Gut“, sagt Clemm, „wird das für niemanden mehr.“
       
       17 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rosalux.de/publikation/id/43257/keinemehr-femizide-in-deutschland
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
       
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