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       # taz.de -- Femizide in Österreich: Tödliches Pflaster für Frauen
       
       > 17 Femizide wurden 2021 in Österreich verübt. Gleichzeitig werden
       > Fallkonferenzen seltener und es fehlt Geld für Frauenhäuser und
       > Initiativen.
       
   IMG Bild: Feminist:innen demonstrieren im Mai 2021 am Wiener Ballhausplatz gegen Gewalt an Frauen
       
       Wien taz | Mitte Juli wird in Graz eine 17-Jährige in ihrer Wohnung mit
       tödlichen Schnitt- und Stichverletzungen aufgefunden. Tot ist auch der fünf
       Monate alte Fötus in der werdenden Mutter. Als Tatverdächtigen nimmt die
       Polizei wenig später den 19-jährigen Freund der jungen Frau fest.
       
       Im April starb eine 35-jährige Frau, die der Ex-Partner in ihrer Wiener
       Trafik mit Benzin überschüttet und angezündet hatte. Der mutmaßliche Täter
       gestand die Tat, leugnete aber die Tötungsabsicht. Ende April wurde kurz
       nach dem tödlichen Schussattentat auf eine Krankenschwester deren
       ehemaliger Lebensgefährte festgenommen. Es handelt sich um den Betreiber
       eines Craft-Beer-Lokals, [1][den die Öffentlichkeit seit Jahren als
       „Bierwirt“ kennt]. Er hatte wegen Persönlichkeitsrechts gegen die
       Grünen-Fraktionschefin Sigrid Maurer geklagt, weil sie obszöne Postings,
       die von seinem Computer versandt wurden, öffentlich gemacht hatte. Der
       Prozess wurde inzwischen eingestellt, der „Bierwirt“ hatte seine Anzeige
       nach mehreren juristischen Instanzen zurückgezogen.
       
       Österreich ist ein tödliches Pflaster für Frauen. [2][Nach einer Zählung
       der „Autonomen Österreichischen Frauenhäuser“ sind im Jahr 2021 bis jetzt
       17 Frauen] in Österreich ermordet worden. [3][In mindestens 22 weiteren
       Fällen überlebte das weibliche Opfer den Mordversuch oder schwere
       Gewalttaten], die auch tödlich hätten ausgehen können. Tatverdächtig ist
       fast immer der Partner oder Ex-Partner, Auslöser meist die bevorstehende
       oder vollzogene Trennung.
       
       In einer Statistik, die Eurostat im Herbst 2020 veröffentlichte, wird
       Österreich als das einzige EU-Land geführt, wo mehr Frauen als Männer
       Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Einen Höchstwert erreichten Femizide in
       Österreich 2018, als 41 Opfer registriert wurden – mehr als doppelt so
       viele wie im Jahr 2014. 2020 waren es 31. Für die feministische
       Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ist es das katholische Erbe, das im
       Land der erfolgreichen Gegenreformation eine latente und offene
       Frauenfeindlichkeit erzeugt habe. Dass nicht wenige der Femizide von
       muslimischen Zuwanderern verübt werden, ist für sie im Interview mit der
       taz kein Widerspruch: „Es gibt einen Schulterschluss zwischen
       Fundamentalismen jeder Art.“
       
       ## Relativ sicher, nur nicht für Frauen
       
       Für die Linzer Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Adelheid Kastner gibt
       es noch eine andere Erklärung. „Wir haben eine geringe Zahl an männlichen
       Opfern, weil Männer meist in kriminellen Subkulturen und eskalierenden
       Streiten getötet werden“, so Kastner vergangenen Mai [4][in der
       Tageszeitung Der Standard]. Es gebe in Österreich wenig Bandenkriminalität
       und keine Tradition, Waffen mitzuführen, wenn sich „die Männer im Wirtshaus
       ansaufen“. Kastner weiter: „Wir sind ein relativ sicheres Land, was das
       betrifft. Für Frauen sind wir nicht so sicher, weil sie in über 90 Prozent
       der Fälle in Beziehungskonstellationen getötet werden.“ Sie trifft sich in
       ihrer Analyse aber mit Streeruwitz, wenn sie die dahinterstehenden
       Rollenbilder verantwortlich macht.
       
       Nach jedem Femizid ruft das feministische Bündnis „Claim the Space“ zu
       einer Kundgebung am Wiener Karlsplatz auf. Es orientiert sich an der 2015
       in Argentinien entstandenen Bewegung „ni una menos“, die sich als
       „kollektiven Aufschrei gegen machistische Gewalt“ definiert. Gelegentlich
       wird auch in größeren Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen protestiert.
       Zuletzt im vergangenen Mai. Mit dem Slogan „Stoppt Femizide, man tötet
       nicht aus Liebe“ wandte sie sich auch gegen die Boulevardpresse, die
       Frauenmorde oft als „Beziehungstat“ verharmlost.
       
       Österreich hat eigentlich gute Gesetze, um Frauen zu schützen. 1997 trat in
       Österreich das Gewaltschutzgesetz in Kraft. Das war Pionierarbeit, weil
       nicht mehr die – meist weiblichen – Opfer häuslicher Gewalt aus der Wohnung
       fliehen müssen, sondern die Täter von der Polizei weggewiesen werden
       können. Sie kann Gewalttäter selbst aus deren eigener Wohnung weisen und
       über sie ein Rückkehrverbot verhängen. 2020 wurden 11.652 Betretungs- und
       Annäherungsverbote ausgesprochen.
       
       Doch obwohl die Regelung regelmäßig angewandt wird, also dass Männer und
       nicht Frauen das eigene Zuhause verlassen müssen, sind die Frauenhäuser in
       Österreich weiterhin überfüllt. Und immer wenn die konservative ÖVP mit der
       rechten FPÖ koaliert, sind Rückschritte paktiert. So wurde unter der
       türkis-blauen Regierung unter Sebastian Kurz (ÖVP) das Budget für
       Fraueninitiativen, die nicht in das konservative Weltbild passen, gekürzt.
       Die Fallkonferenzen, bei denen in Fällen akuter Gewaltdrohungen
       Frauenschutzorganisationen und Polizei präventive Maßnahmen diskutieren und
       planen konnten, wurden 2018 ohne Begründung abgeschafft. Unter Türkis-Grün
       sind sie wiederbelebt worden, doch jetzt nur auf Initiative der Polizei.
       Früher habe es allein in Wien bis zu 80 Fallkonferenzen gegeben,
       vergangenes Jahr keine einzige, sagt Maria Rösslhumer, die Leiterin der
       Autonomen Frauenhäuser.
       
       ## Es fehlt das Geld für die Opferhilfe
       
       Ein Femizid in Österreich, der nicht ins Schema passt und viel debattiert
       wurde, ist der Tod eines erst 13-jährigen Mädchens, dessen Leiche Ende Juni
       an einen Baum gelehnt auf einer Wiener Straße von Passanten entdeckt wurde.
       Tatverdächtig sind vier junge Afghanen, von denen drei gestanden haben,
       dass sie die Jugendliche unter Drogen gesetzt und nacheinander vergewaltigt
       hätten. Besondere öffentliche Empörung erregte vor allem dieser Fall, der
       Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) willkommen war, um Abschiebungen nach
       Afghanistan zu rechtfertigen. Eine von Justizministerin Alma Zadić
       angestoßene Evaluierung von Deportationen in das Bürgerkriegsland war damit
       vom Tisch.
       
       Bezeichnend ist auch, dass die ÖVP bei den Koalitionsverhandlungen den
       Grünen, die auf dem Gebiet eindeutig mehr Kompetenz gezeigt haben, das
       Frauenministerium nicht überlassen wollten. ÖVP-Frauenministerin Susanne
       Raab will sich nicht als Feministin bezeichnen lassen und sieht die Gewalt
       gegen Frauen in erster Linie als Problem der Zuwanderung. Nach einer
       Häufung von Frauenmorden zu Jahresbeginn versprach sie, eine Studie in
       Auftrag zu geben, die sich mit „unterschiedlichen Motiven kultureller
       Gewalt“ befassen soll. Frauen mit Migrationshintergrund sollten gestärkt
       und über die vorhandenen Hilfsangebote aufgeklärt werden, sagte die
       Ministerin, die auch für Integration zuständig ist und derzeit in
       Elternzeit ist.
       
       Meri Disoski, Frauensprecherin der Grünen, widerspricht unter Berufung auf
       Studien: „Die Mehrzahl der Femizide steht in keinem ethnischen
       Zusammenhang. Vielmehr zeigte sich einmal mehr, dass Trennungssituationen
       die gefährlichste Zeit für Frauen sind, weil da offenbar bei Tätern
       patriarchale Muster wie Besitzdenken besonders stark hervortreten.“
       
       Auch die Journalistin Olivera Stajić, Leiterin der Edition Zukunft in der
       Redaktion des Standard, [5][übt an dieser einseitigen Sichtweise Kritik]:
       „Patriarchale Strukturen begünstigen Gewalt an Frauen, die viel zu oft
       tödlich endet. Diese Strukturen gibt es auch in österreichischen
       Migrantencommunitys. Gewalt an Mädchen und Frauen und sogenannte häusliche
       Gewalt im Allgemeinen ist hier oft akzeptiert, schambehaftet und wird
       totgeschwiegen. Nicht anders als in jenen österreichischen Familien, die in
       jüngerer Zeit keine Migrationsgeschichte vorzuweisen haben.“
       
       Im Frühjahr beschloss die Regierung ein Gewaltschutzpaket von 25 Millionen
       Euro, etwa ein Zehntel dessen, was die einschlägigen Einrichtungen für
       nötig erachten. Zehn Millionen davon sind für die Täterarbeit bestimmt. Das
       sei gut und wichtig, meint Frauenhaus-Leiterin Rösslhumer. Aber: „In Buben-
       und Männerarbeit fließt viel mehr Geld als in die Opferhilfe.“ In der
       Opferberatung sei eine Person für 300 Frauen zuständig. Marlene Streeruwitz
       würde sich von einer Frauenministerin wünschen, dass Sozialarbeit gegen
       Gewalt Priorität genieße. Und die Täterarbeit solle schon in der Schule
       beginnen, wo schon die klassischen Texte kritisch zu lesen seien: „Wenn zum
       Beispiel der Herr Odysseus herumfährt und vergewaltigt und brandschatzt,
       dann hat das mit dieser Abwertung des einen Geschlechts und der Aufwertung
       des anderen zu tun“.
       
       11 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
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