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       # taz.de -- Festival Club Transmediale Berlin: Wischen ist Macht
       
       > Arbeit am Gesamtkunstwerk: Der britische Bassenigmatiker Darren
       > Cunningham alias Actress präsentiert am Freitag sein Album „Ghettoville“.
       
   IMG Bild: Sieht aus wie der Protagonist in einem dystopischen John Carpenter-Film: Darren Cunningham alias Actress.
       
       Eigentlich gar keine schlechte Idee, sich als Musiker rar zu machen –
       verborgen hinter Pseudonym oder Maske von Zeit zu Zeit ein Album zu
       produzieren und den Zirkus aus Social Media, Promotion und exklusiven
       DJ-Mixen links liegen zu lassen: So zumindest funktioniert die Methode von
       Darren Cunningham, der enigmatische Produzent hinter dem Pseudonym Actress.
       
       „RIP Music 2014“ steht kurz vor Erscheinen seines neuen Albums
       „Ghettoville“ auf seiner Website. Actress, der große Charakterdarsteller
       britischer Bassmusik, kündigt den Abschied an. Und alle hören hin. Wobei
       das vermutlich nur ein Prank ist, der Kommentar eines Schelms. Denn
       „Ghettoville“, der Titel des vierten Actress-Albums, spielt auf sein Debüt
       „Hazyville“ an. Hier arbeitet jemand an einem Gesamtkunstwerk, das
       allmählich zu seiner Form findet.
       
       Immer dabei: die verhallten Schlieren, das Markenzeichen von Actress. Er
       begräbt Rhythmus und Bass unter einer Schicht aus Hall und Rauschen. Mal
       bricht ein analoges Drumpattern hervor, mal ein Basslauf, dann klingt die
       Fantasie einer Lowrider-Fahrt durch das sonnige Atlanta nach.
       
       Actress hat sich dem Vagen verschrieben, Fragmenten, die erst dann
       ausformuliert wirken, wenn man die Lautstärke bis zum Anschlag dreht.
       Konträr zu Burial, dem anderen großen Enigma der britischen Bassmusik,
       schlagen die Skizzen von Actress niemals in eine zuckersüße Melancholie um.
       
       ## Charme eines verlassenen Atomtestgeländes
       
       Stattdessen beginnt „Ghettoville“ mit dem Charme eines verlassenen
       Atomtestgeländes in der Wüste. Ein Gitarrensample aus einem
       Spaghettiwestern dehnt sich fast bis zur Unendlichkeit, während im
       Hintergrund ein Schlagzeug aus metallisch klingenden Fragmenten leicht
       hinkend seine einsamen Runden zieht. Beim ersten Hören klingt „Ghettoville“
       nach genau dem Ghetto, das man langsam satt hat.
       
       Die Hochhaussiedlung in Randlage, in der sich all die Affekte versammeln,
       die zur Untergangsromantik aus Entfremdung und sozialer Isolation nun mal
       dazugehören. Actress ist clever genug, all dies nicht eins zu eins in
       seiner Musik abbilden zu wollen. Stattdessen verlegt er diese Affekte vom
       Stadtrand in die Innenstadtquartiere, mitten in unseren kiezigen Alltag.
       
       „Ghettoville“ ist ein Soundtrack für die tote Zeit an Bushaltestellen oder
       an Supermarktkassen. Begleitmusik für die Momente des unentspannten
       Leerlaufs, in denen wir mit Eurodance und Autotune-HipHop zum
       Instantgenießen aufgefordert werden. Actress nimmt all diese Sounds,
       zerlegt sie in ihre Moleküle, setzt sie neu zusammen.
       
       ## Post-digitales Flaneurtum
       
       Auf „Corner“ wird der schwüle Groove von Südstaaten-HipHop durch den
       Fleischwolf gedreht und die Anzüglichkeit des Genres bis zur Parodie
       gesteigert. „Gaze“ wandert durch Ruinen eines Deephouse-Stücks und verirrt
       sich dabei immer tiefer. „Ghettoville“ ist ein Zeugnis post-digitalen
       Flaneurtums. Die Arbeitsweise des Collagierens leiht sich Cunningham von
       Pionieren der elektronischen Musik wie dem 2013 verstorbenen französischen
       Komponisten Bernard Parmegiani. Anders als Parmegiani, der immer die
       Bruchstellen betonte, um die Einförmigkeit der collagierten Popstücke
       vorzuführen, ordnet Actress seine Klangklötzchen neuen Oberflächen unter.
       
       Als Album wirkt „Ghettoville“ auf beunruhigende Weise unabgeschlossen. Es
       strotzt vor Motiven, die nicht zu Ende gedacht werden. So klingt der Sound
       eher nach dem Wischen von Touchscreens anstatt nach Musik, bei der die
       Kontemplation nach dreißig Minuten durch die Notwendigkeit unterbrochen
       wird, das Vinyl umdrehen zu müssen.
       
       Daher passt Actress gut in das Programm des diesjährigen Club Transmediale,
       wo er ein DJ-Set spielen wird. Hinter dem Mischpult verabschiedet er sich
       von der reinen Funktionsmusik, nimmt Loops auf, lässt sie ins Leere laufen
       und springt zwischen den Genres, ohne dabei das Gefühl für Körperlichkeit
       zu verlieren.
       
       „Ghettoville“ ist die Gegenwart in Surroundsound. Actress lässt den Blick
       über die Kante des Bildschirms schweifen, um all die Widersprüche, die sich
       vor ihm ausbreiten, aufzunehmen. So entsteht einzigartige Musik, die
       digital produziert wird, sich ihre Ideen jedoch aus der analogen
       Nachkriegsmoderne nimmt und genau deshalb wieder etwas zurückgewinnt: die
       Zeitgenossenschaft.
       
       28 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Werthschulte
       
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