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       # taz.de -- Feuerkatastrophe von Los Angeles: Der abgebrannte Traum von individuellem Glück
       
       > In Los Angeles stieß die amerikanische Kolonisierung auf die Mauer des
       > Pazifiks. Ein Essay über eine besondere Stadt und das, was den Flammen
       > zum Opfer fiel.
       
   IMG Bild: Wo das Individualitätsversprechen seine darke Lebensrealität gefunden hat: Los Angeles, Pacific Palisades am 14. Januar 2025
       
       Als jemand, der addiert circa drei glückliche Jahre in Los Angeles
       verbracht hat, fällt es mir schwerer, in den Diagnostiker- und
       Beobachtermodus umzuschalten, wenn es um diese massive Vernichtung der
       ohnehin immer schon so bedrohten historischen Teile von Los Angeles geht.
       Dass der Pacific Coast Highway genau da verbrannt ist, wo meine
       Lieblingsfahrradroute entlangführte!
       
       Aber das ist privater Trauerluxus angesichts der zahllosen zerstörten
       Lebenspläne. Gerade dass es so viele schöne Entwürfe getroffen hat und mit
       ihnen die Idee, dass es so etwas wie individuelles Glück geben kann, wenn
       es schon mit dem Kollektiv nicht klappt, erweckt ein dreifach abgründiges
       Gefühl.
       
       Der Abgrund der Vergeblichkeit der Empathie trifft auf den Abgrund der
       allzu offensichtlichen Auswahlmechanismen für empathische Gefühle, trifft
       wiederum auf den Abgrund des Individualismus – dessen hässliche Seiten sind
       ja verantwortlich für viele der Dramen von L. A. Man entwickelt leichter
       Empathie mit Leuten, deren Leben man sich vorstellen kann, deren
       Enttäuschungen den eigenen ähneln könnten, die sich schon unter dem
       Einfühlungsradar dieser individuellen Subjekterzählungen befinden.
       
       Man kann das an allen Konflikten und Katastrophen der Gegenwart erkennen:
       Die einen erleben Tragödien, die anderen bebildern Gewalt-, Kriegs- und
       Katastrophenpornos. Es gibt eine Hierarchie des Mitgefühls, die nicht nur
       von der Distanz der Katastrophe zu uns bestimmt wird.
       
       Andererseits gibt es einen Weg von der Empathie zu den mir (vermeintlich)
       Ähnlichen zur Empathie mit den mir scheinbar nicht mehr ganz so Ähnlichen.
       Diesen Weg zu gehen wird aber nicht ohne Politisierung gehen. Politisierung
       der Distanz, von der aus man Ähnliche von anderen zu unterscheiden gelernt
       habe. L. A. ist da ein ganz besonderer Fall. Als ich vor mehr als 30 Jahren
       das erste Mal längere Zeit dort lebte, hatte ich das Gefühl, nach Hause
       gekommen zu sein, in einen Ort, den ich schon sehr lange sehr gut kannte.
       Was war das hier noch mal? Ach so, endlich habe ich Entenhausen gefunden.
       
       Damals las ich „Los Angeles: Capital of the Third World“ [1][von David
       Rieff]. Wo ist sie, diese Third World, dachte ich damals. Ich sehe nur
       Eigenheime. Ich fuhr nach Compton, nach Watts, nach South Central.
       Eigenheime. Besuchte einen Freund, der mir erklärte, bei ihm in der Straße
       würden sich Gangs von Armeniern mit Gangs von aus El Salvador Geflüchteten
       bekämpfen. Eigenheime. Eigenheime haben eine bösartige Dialektik: Sie sehen
       so aus, als wären sie für die Besonderheiten ganz besonderer Bewohner
       gebaut worden. Je liebevoller das aussieht, desto konformer ist, was dort
       abgeht. Überall das Gleiche. Denkt man zumindest, wenn man aus einem
       deutschen Eigenheim stammt.
       
       ## Der zersiedelte Großraum, die Dritte Welt
       
       Wenn man aber über den sportlichen Ehrgeiz verfügt, diese Autofahrerstadt
       als Person ohne Führerschein mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu
       erschließen, muss man die Dritte Welt, wie sie damals noch hieß, nicht
       lange suchen. Sie sitzt im Bus, mehrere Stunden am Tag, um den zersiedelten
       Großraum auf dem Weg zu einer Haushaltshilfen- oder Gärtnerbeschäftigung in
       einem der Eigenheime zu durchmessen. Die Eigenheime sind übrigens nur
       manchmal [2][von Neutra oder Schindler entworfene Preziosen der
       Architektur-Moderne], ebenso oft sind es Holzhütten mit kleiner Veranda.
       
       Und anders als in Deutschland passieren tatsächlich sehr unterschiedliche
       Dinge in den Individualbehausungen. Die libertär-kapitalistische
       kalifornische Ideologie hat vom Norden, von San Francisco und dem Silicon
       Valley aus die Welt unterworfen, in L. A. hat deren
       Individualitätsversprechen seine oft darke, dann wieder hysterisch grüne,
       oft jeder Verwaltung, Verwertung und Klassifizierung Widerstand leistende
       Lebensrealität gefunden. Die Antwort L. A.s auf die Hippies waren die
       Freaks.
       
       Skepsis, Darkness unter sehr hohen Palmen bei strahlender Sonne – das ist
       auch ein Klischee, das von [3][Kenneth Angers Skandalchronik „Hollywood
       Babylon“] bis zu James Ellroys Ober-Noir immer wieder bedient wurde. Es hat
       seinen Ursprung in dem Umstand, dass eine globale Kulturindustrie von L. A.
       aus agiert, die in ihren Produkten die Spezifik und Örtlichkeit ihres
       Produzierens ausblenden muss; sie muss universell sein.
       
       Doch durchbricht sie diese Regel für ein bestimmtes, in ihr Portfolio fest
       eingebautes Genre, den stets tragischen oder tragikomischen Blick auf sich
       selbst: von Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950) bis [4][David Lynchs
       „Mulholland Drive“] (2001). Die Spätform davon kann man in jenem gepflegten
       TV-Museum der 10er Jahre besichtigen, das unter dem Namen ProSieben uns
       werktäglich von Malibu („Two and a Half Men“, 2003–2015) bis nach Pasadena
       („The Big Bang Theory“, 2007–2019) durch das ganze L. A.-County mitnimmt.
       Genauer und auf einem neueren Stand war zuletzt „Trans Parent“ (2014–2019).
       
       Diesen tragischen bis sarkastischen Blick auf sich selbst übernehmen die
       News-Formate, seit Los Angeles zyklisch, fast jährlich heimgesucht wird von
       Erdbeben, Überflutungen, Verfolgungsjagden, Mudslides, also Schlammlawinen
       und auch schon auf den ersten Blick politisch zu deutenden Disruptionen wie
       dem L. A. Uprising nach dem Freispruch für vier rassistische Polizisten
       (1992) oder der Obdachlosigkeitskrise, die die Stadt immer massiver
       heimsucht. Als ich das letzte Mal länger dort gewohnt habe, Frühjahr 2019,
       hatte es nicht zu wenig, sondern zu viel geregnet und Behelfsunterkünfte
       und Zelte trieben durch die Straßen.
       
       ## Eine Millionenmetropole auf Wüstensand
       
       Diese Selbstbezüglichkeit hat Thom Andersen in seinem brillanten Essayfilm
       „Los Angeles Plays Itself“ (2003) selbst als ideologisch markiert. Er geht
       unter anderem der Frage nach, warum die modernistischen Traumhäuser, die
       jetzt in Pacific Palisades niedergebrannt sind, immer die Wohnorte der
       Bösen sind – heute sind sie die Orte bourgeoiser Bigotterie in „Curb Your
       Enthusiasm“ – und wieso all die längst niedergewalzten migrantischen
       Communitys im Kino noch unangetastet weiterleben konnten.
       
       In den Plots einer bloß individuellen Verschlagenheit oder kommunitärer
       Güte gehe deren politische Dimension verloren. Und auch dass die nicht auf
       den ersten Blick politischen Katastrophen politische Ursachen haben, wissen
       all diejenigen, die es nicht [5][bei Mike Davis] („City of Quartz“, 1990)
       gelesen haben, aus Hollywoodfilmen: Was es ökologisch wie ökonomisch
       bedeutet, eine Millionenmetropole auf Wüstensand zu bauen und dies gegen
       andere schon bestehende Lebensformen durchzusetzen, erklärt „Chinatown“
       (1974) von Roman Polanski.
       
       Warum das einst vielversprechende ÖPNV-System auf den Druck der Öl- und
       Autoindustrie schon in den 1930ern im Zuge der sogenannten General Motors
       Streetcar Conspiracy abgewrackt wurde, wissen wir aus „Falsches Spiel mit
       Roger Rabbit“ (1988) von Robert Zemeckis.
       
       L. A. ist der Ort, an dem die koloniale Eroberung Amerikas an die „Mauer
       des Pazifiks“ stieß, von wo aus daher die Kolonisierung des Innen, der
       Psychen und der Triebe ihren Anfang nahm: durch deren kapitalistische
       Verwertung und deren Einsatz der neu entstandenen Kontrollmechanismen
       (asiatische Religionsimporte, Kybernetik, New Age und Selbstoptimierung).
       In dieser Welt, die dann bald digitalisiert die Welt erobert, ist Kritik
       nur noch ein Genre neben anderen, das auch nur dazu beiträgt, das Kursieren
       und Distribuieren von Content am Rollen zu halten – nicht Fehlentwicklungen
       aufzuhalten.
       
       Allenfalls sind, wie wir jetzt wissen, manche Angehörige der kalifornischen
       Tech-Eliten besonders scharf darauf, die Ökoverbrechen, auf denen ein
       großer Teil der südkalifornischen Urbanität basiert, zu verschärfen, statt
       sie einzudämmen oder ihre Schäden zu reparieren.
       
       Letzteres, die drohende, nun auch inhaltliche Machtübernahme dieser
       Tech-Eliten in diesen Tagen und Jahren verleiht den aktuellen Bränden in L.
       A. den apokalyptischen Unterton, der jenseits von konkreter Empathie
       hierzulande gerade zelebriert wird. Mit den Preziosen hochmoderner
       Privathausarchitektur brennt die europäische Aufgeklärtheit nieder.
       Hoffentlich überlebt wenigstens das Thomas-Mann-Haus, ist die zentrale,
       leicht bornierte Sorge. Aber ich tröste mich ja auch damit, dass 316 South
       Kenter Avenue noch steht. Doch das Buch, das in diesem Haus entstand, ist
       keineswegs von dem altwestlichen Glauben an die Koextension von Aufklärung
       und Eigenheim-Individualismus geprägt. Es heißt nicht umsonst „Die
       Dialektik der Aufklärung“.
       
       ## Distinktionsbegehren, das verbunden ist mit Solidarität
       
       Dass es gerade dort, in Brentwood, dem an Pacific Palisades angrenzenden
       Stadtteil, geschrieben werden konnte, hat auch mit einer Dialektik des
       Eigenheim-Individualismus zu tun, die man dann auch wieder eher in L. A.
       als sonst wo in den USA oder gar in Europa spüren kann: Sein Symptom ist
       der spezielle Eigensinn, der einen beeindruckenden Sinn für
       Community-Building und Aktivismus hervorbringt.
       
       Das ist zwar in dem anderen zu großen Teilen vernichteten und von vielen
       und eben nicht nur weißen Künstler_innen bewohnten Stadtteil Altadena
       deutlicher, aber es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen von
       tatsächlichem Nonkonformismus: dass sein Abstandnehmen, sein
       Distinktionsbegehren direkt verbunden ist mit Solidarität. Je tiefer ich in
       die verwinkelten Ecken des Selbst steige, desto verbundener fühle ich mich
       mit anderen. Das ist eine weitere Kippfigur an der Mauer des Pazifiks. Es
       lohnt noch immer, eine Flaschenpost loszuschicken.
       
       Los Angeles ist der am weitesten entfernte Ort, an dem – so wird uns
       zumindest pausenlos vermittelt – noch Leute wie wir leben: „The Nearest
       Faraway Place“, wie die Beach Boys es nannten. Empathie für seine Bewohner
       in Momenten der existenziellen Bedrohung ist naheliegend. Zugleich
       kollabiert der ziemlich fiese Begriff „Leute wie wir“ dort unausgesetzt.
       Zum Glück.
       
       Die Erfahrung des Ortes pendelt instabil zwischen Dystopie und Utopie. Es
       ist der Ort von Wünschen und Projektionen, die damit beantwortet werden,
       dass hier nicht nur das passiert, was wir wollen, sondern auch das, was uns
       blüht, obwohl wir es unbedingt vermeiden wollen, wie uns eine
       schuldbewusste protestantische Projektion erzählt.
       
       Der Unterschied jetzt ist, dass das Menetekel anders konstruiert ist. Die
       Katastrophe hat nicht mehr das dekadent achtlose Über-die-Stränge-Schlagen,
       die asoziale Seite des Individualismus verschuldet, sondern erscheint als
       Vorgeschmack auf die Verheerungen des neuen Regimes einer klimaleugnenden
       Koalition aus Silicon Valley, Rassismus und Nationalismus.
       
       Die nun nicht einmal mehr libertären Tech-Eliten wollen nicht mehr nur die
       Infrastruktur kontrollieren, sondern auch das, was dort kursiert. Vom
       Geschäft zur Politik. Das ist, was Horkheimer meinte, als er sagte, wer vom
       Faschismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Das Wissen
       von 316 South Kenter.
       
       23 Jan 2025
       
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