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       # taz.de -- Fernsehdoku zu DDR und Mauerfall: Geschichte einer Ausgrabung
       
       > Unser Autor hat wichtiges Archivmaterial aus der Nacht des Mauerfalls
       > gefunden. Um es zeigen zu können, durchlief er eine Sender-Odyssee.
       
   IMG Bild: Ein Ausschnitt aus dem fertigen Film „Eine bessere DDR – Utopien aus der Wendenacht“ von Christian Walther
       
       Am [1][Abend des 9. November 89] diskutierten zwischen der
       Schabowski-Pressekonferenz und dem Fall der Mauer seelenruhig und
       ahnungslos Kirchenleute, Mitglieder der Blockparteien SED, CDU und LDPD
       sowie Vertreter der neuen Oppositionsgruppen im Französischen Dom über die
       Zukunft der DDR. Alle hielten am Sozialismus fest und auch an der DDR. Der
       Führungsanspruch der SED allerdings wurde massiv in Frage gestellt.
       Offenbar wusste keiner, dass nur ein paar Meter weiter und ein paar Minuten
       früher [2][Günter Schabowski] (SED) eine neue Reiseregelung verkündet
       hatte, die „sofort – unverzüglich“ in Kraft treten sollte.
       
       Große Teile der Diskussion hat damals ein Team der ARD aufgenommen. Doch
       nach dem Fall der Mauer am selben Abend verschwand das Material für
       Jahrzehnte im Archiv. Erst vor zwei Jahren habe ich es wiedergefunden –
       zufällig.
       
       Wenn Journalisten etwas finden, das sie gar nicht gesucht haben, nennen sie
       es wie die Fischer „Beifang“. Ich bin Journalist – und auch Hugenotte. Ich
       hatte erfahren, dass [3][deren Gemeinde ihr Westberliner Zentrum im
       Dezember 2022 zugunsten des Französischen Doms aufgibt]. Und meine
       Heimatredaktion, die rbb-Abendschau, wollte einen Beitrag: Die Hugenotten
       verlassen Halensee.
       
       Erste Frage: Was gibt es im Archiv? Was beim rbb, was beim Deutschen
       Rundfunkarchiv (DRA), wo die gesamte Produktion der DDR betreut wird? Was
       in der ARD? Längst sind deren Archive bundesweit vernetzt. Zum Stichwort
       „Französischer Dom“ ploppte beim NDR ein überraschender Eintrag auf: fünf
       Kassetten vom ARD-Studio DDR, nie im Zusammenhang gesendete Ausschnitte
       jener Diskussion vom 9. November, mit Leuten, die kurz danach politische
       Karriere machten: [4][Lothar de Maizière] wurde letzter Ministerpräsident
       der DDR, Manfred Stolpe und Christine Lieberknecht wurden
       Ministerpräsidenten in Brandenburg und Thüringen, Thomas Krüger wurde
       Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und so weiter.
       
       ## Dokument ersten Ranges
       
       Es war eindeutig: Ich hatte ein zeithistorisches Dokument ersten Ranges
       gefunden. Für meine aktuelle Recherche aber war es nur Beifang. Anfang 2023
       habe ich dem rbb vorgeschlagen, das Material zu zeigen. Umgehend kam die
       Absage: Das sei „special interest“, das sei etwas für einen
       Zeitungsartikel; Geld habe man ohnehin keins. Es war die erste von
       insgesamt vier Absagen über eineinhalb Jahre in dem nicht nur von
       [5][Schlesinger-Affäre] und Finanznot gebeutelten Sender.
       
       Da kam die Idee, notfalls allein mit der Französischen Kirche eine
       Veranstaltung zu machen am authentischen Ort. Deshalb gab es einen Versuch,
       sich das Material mit der zuständigen rbb-Redaktion mal näher anzuschauen.
       Doch im Archivnetzwerk der ARD war es nicht mehr zu sehen – der NDR hatte
       es der ARD-weiten Onlinerecherche entzogen.
       
       ## Odyssee durch die Sender
       
       Jetzt kam Peter Kolano ins Spiel. Er ist beim rbb der Mann für die
       weltweite Archivrecherche historischer Stoffe. Er versuchte, das Material
       beim NDR loszueisen. Doch der NDR lehnte ab: Ungesendetes Material
       unterliege nicht dem Programmaustausch der ARD. Eine Auskunft, die Kolano
       noch heute empört. Das ARD-Studio DDR war eine Gemeinschaftseinrichtung.
       Zufällig hatte zuletzt der NDR die Federführung. Als das Studio aufgelöst
       wurde, wollte zunächst niemand all die Kassetten aus den Wendejahren haben.
       Fast wären sie gelöscht worden. Doch die Archivarin verhinderte das. Das
       Material kam nach Babelsberg zur Verwahrung beim DRA und später zum NDR:
       ca. 3.500 Bänder, nach Auskunft des NDR bis zu 1.000 Stunden Rohmaterial,
       inzwischen durchgehend digitalisiert. Kolanos Bemühen aber scheitert.
       
       Ich schreibe NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz direkt an. Er immerhin
       gibt das Material vom 9. November sofort frei. Wer aber ist darauf zu
       sehen? Mit Christoph Wunnicke hatte ich einen versierten DDR-Historiker im
       Boot, aber auch er kennt nicht alle Redner. Immerhin: Einer hatte gesagt,
       er käme aus der CDU Nebra. Also einen Screenshot an die örtliche CDU
       gemailt. Einmal, zweimal. Keine Reaktion. Ich bitte beim Naumburger
       Tageblatt um Hilfe.
       
       Redakteurin Constanze Matthes treibt einen Ex-Kollegen auf, der den
       Gesuchten zweifelsfrei identifiziert: Es war Hans-Jörg Ulrich, der spätere
       Landrat des Burgenlandkreises. Dieser CDU-Mann hatte in den Kirchsaal
       gerufen, dass der Ruf der CDU nicht viel besser sei als der Ruf der SED –
       „und das mit Recht!“ Er forderte, dass in der Verfassung der DDR hinter
       „ist ein sozialistischer Staat“ ein Punkt gesetzt werden sollte. Die
       Passage zum Führungsanspruch der SED sollte raus. Nicht mal die Mitglieder
       der SED, die an diesem Abend – ungewöhnlich genug – in der Kirche, einer
       sogar auf der Kanzel, sprachen, sprangen noch für den Führungsanspruch
       ihrer Partei in die Bresche.
       
       ## „Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“
       
       Es war Stolpe, der der Frage nach dem Zukunftsmodell DDR [6][die Frage
       „Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“] hinzufügte. In dem
       Filmmaterial gibt es einen unbrauchbaren Schnipsel von einem „Doktor
       Schwabe“, der als prominenter Katholik eingeführt wurde. Hans-Hermann
       Hertle, akribischer Chronist des Mauerfalls, hatte mich schon auf
       Erinnerungen eines Stephan Schwabe hingewiesen. Das Archiv des Erzbistums
       Berlin ermittelt, dass dieser Experimentalphysiker von der Humboldt-Uni
       einen katholischen Akademikerkreis gebildet hatte. Auch Konrad Weiß von
       Demokratie Jetzt war Katholik.
       
       Doch dominant am Abend waren Protestanten: Stolpe war
       Konsistorialpräsident, Lothar de Maizière Vizepräses der Synode des Bundes
       der Evangelischen Kirchen, Gottfried Müller Chefredakteur einer
       evangelischen Wochenzeitung, Thomas Krüger Vikar; Konrad Elmer, Rainer
       Eppelmann und Werner Krätschell waren Pfarrer wie Christine Lieberknecht,
       die sich in scharfem Ton dagegen verwahrte, dass die „DDR Müllkippe der
       Bundesrepublik Deutschland ist“. Bei der Massendemonstration auf dem Alex
       fünf Tage zuvor hatten vor allem Kulturleute wie Stephan Heym, Christa
       Wolf, Jan Josef Liefers gesprochen – und nur wenige wurden politisch
       wichtig wie Marianne Birthler, Gregor Gysi oder Lothar Bisky. Im
       Französischen Dom war es umgekehrt: Hier sprach die politische Elite von
       morgen. Vor allem die sogenannten Reformer aus der Ost-CDU machten Karriere
       auf jeder Ebene.
       
       Inzwischen hatte ich weitere Absagen, auch vom mdr, aus dessen Sendegebiet
       ja mehrere Akteure kamen. Erst im Frühjahr drehte sich der Wind: rbb24,
       Radio 3 und Gabriele von Moltke, Leiterin der „Abendschau“, zeigten
       Interesse. Im Mai gab Chefredakteur David Biesinger sein Okay. Im September
       bekam ich zwei Tage, um das Material zu schneiden. Jetzt steht es in der
       ARD-Mediathek: „Eine bessere DDR – Utopien aus der Wendenacht – 9. November
       1989 im Französischen Dom“. Der Film wird am 17. Oktober auf einer
       ausgebuchten Veranstaltung im Französischen Dom gezeigt und mit Zeitzeugen
       wie Lieberknecht und Marianne Birthler diskutiert.
       
       16 Oct 2024
       
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