URI: 
       # taz.de -- Festival für legendären Berliner Club: Krautrock am Theater
       
       > In den 1960ern trafen sich die Szenen im Westberliner Zodiak Free Arts
       > Lab. Das Berliner HAU erinnert an einen vergessenen Ort der Subkultur.
       
   IMG Bild: Aufnahme aus dem Zodiac Free Arts Lab vom Büromaschinenmechaniker Detlev Krenz
       
       Aus Wut über die posthume inflationäre Vereinnahmung seiner Stammkneipe
       Ratinger Hof, Treffpunkt der Düsseldorfer Punk- und Kunstszene, als Wurzel
       von allem möglichen zweifelhaften Politkram schnaubte Fehlfarben-Sänger
       Peter Hein des Öfteren verächtlich davon, dass dort „Pflanzen immer
       verreckt“ seien. Niemand wird ernsthaft bestreiten: Zu einer
       Grassroots-Szene gehören Aktionsräume, in denen der Wahnsinn wächst und
       gedeiht. Und in Westdeutschland begann diese Praxis der Inselbildung in
       größerem Stil Ende der 1970er mit der verspäteten Ankunft von Punk und
       „legendären“ Orten wie dem SO 36 in Berlin, dem Krawall 2000 in Hamburg und
       besagtem Ratinger Hof Früchte zu tragen. Erst die dort mögliche affirmative
       und spielerische Inszenierung von Pop taugte als Gegengift zum
       kulturkonservativen linken Mainstream und den Verhärtungen rund um den
       Deutschen Herbst 1977.
       
       Heute ist das selbstverständlich, wenn Künstler:Innen verschiedener
       Szenen, wie [1][The Notwist], Gudrun Gut, Freejazz-Drummer Sven-Åke
       Johannson und Turntablistin Mieko Suzuki nun gemeinsam bei einem Festival
       auftreten, dazu Podiumsdiskussionen stattfinden, eine Fotoausstellung zu
       sehen ist. Ihre Gigs sollen Erinnerungen an das Zodiak Free Arts Lab
       wachrufen, einen Westberliner Club, der von 1967 bis 1969 im Keller des
       Gebäudes existierte, was heute das Theater Hebbel am Ufer beherbergt und
       seinerzeit die Schaubühne. Die Barrieren zwischen High Art und Low Culture
       sind längst Geschichte.
       
       Dass nun dieses subventionierte und ambitionierte mehrtägige Musikfestival
       in seiner Subkulturforschung zeitlich früher als Punk ansetzt und an einen
       unweit obskureren Ort anknüpft, um über die Wirkungen von Subkultur
       nachzudenken, das geht in Ordnung. Wenn allerdings im kategorischen
       Imperativ mit dem Satz „Bildet Nischen!“ das Programmheft eingeleitet wird,
       tauchen doch einige Fragen auf: Lässt sich das spontane Treiben im Zodiak
       Free Arts Lab mit dem durchgetakteten Konzertgeschehen am Staatstheater von
       heute kurzschließen, wie das Editorial suggeriert? Wie eng sind denn
       Verbindungen „zwischen politischen, sozialen und kulturellen
       Verhältnissen“? Dass in der Szene um das Zodiak Free Arts Lab
       „angloamerikanischer Beat oder Blues […] Ende der 1960er, vielen vor allem
       als Ausdruck von Kulturimperialismus erschien“, wie der
       Literaturwissenschaftler Patrick Hohlweck in seinem Essay im Beiheft
       behauptet, ist eine alte, längst widerlegte Leier, die nun erneut
       angekurbelt wird. Warum?
       
       Gar nicht so linksradikal 
       
       Westdeutsche und Westberliner Beatkapellen der mittleren 1960er von Rattles
       bis Lords mögen ja im Vergleich zu ihren angloamerikanischen
       Kolleg:innen provinziell geklungen und verhärmt gewirkt haben,
       vollständig harmlos und kulturfern waren sie ja nicht, erinnert sei hier
       nur an die Lesung des Hamburger Schriftstellers Hubert Fichte im Starclub
       1966.
       
       Was den Connex von Krautrock und linksradikalem Untergrund anbelangt, hat
       der britische Autor David Stubbs in seinem Buch [2][„Future Days. Krautrock
       and the Building of Modern Germany“] überzeugend dargelegt, dass die
       geistige Nähe zwischen Bands wie Can und der RAF „reines Wunschdenken“ war.
       Ihre Musik sei zwar voller Aggressionen gewesen, bekennt Can-Mitglied Irmin
       Schmidt, aber die Songs hätten eine andere „Aufprallrichtung“ gehabt als
       der bewaffnete Kampf.
       
       Zudem, einerseits war die entstehende Krautrockszene Ende der 1960er gar
       kein zusammenhängendes Netzwerk, Akteur:Innen in Köln, München, Hamburg
       und Westberlin kannten sich zwar teils, spielten auch zusammen, aber ihre
       Aktionen war selten koordiniert. Und das lag zum anderen an der
       Musikindustrie, die im Westdeutschland jener Zeit das einheimische
       Popgeschehen nur fragmentarisch abbilden konnte: Labels,
       Konzertveranstalter, Magazine, eine funktionierende Infrastruktur waren
       damals erst im Entstehen und die herrschende bürgerliche Moral, anders als
       heute, äußerst feindselig gegenüber allen Langhaarigen mit E-Gitarre
       eingestellt. Erinnert sei hier an den Auftritt der Rolling Stones in der
       Berliner Waldbühne 1965, der in Straßenschlachten endet und in hämischen
       Feuilletonberichten im spätfaschistischen Kasernenhofton mündet.
       
       Speziell die frühen Mauerjahre sorgen im „eingeschlossenen Berlin“ dafür,
       „dass hier die Zeit stillsteht in riesigen Wohnungen“, wie [3][Ulrike
       Edschmid] in ihrem Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ geschrieben hat,
       ihre Perspektive auf die Lebensgeschichte eines jungen Schweizers, der 1967
       als Filmstudent in die Frontstadt kommt, nach dem Attentat auf Rudi
       Dutschke 1968 radikalisiert wird und in den bewaffneten Untergrund geht.
       Jener titelgebende Philip S. kommt auch als Fan der Rolling Stones nach
       Berlin, aber er endet im Kugelhagel der Polizei.
       
       Treffpunkt der Szenen 
       
       Das Zodiak Free Arts Lab entwickelt sich in der kurzen Zeit von 1967 bis
       1969 zu einem Happening-Ort, an dem auf Initiative der Musiker Conrad
       Schnitzler und Hans-Joachim Roedelius Bands der heute sogenannten Berliner
       Krautrockschule (Tangerine Dream, Agitation Free, Cluster) und die
       westdeutsche Freejazz-Szene (etwa Peter Brötzmann) zusammentrafen, genauso
       wie Akteur:Innen der Kunstszene und aus dem Theater von obendrüber, an
       dem Peter Stein damals innovativ wirkte.
       
       Wie Abende dort abgelaufen sind, darüber gibt es Zeugnisse: In „Force
       Majeure“, den 2017 veröffentlichten Memoiren des Tangerine-Dream-Musikers
       Edgar Froese, beschreibt dieser eine Nacht im September 1969: „Tonight –
       Tangerine Dream Music from a different Universe – Erotic and Dance-
       Lightshow from San Francisco“ verkündet der Flyer im Ziegenpeterenglisch.
       
       Er zeigt einen Zeitschriftenausriss, auf dem mit einem „Zensur“-Balken
       gesperrt der Körper einer nackten Frau zu erkennen ist. Die Band nimmt sich
       als Erstes Bing Crosbys Evergreen „White Christmas“ vor, dessen
       Originalfassung vom Band läuft, dazu spielt eine Flöte synchron, bevor
       Froese über die Gitarrenriffs des Pink-Floyd-Songs „Interstellar
       Overdrive“ zu improvisieren beginnt. Dazu tanzen auf Podesten Go-Go-Girls,
       auf einer Leinwand laufen Filmausschnitte, Bilder von einer Demonstration
       in San Francisco, zwei kopulierende Nashörner, ein Hamster im Laufrad und
       dazu der Text: „Er glaubt, er geht geradeaus“. So weit, so banal. Die
       Westberliner Polizei versucht, das Konzert vorzeitig zu beenden, als das
       misslingt, stellen Beamte wegen Verbreitung pornografischer Schriften,
       Erregung öffentlichen Ärgernisses und Ruhestörung drei Anzeigen.
       
       „Im Zodiak ging es darum, Freude an der Musik zu entdecken … außerdem gab
       es gute Drogen“, erklärt Hans-Joachim Roedelius in „Future Sounds“, der
       Oral-History von Krautrock, die im Sommer erschienen ist. Conrad Schnitzler
       hatte er beim Dachdecken auf Korsika kennengelernt, wo sie für einen Sommer
       in einem Nudistencamp gelebt hatten.
       
       20 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vertigo-Days-von-The-Notwist/!5746887
   DIR [2] /Buch-ueber-Krautrock/!5029322
   DIR [3] /Roman-Levys-Testament-von-Ulrike-Edschmid/!5782608
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
       ## TAGS
       
   DIR Krautrock
   DIR Subkultur
   DIR Festival
   DIR Hebbel am Ufer
   DIR Popmusik
   DIR Rudi Dutschke
   DIR Theater
   DIR Musik
   DIR Pop
   DIR Krautrock
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Achtes Pop-Kultur-Festival in Berlin: Produktive Verwirrung
       
       Das Berliner Festival „Pop-Kultur“ vereint Lokalkolorit mit Sound aus aller
       Welt. Diskutiert wurde auch, unter anderem über kulturelle Reizthemen.
       
   DIR Dutschke-Reden auf CD: Das raue Timbre der Revolte
       
       Rudi Dutschke war ein begnadeter Redner. Jetzt lässt sich auf sechs CDs
       nachhören, wie er 1968 seine Zuhörer:innen in den Bann schlug.
       
   DIR „Frankenstein“ am Deutschen Theater: Der Mensch und seine Monster
       
       Das Deutsche Theater Berlin bringt Shelleys „Frankenstein“ auf die Bühne.
       Drei DarstellerInnen sind im Dauereinsatz zu sehen, sie spielen virtuos.
       
   DIR Live-Album von Krautrock-Band Can: Nummern ohne Ende
       
       Aus alten Bootlegs hat Can-Keyboarder Irmin Schmidt ein orgiastisches
       Livealbum kondensiert. Zu hören ist ein Konzert aus Stuttgart, Mitte der
       1970er.
       
   DIR Pionierin des Popjournalismus: Die mit den Lemmingen tanzte
       
       Hippie-Mädchen mit vollem Notizblock: Ingeborg Schober schrieb über Pop mit
       Begeisterung und genau. Eine Anthologie erlaubt ihre Wiederentdeckung.
       
   DIR Buch über Krautrock: Elektrifizierte Entnazifizierung
       
       Krautrock is coming home: „Spiegel“-Autor Christoph Dallach versammelt im
       Buch „Future Sounds“ Stimmen zur Oral History der deutschen
       Hippierockszene.